Urteil des BVerwG vom 17.08.2005

Schuldfähigkeit, Bindungswirkung, Disziplinarverfahren, Prozessrecht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 39.05
OVG 22b A 3612/02.BDG
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht A l b e r s
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht G r o e p p e r und Dr. H e i t z
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 20. April 2005 wird zurückge-
wiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf die Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO und des Verfahrensmangels gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
gestützte Beschwerde ist nicht begründet.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Entfernung des Beklagten aus dem Dienst für
geboten gehalten, weil der Beklagte dem Dienst in der Zeit vom 8. März 2001 bis
13. November 2001 ohne Genehmigung und schuldhaft ferngeblieben sei. In dem
Berufungsurteil hat es ausgeführt, der Beklagte sei im fraglichen Zeitraum dienstfähig
gewesen und habe zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt. Einsichts- oder
Steuerungsfähigkeit seien nicht beeinträchtigt gewesen. Insoweit komme dem Be-
schluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2001 - BVerwG 1 DB
30.01 -, der in dem Verfahren wegen des Verlusts der Dienstbezüge ergangen sei,
Bindungswirkung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG zu. Die beiden in diesem Verfahren
eingeholten amtsärztlichen Gutachten und das neurologisch-psychiatrische
fachärztliche Gutachten vom 5. November 2001 ließen keine Zweifel an der Schuld-
fähigkeit des Beklagten erkennen. Die Gutachter hätten die Dienstfähigkeit des Be-
klagten übereinstimmend bejaht. Auch der Bericht der den Beklagten behandelnden
Fachärztin vom 2. Mai 2001 gebe für eine Einschränkung der Schuldfähigkeit nichts
her.
Mit der Grundsatzrüge macht der Beklagte geltend, es müsse geklärt werden, in wel-
chem Verhältnis die von § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG angeordnete Bindungswirkung ei-
ner gerichtlichen Entscheidung, die den festgestellten Verlust der Dienstbezüge auf-
rechterhalte, und die Pflicht des Disziplinargerichts zur eigenverantwortlichen Sach-
aufklärung stehen.
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Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO,
wenn sie eine konkrete, in dem zu entscheidenden Einzelfall erhebliche Frage des
revisiblen Rechts von über diesen Fall hinausgehender Bedeutung aufwirft, die im
Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung der Klä-
rung in einem Revisionsverfahren bedarf (Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG
8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; stRspr). Gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 69
BDG muss der Beschwerdeführer darlegen, dass diese Voraussetzungen gegeben
sind.
Die Beschwerdebegründung des Beklagten genügt diesen Darlegungsanforderungen
nicht. Der Beklagte hat bereits keine klärungsbedürftige allgemeine Rechtsfrage zur
Auslegung von § 57 Abs. 1 Satz 1 und 2 BDG formuliert. Zur Beantwortung der auf-
geworfenen Frage nach der inhaltlichen Reichweite der Bindungswirkung gemäß
§ 57 Abs. 1 Satz 1 BDG bedarf es keines Revisionsverfahrens. Nach dieser Vor-
schrift sind die tatsächlichen Feststellungen der aufgeführten gerichtlichen Entschei-
dungen im Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für
das Gericht bindend. Daraus folgt zwangsläufig, dass die Reichweite der Bin-
dungswirkung davon abhängt, welchen Inhalt die dem Disziplinarverfahren vorange-
hende gerichtliche Entscheidung hat. Das Disziplinargericht muss gegebenenfalls
durch Auslegung der Gründe dieser Entscheidung ermitteln, welche tatsächlichen
Feststellungen getroffen worden sind. Wenn diese Feststellungen nicht gemäß § 57
Abs. 1 Satz 2 BDG offensichtlich unrichtig sind, scheidet insoweit eine Sachaufklä-
rung des Disziplinargerichts aus.
In der Sache wendet sich der Beklagte gegen die Anwendung des § 57 Abs. 1 Satz 1
BDG im vorliegenden Einzelfall. Er macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe
dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2001 nach
dessen Inhalt keine Bindungswirkung hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Beklagten
beimessen dürfen. Die damit aufgeworfene Frage ist nicht verallgemeinerungsfähig,
weil es für die Beantwortung allein auf die Auslegung der konkreten Beschlussgründe
ankommt.
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Darüber hinaus kommt die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung
nicht in Betracht, weil sich Fragen der Bindungswirkung gemäß § 57 Abs. 1 BDG in
einem Revisionsverfahren nicht stellen würden. Denn das Berufungsurteil ist hin-
sichtlich der Frage der Schuldfähigkeit auf weitere Erwägungen gestützt, die es
selbstständig tragen. Mit diesen Erwägungen hätte es auch dann Bestand, wenn
dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2001 keine Bin-
dungswirkung hinsichtlich der Schuldfähigkeit zukäme. Das Oberverwaltungsgericht
hat diese Frage eigenverantwortlich geprüft. Es ist aufgrund einer Würdigung der
beiden amtsärztlichen Gutachten, des ärztlichen Berichts der den Beklagten behan-
delnden Fachärztin vom 2. Mai 2001 und des neurologisch-psychologischen fach-
ärztlichen Gutachtens vom 5. November 2001 zu dem Ergebnis gekommen, es lägen
keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Schuldfähigkeit des Beklagten be-
gründen könnten. Die gegen diese Feststellung erhobene Verfahrensrüge des Be-
klagten greift nicht durch.
Mit dieser Verfahrensrüge macht der Beklagte geltend, das Oberverwaltungsgericht
habe ihm das rechtliche Gehör versagt. Es habe entgegen seinem Antrag kein neu-
rologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt, ob
aufgrund seines gesundheitlichen Zustands im fraglichen Zeitraum seine Schuldfä-
higkeit ausgeschlossen oder vermindert gewesen sei.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, einem Be-
weisangebot nachzugehen, dessen Ablehnung im Prozessrecht keine Stütze findet
(BVerfGE 50, 32 <36>; 60, 250 <252>; 69, 141 <144>). Das Gericht hat nach pflicht-
gemäßem Ermessen über Art und Zahl der einzuholenden Sachverständigengutach-
ten zu bestimmen (vgl. § 98 VwGO, § 412 Abs. 1 ZPO, § 3 BDG). Seine Weigerung,
ein weiteres Gutachten einzuholen, findet im Prozessrecht nur dann keine Stütze,
wenn vorliegende Gutachten nicht verwertbar sind. Dies ist etwa der Fall, wenn ein
Gutachten von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder sich Gut-
achten inhaltlich widersprechen. Demnach folgt die Verpflichtung zur Einholung eines
weiteren Gutachtens nicht schon daraus, dass ein Beteiligter ein vorliegendes Gut-
achten als Erkenntnisquelle für unzureichend hält. Vielmehr muss er aufzeigen, aus
welchen Gründen dieses Gutachten nicht genügt (Beschlüsse vom 30. März 1995
- BVerwG 8 B 167.94 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 48 S. 5; vom 30. August 2000
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- BVerwG 2 B 28.00 - juris; vom 28. Januar 2003 - BVerwG 4 B 4.03 - Buchholz 310
§ 86 Abs. 2 VwGO Nr. 53; stRspr).
Das Oberverwaltungsgericht hat den ihm vorliegenden amtsärztlichen und fachärztli-
chen Stellungnahmen Aussagekraft für die Frage der Schuldfähigkeit im Sinne von
§§ 20, 21 StGB beigemessen, weil sie sich mit der Persönlichkeitsstruktur des Be-
klagten und den daher rührenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen befassen.
Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht aus dem Umstand, dass das
amtsärztliche Gutachten vom 16. Juli 2001 und das neurologisch-psychiatrische
fachärztliche Gutachten vom 5. November 2001 dem Beklagten Arbeits- und Leis-
tungsfähigkeit bescheinigen, folgerichtig geschlossen, durch diese übereinstimmen-
den ärztlichen Erkenntnisse seien Zweifel an der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
im Sinne von §§ 20, 21 StGB sachkundig ausgeschlossen worden. Dies hat es da-
durch bestätigt gesehen, dass nach seinen Feststellungen auch der Bericht der be-
handelnden Fachärztin vom 2. Mai 2001 keinen Hinweis auf eine mögliche Vermin-
derung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit enthält.
Der Beklagte leitet mögliche Zweifel an seiner Schuldfähigkeit aus den gesundheitli-
chen Beeinträchtigungen her, die in den verwerteten Gutachten amtsärztlich und
fachärztlich gewürdigt werden. In Anbetracht der vom Oberverwaltungsgericht fest-
gestellten Aussagen dieser Gutachten hätte das Oberverwaltungsgericht die Einho-
lung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens nur in Betracht ziehen
müssen, wenn der Beklagte aufgezeigt hätte, dass die verwerteten Gutachten, ins-
besondere die Gutachten vom 16. Juli 2001 und vom 5. November 2001 Mängel auf-
weisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtsgebühren werden
gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 BDG nicht erhoben.
Albers Groepper Dr. Heitz
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