Urteil des BVerwG vom 24.09.2013

Zustandekommen, Computerprogramm, Verbindlichkeit, Kontrolle

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 42.13
OVG 10 A 11064/12.OVG
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. September 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Kenntner
beschlossen:
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Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz
vom 20. Februar 2013 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-
Pfalz zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdever-
fahren wird auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache ge-
mäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen
ist. Das Berufungsurteil beruht auf dem von der Beklagten geltend gemachten
Verstoß gegen die dem Gericht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegende
Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts.
1. Der 1955 geborene Kläger steht als Zollbetriebsinspektor (BesGr A 9 m
BBesO) im Dienst der Beklagten. In der Beurteilung für den Zeitraum vom
2. Juli 2008 bis zum 1. Juni 2010 wurde der Kläger abschließend mit der dritten
Note der insgesamt fünfstufigen Notenskala „In vollem Umfang den Anforde-
rungen entsprechend (7 Punkte)“ beurteilt, wobei die vergebene Punktzahl in
der Skala von 7 bis 9 der niedrigste Wert ist. Bei den 24 Einzelkompetenzen der
dienstlichen Beurteilung wurde der Kläger neun Mal mit dem dritten von insge-
samt sechs Ausprägungsgraden („C – stark ausgeprägt“) und fünfzehn Mal mit
dem vierten Grad („D - durchschnittlich ausgeprägt“) bewertet. Das Verwal-
tungsgericht hat die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage abgewie-
sen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte
unter Aufhebung der Bescheide verpflichtet, den Kläger zum Beurteilungsstich-
tag 1. Juni 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut
dienstlich zu beurteilen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
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Das Gesamturteil sei rechtswidrig, weil es nicht aus den bereits bewerteten und
gewichteten Einzelkompetenzen entwickelt worden sei. Vielmehr seien umge-
kehrt und „losgelöst“ von den Einzelkompetenzen zunächst in einer Bespre-
chung aufgrund einer vergleichenden Betrachtungsweise der zu beurteilenden
Beamten jeweils Notenstufe und Punktzahl des Gesamturteils festgelegt wor-
den. Erst anschließend seien die 24 Einzelkompetenzen bewertet worden. Die
Ausprägungsgrade der Einzelkompetenzen seien letztlich durch ein Computer-
programm festgelegt worden, um zu einem „schlüssigen“ und „rechnerisch rich-
tigen“ Gesamturteil zu gelangen.
2. Entgegen der Ansicht der Beschwerde hat das Oberverwaltungsgericht bei
der Niederschrift über die Berufungsverhandlung die Vorschriften der § 105
VwGO i.V.m. §§ 159 bis 165 ZPO nicht verletzt.
Die Beschwerde sieht es als verfahrensfehlerhaft an, dass das Oberverwal-
tungsgericht nicht die Äußerungen der Prozessvertreterin der Beklagten in der
Berufungsverhandlung in die Niederschrift aufgenommen hat. Bei Aufnahme
dieser Aussagen in das Protokoll hätte das Oberverwaltungsgericht nicht zu der
das Urteil tragenden Feststellung kommen können, Notenstufe und Punktzahl
seien in einer Gremiumsbesprechung vorab und losgelöst von den 24 Einzel-
kompetenzen des Beurteilungsvordrucks festgelegt worden.
Das Oberverwaltungsgericht war aber nicht verpflichtet, den Inhalt der Ausfüh-
rungen der Vertreterin der Beklagten in der Berufungsverhandlung in die Nie-
derschrift aufzunehmen. Der Begriff der wesentlichen Vorgänge im Sinne von
§ 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 2 ZPO meint die Förmlichkeiten der Verhand-
lung, d.h. den äußeren Hergang der Verhandlung, nicht aber den Inhalt von Er-
klärungen (BGH, Urteil vom 21. März 1991 - IX ZR 186/90 - NJW 1991, 2084
<2085>). Zwar sind nach § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO im Proto-
koll die Aussagen der vernommenen Parteien festzustellen. Das setzt aber eine
Parteivernehmung nach §§ 445 ff. ZPO voraus. Eine solche hat das Oberver-
waltungsgericht hier nicht vorgenommen. Im Übrigen stand der Vertreterin der
Beklagten nach § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 4 ZPO die Möglichkeit offen, die
Aufnahme ihrer Schilderung des Zustandekommens der dienstlichen Beurtei-
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lung des Klägers in das Protokoll zu beantragen, die wesentlich von der Dar-
stellung des in der Berufungsverhandlung ebenfalls angehörten Beurteilers ab-
weicht.
3. Begründet ist aber die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe gegen die
ihm obliegende Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86
Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen. Zwar hat die Beklagte in der Berufungsver-
handlung keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt. Es wird aber in der
Beschwerde dargelegt, dass sich dem Oberverwaltungsgericht auf der Grund-
lage seiner Rechtsauffassung weitere Ermittlungen zum Zustandekommen der
dienstlichen Beurteilung des Klägers von sich aus hätten aufdrängen müssen.
Nach der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts muss das abschlie-
ßende Gesamturteil einer dienstlichen Beurteilung aus den bereits bewerteten
und gewichteten Einzelkompetenzen entwickelt werden (vgl. auch Urteile vom
24. November 1994 - BVerwG 2 C 21.93 - BVerwGE 97, 128 <130 f.> = Buch-
holz 232.1 § 41 BLV Nr. 3 und vom 4. November 2010 - BVerwG 2 C 16.09 -
BVerwGE 138, 102 = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 47 jeweils Rn. 46).
Danach kommt der Frage, in welcher zeitlichen Reihenfolge die Einzelkompe-
tenzen einerseits und das Gesamturteil andererseits bestimmt worden sind,
entscheidende Bedeutung zu.
Zur Klärung dieser Frage hat das Oberverwaltungsgericht aber, wie dem Be-
schluss vom 10. April 2013 über die von der Beklagten beantragte Tatbe-
standsberichtigung zu entnehmen ist, lediglich den in der Berufungsverhand-
lung anwesenden Beurteiler, RD B., informatorisch angehört. Dieser hat nach
den Gründen dieses Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts in der Beru-
fungsverhandlung ausgesagt, die Einzelkompetenzen seien „nachträglich er-
stellt“ worden. Zuvor hatte der Beurteiler allerdings auch mitgeteilt, die Einzel-
kompetenzen der zu beurteilenden Beamten seien - schlicht aus Zeitgründen -
nicht Gegenstand der entscheidenden Gremiumsbesprechung gewesen.
Angesichts des schriftlichen Vorbringens der Beklagten zum Zustandekommen
der dienstlichen Beurteilung des Klägers, in dem dies - durchaus detailliert -
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anders dargestellt wird, der Gegenäußerung des Klägers und der Bedeutung,
die das Oberverwaltungsgericht den Einzelkompetenzen selbst beigemessen
hat, hätte sich dem Gericht eine weitergehende Aufklärung des Sachverhalts
aufdrängen müssen. Insbesondere hätte das Oberverwaltungsgericht zumin-
dest den für den Kläger zuständigen Berichterstatter, den Sachgebietsleiter
RR H., sowie den Fachgebietsleiter, ZOAR Ba., als Zeugen zur Klärung der
Fragen hören müssen, ob, wann und wie (mit welcher Verbindlichkeit) die Ein-
zelkompetenzen tatsächlich bewertet und gewichtet worden sind, insbesondere,
ob dies erst nachträglich - nach Festlegung des Gesamturteils - geschehen ist,
um die Gesamtbewertung plausibel zu machen, und welche Funktion dem
Computerprogramm zukommt, das offenbar zur Kontrolle der Plausibilität des
Gesamturteils und der Ausprägungsgrade der Einzelkompetenzen verwendet
wird. Dann hätte sich das Oberverwaltungsgericht insbesondere hinsichtlich der
Bedeutung des Computerprogramms nicht auf bloße Mutmaßungen beschrän-
ken müssen, wie zu verfahren ist, wenn das Programm eine Fehlermeldung
dahingehend gibt, dass die vom Berichterstatter angekreuzten Ausprägungs-
grade der Einzelkompetenzen im Hinblick auf das Gesamturteil nicht plausibel
sind.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47
Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Domgörgen
Dr. Hartung
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