Urteil des BVerwG vom 17.08.2005

Verschulden, Verfahrensmangel, Überwachung, Fristablauf

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 40.05
VGH 15 B 00.367
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht A l b e r s und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. K u g e l e und Dr. H e i t z
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts-
hofs vom 12. Mai 2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 102 258 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Der Kläger rügt, der Verwaltungsgerichtshof hätte die Berufung nicht wegen Vesäu-
mung der Frist zur Begründung der Berufung als unzulässig verwerfen dürfen. Ihm
hätte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Damit macht
der Kläger einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend
(Urteil vom 14. Dezember 1961 - BVerwG 3 B 148.60/3 C 38.60 - BVerwGE 13, 239
<240>; Beschlüsse vom 4. Juli 1968 - BVerwG 8 B 110.67 - BVerwGE 30, 111
<113> und vom 3. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 429.02 - Buchholz 310 § 124 a
VwGO Nr. 24).
Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor; der Verwaltungsgerichtshof
hat die Wiedereinsetzung im Ergebnis zu Recht abgelehnt:
Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO setzt die Wiedereinsetzung voraus, dass der Beteiligte
ohne sein Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten. Ein Verschulden des
Prozessbevollmächtigten steht gemäß § 173 VwGO, § 85 Abs. 2 ZPO dem Ver-
schulden des Beteiligten gleich. Gemäß § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind die Tatsa-
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chen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags glaubhaft zu machen. Dem-
nach trägt der Beteiligte die Darlegungs- und Beweislast, dass weder ihn noch sei-
nen Prozessbevollmächtigten ein Verschulden an der Fristversäumung trifft. Diese
Obliegenheit kann nur durch einen schlüssigen Sachvortrag und dessen Glaubhaft-
machung gemäß § 173 VwGO, § 294 ZPO erfüllt werden. Aus dem Sachvortrag
muss sich insbesondere ergeben, dass der Prozessbevollmächtigte alle anwaltlichen
Sorgfaltspflichten in Bezug auf Fristen beachtet, d.h. für seinen Kanzleibetrieb alle
Maßnahmen getroffen hat, die erforderlich sind, um die Fristeinhaltung zu gewähr-
leisten. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn aufgrund des Vorbrin-
gens des Beteiligten die Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumnis besteht.
Dies ist auch der Fall, wenn der Beteiligte nicht zu allen tatsächlichen Umständen,
die für die Frage des Verschuldens von Bedeutung sind, Stellung nimmt (Beschluss
vom 6. Dezember 2000 - BVerwG 2 B 57.00 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 236;
stRspr).
Die Gründe, aus denen der Anspruch auf Wiedereinsetzung hergeleitet wird, müssen
innerhalb der Antragsfrist gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend gemacht werden.
Nach Ablauf dieser Frist dürfen lediglich bereits vorgetragene Gesichtspunkte er-
gänzt und erläutert, aber keine neuen Gesichtspunkte eingeführt werden (Beschluss
vom 6. Dezember 2000, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 26. September 1994 - II ZB
9/94 - NJW 1994, 3171; stRspr).
Zu den Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts in Fristensachen gehört es, den Kanz-
leibetrieb so zu organisieren, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hergestellt
werden und vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingehen. Der Rechtsanwalt
muss Vorkehrungen treffen, die gewährleisten, dass Fristen richtig berechnet werden
und der Fristenlauf zuverlässig überwacht wird. Hierfür muss er sicherstellen, dass
der Zeitpunkt des Fristablaufs in einem Fristenkalender notiert und dies in der Hand-
akte vermerkt wird (Beschluss vom 3. Dezember 2002, a.a.O.; stRspr). Bei Fristen
für die Begründung eines Rechtsmittels muss der Rechtsanwalt dafür Sorge tragen,
dass er sich rechtzeitig auf die Fertigung der Rechtsmittelbegründung einstellen so-
wie Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen vor Fristablauf Rechnung tragen kann.
Zu diesem Zweck muss gewährleistet sein, dass zusätzlich eine Vorfrist notiert wird,
die angemessene Zeit vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist endet, und dem
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Rechtsanwalt bei Ablauf dieser Vorfrist die Handakte vorgelegt wird (BGH, Beschlüs-
se vom 9. Juni 1994 - I ZB 5/94 - NJW 1994, 2831 und 6. Juli 1994 - VIII ZB 26/94 -
NJW 1994, 2551; stRspr).
Nach dem im vorliegenden Fall noch anwendbaren § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO in der
bis zum In-Kraft-Treten des Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. August 2004
(BGBl I S. 2198) geltenden Fassung betrug die Antragsfrist auch bei Versäumung
der Berufungsbegründungsfrist zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses. Sie
begann mit Eingang des gerichtlichen Hinweisschreibens vom 13. März 2001 in der
Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15. März 2001 zu laufen und
endete mit Ablauf des 29. März 2001.
Nach dem bisherigen Vortrag des Klägers zur Begründung seines Wiedereinset-
zungsantrags besteht zumindest die ernsthafte Möglichkeit, dass die Versäumung
der Berufungsbegründungsfrist auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtig-
ten beruhte. Denn der Vortrag lässt den Schluss zu, dass die Vorfrist, die in der
Kanzlei des Prozessbevollmächtigten zur Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist
notiert war, aufgrund fehlender oder unzulänglicher Vorkehrungen für ihre Überwa-
chung nicht beachtet wurde. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass der Prozessbe-
vollmächtigte durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt hatte, dass ihm bei
Ablauf der zur Einhaltung von Rechtsmittelbegründungsfristen notierten Vorfristen
die Handakte vorgelegt wurde.
Nach dem Vorbringen des Klägers wurde für die am 9. März 2001 ablaufende Beru-
fungsbegründungsfrist eine auf den 2. März 2001 datierte Vorfrist notiert (vgl. eides-
stattliche Versicherung der Bürovorsteherin vom 27. März 2001). Der Kläger hat nicht
vorgetragen, dass auch diese Vorfrist vor ihrem Ablauf versehentlich gestrichen wur-
de. Die entsprechenden Angaben und der vorgelegte Auszug aus dem Fristenkalen-
der betreffen nur die Streichung der Berufungsbegründungsfrist. Demzufolge muss
davon ausgegangen werden, dass die Vorfrist bis zu ihrem Ablauf notiert war. Dar-
aus kann wiederum nur geschlossen werden, dass dem Prozessbevollmächtigten bei
Ablauf der Vorfrist am 2. März 2001 die Handakte nicht vorgelegt wurde. Dies wird
zum einen durch die Ausführungen des Klägers belegt, wonach sich die Handakte
von der Fertigung des Schriftsatzentwurfs vom 22. Februar 2001 bis zum Eingang
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des gerichtlichen Hinweisschreibens vom 13. März 2001 in einem Aktenschrank der
Kanzlei befand (vgl. Schriftsatz vom 27. März 2001). Zum anderen wäre der Pro-
zessbevollmächtigte voraussichtlich rechtzeitig auf den bevorstehenden Ablauf der
Berufungsbegründungsfrist am 9. März 2001 aufmerksam geworden und hätte für die
Einhaltung dieser Frist gesorgt, wenn ihm die Handakte am 2. März 2001 vorgelegt
worden wäre.
Bei dieser Sachlage besteht jedenfalls die ernsthafte Möglichkeit, dass der Prozess-
bevollmächtigte des Klägers seinen organisatorischen Sorgfaltspflichten in Bezug auf
die Überwachung von Vorfristen nicht nachgekommen war. Diese Möglichkeit könnte
nur ausgeschlossen werden, wenn der Kläger schlüssig vorgetragen und glaubhaft
gemacht hätte, dass sein Prozessbevollmächtigter geeignete Vorkehrungen getroffen
hatte, um die Vorlage der Handakte bei Ablauf der Vorfristen zu gewährleisten. Auf
diesen Gesichtspunkt ist der Kläger jedoch nicht eingegangen.
Wäre die für den 2. März 2001 notierte Vorfrist durch Vorlage der Handakte an den
Prozessbevollmächtigten eingehalten worden, so hätte dieser voraussichtlich recht-
zeitig davon Kenntnis erhalten, dass die Berufungsbegründungsfrist am 9. März 2001
ablief. Er hätte dann die Berufungsbegründung rechtzeitig fertigen und fristgerecht
beim Verwaltungsgerichtshof einreichen oder gemäß § 124 a Abs. 3 Satz 3 VwGO
a.F. Fristverlängerung beantragen können. Der glaubhaft gemachte Umstand, dass
die Bürovorsteherin die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender versehentlich
gestrichen hatte, hätte sich dann nicht nachteilig ausgewirkt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streit-
wertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 52 Abs. 1, § 71 Abs. 1 Satz 2 GKG
i.d.F. von Art. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts vom 5. Mai 2004
(BGBl I S. 718).
Albers
Dr. Kugele
Dr. Heitz
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