Urteil des BVerwG vom 09.09.2005

Rechtliches Gehör, Urteilsbegründung, Berufungsfrist, Privatperson

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 44.05
VGH 14 B 03.2539
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. September 2005
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. D a w i n , G r o e p p e r
und Dr. B a y e r
beschlossen:
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 30. Mai 2005 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 3 955 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unbegründet. Die von ihr geltend gemachten Verfahrensfehler
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) wegen Nichtgewährung von Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand und wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor. Zu Un-
recht macht die Beschwerde geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe die Berufung
wegen Fristversäumnis nicht verwerfen dürfen und hätte dem Antrag auf Wiederein-
setzung in den vorigen Stand stattgeben müssen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein "Verschulden" im
Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird,
die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrneh-
menden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen
des konkreten Falles zuzumuten war (u.a. Urteil vom 28. April 1967 - BVerwG 4 C
100.66 - BVerwGE 27, 36; Beschluss vom 6. Juni 1995 - BVerwG 6 C 13.93 -
Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 198). Dabei sind an eine Behörde zwar keine strenge-
ren, aber auch keine geringeren Anforderungen zu stellen als an einen Rechtsanwalt
(z.B. Beschlüsse vom 14. Februar 1992 - BVerwG 8 B 121.91 - Buchholz 310 § 60
VwGO Nr. 176 und vom 7. Februar 2005 - BVerwG 2 B 104.04 -). Auch das sog. Be-
hördenprivileg bei der Vertretung in den Rechtsmittelinstanzen bezweckt keine Bes-
serstellung der Behörde gegenüber einer anwaltlich vertretenen Privatperson.
Diesen Grundsätzen gemäß hat die Beklagte die Versäumung der Frist für die Be-
gründung der Berufung deswegen zu vertreten, weil sie keine hinreichenden Vorkeh-
rungen für eine wirksame Ausgangskontrolle in Fristsachen getroffen hat, die ge-
währleisten, dass der tatsächliche Abgang fristwahrender Schriftsätze zweifelsfrei
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nachgewiesen werden kann. Nicht nur Rechtsanwälte, sondern auch Behörden ha-
ben ihre Büroabläufe so zu organisieren, dass, jedenfalls für fristwahrende Schrift-
sätze, etwa durch Führung eines Postausgangsbuches oder durch einen Vermerk im
Terminkalender eine wirksame Ausgangskontrolle durchgeführt werden kann. Dies
entspricht der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte (vgl. BVerwG, Be-
schlüsse vom 14. Juli 1988 - BVerwG 2 C 6.88 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 156
und vom 4. Oktober 2002 - BVerwG 5 C 47.01, m.w.N. - FEVS 54, 390; BSG, Urteil
vom 18. März 1987 - 9b RU 8/86 - BSGE 61, 213; BFH, Beschluss vom 18. Januar
1984 - I R 196/83 - BFHE 140, 146; BGH, Beschluss vom 26. September 1994
- II ZB 9/94 - NJW 1994, 3171). Die Ausgangskontrolle dient dazu, den Abgang frist-
wahrender Schriftsätze sicherzustellen und den Nachweis hierüber zu ermöglichen.
Diesen Anforderungen genügten nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts-
hofs die von der Beklagten getroffenen Vorkehrungen im Bereich ihrer Poststelle
nicht.
Soweit die Beschwerde geltend macht, dass sich die schriftliche Urteilsbegründung
mit den von ihr in dem Schriftsatz vom 1. April 2005 vorgebrachten rechtlichen Ge-
sichtspunkten nicht auseinander setzt, ergibt sich hieraus nicht die zusätzlich gerügte
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2
VwGO). Das Gericht ist gemäß Art. 103 Abs. 1 GG nicht gehalten, sich in den schrift-
lichen Urteilsgründen mit jedem Vorbringen eines Prozessbeteiligten, insbesondere
mit sämtlichen Rechtsausführungen zu befassen. Vielmehr kann eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör nur dann festgestellt werden, wenn sich aus den
besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht das Vorbringen
eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Ent-
scheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 28, 378 <384>;
51, 126 <129>; Urteil vom 13. Mai 1976 - BVerwG 2 C 26.74 - Buchholz 237.4 § 35
HmbBG Nr. 1, S. 15 m.w.N.).
Einer Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Beklagten zur Sache in dem
Schriftsatz vom 1. April 2005 bedurfte es aus der Sicht des Verwaltungsgerichtshofs
nicht, weil er die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig
verworfen hat. Diese rechtliche Bewertung lässt nicht die Schlussfolgerung zu, das
Gericht habe das Vorbringen der Beklagten nicht oder nur teilweise zur Kenntnis ge-
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nommen. Weitere Anhaltspunkte für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör zeigt die Beschwerde nicht auf. Vielmehr bekämpft sie ausschließlich die
Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, dass eine Wiedereinsetzung in den vori-
gen Stand ausgeschlossen sei.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes
des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dawin Groepper Dr. Bayer
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