Urteil des BVerwG vom 05.05.2015

Disziplinarverfahren, Strafverfahren, Rüge, Freispruch

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Beamtendisziplinarrecht
Rechtsquelle/n:
ThürDG § 11 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2; § 13 Abs. 2, § 16 Abs. 1,
§ 51 Abs. 1 Satz 1;
BDG § 13 Abs. 1 Satz 3, § 14 Abs. 2, § 57;
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 und 2, § 132 Abs. 2 Nr. 3,
§ 133 Abs. 6
Titelzeile:
Nachteilige disziplinarrechtliche Würdigung zulässigen
Verteidigungsverhaltens des Beamten; Bestreiten der Tat oder
ihres Unrechtsgehalts
Stichworte:
Beamter; Grundschullehrer; Entfernung aus dem Beamtenverhältnis; körperliche
Nähe zu Schülerinnen; strafgerichtlicher Freispruch; Bedeutung für das
Disziplinarverfahren; disziplinarer Überhang; Würdigung kindlicher Zeugen;
Maßnahmebemessung; zulässiges Prozessverhalten; Verteidigungsverhalten;
Bestreiten der Tat; Negieren oder Relativieren des Unrechtsgehalts; Würdigung
zu Lasten des Beamten; Verfahrensmangel; Gehörsverstoß; Zurückverweisung.
Leitsatz:
1. Im Rahmen der Bemessung der Disziplinarmaßnahme kann unter dem Aspekt
der Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten (§ 13 Abs. 1 Satz 3
BDG; hier: § 11 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 ThürDG) zu dessen Gunsten zu
berücksichtigen sein, dass der Beamte die von ihm eingeräumten Taten
nachträglich aufgearbeitet hat (z.B. indem er innere Einsicht zeigt oder sie
wiedergutzumachen sucht) und eine erneute Begehung entsprechender
Dienstvergehen nicht mehr zu besorgen ist.
2. Nicht zulässig ist es dagegen, das Ausbleiben einer solchen inneren Einsicht
und Aufarbeitung zu Lasten des Beamten zu würdigen. Zulässiges
Prozessverhalten, wozu auch das Bestreiten der Tat und das Negieren oder
Relativieren ihres Unrechtsgehalts gehört, darf grundsätzlich nicht zu Lasten des
Beamten gewertet werden.
Beschluss des 2. Senats vom 5. Mai 2015 - BVerwG 2 B 32.14
I. VG Meiningen vom 6. Dezember 2012
Az: VG 6 D 60011/10 Me
II. OVG Weimar vom 3. September 2013
Az: OVG 8 DO 236/13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 32.14
OVG 8 DO 236/13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Mai 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dr. Kenntner
beschlossen:
Das Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom
3. September 2013 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückver-
wiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß
§ 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Beschwerde rechtfertigt
zwar nicht die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO;
jedoch liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Berufungsurteil beruhen
kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
1. Der im Jahre 1968 geborene Beklagte ist beamteter Grundschullehrer (Be-
soldungsgruppe A 11 ThürBesG) in Diensten des Klägers. Seit 1991 unterrich-
tete er an einer Grundschule in Erfurt. Im Sommer 2007 führte der Schulleiter
der Grundschule mit dem Beklagten ein Gespräch wegen dessen körperliche
Nähe zu Schülerinnen herstellenden Verhaltens im Sportunterricht. Im Novem-
ber 2007 wurde gegen den Beklagten ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungs-
verfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefoh-
lenen eingeleitet. Im selben Monat wurde er vom Dienst freigestellt. Mit rechts-
kräftigem landgerichtlichen Urteil vom November 2009 wurde der Beklagte frei-
gesprochen. In dem im Juli 2008 eingeleiteten und wegen des Strafverfahrens
ausgesetzten Disziplinarverfahren wurde im September 2010 Disziplinarklage
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erhoben. Beide Vorinstanzen haben auf eine Entfernung aus dem Dienst er-
kannt.
Das Oberverwaltungsgericht hat im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der
Beklagte ein schwerwiegendes, aus sieben innerdienstlichen Dienstpflichtver-
letzungen bestehendes einheitliches Dienstvergehen begangen habe, indem er
seine beamtenrechtlichen Pflichten zu achtungs- und vertrauenswürdigem Ver-
halten und zum Wohlverhalten innerhalb des Dienstes verletzt habe. Der Be-
klagte habe regelmäßig in einer Vielzahl von Fällen während der Unterrichtszeit
Kinder zu sich auf den Schoß genommen. Er habe auf privat organisierten
Klassenfahrten Grundschülerinnen allein bei sich im Zimmer gehabt, sich mit
ihnen auf Klassenfahrt und bei sich zu Hause gemeinsam ins Bett gelegt, mit
ihnen gemeinsam Wochenenden in seiner Wohnung verbracht und mit Grund-
schülerinnen und -schülern ohne hinreichende Sicherstellung der Achtung des
Schamgefühls der Kinder spontan einen Saunabesuch durchgeführt. Dabei ging
der Senat auf Grund der bindenden Feststellungen des Landgerichts ausdrück-
lich davon aus, dass den Handlungen, die der Beklagte vorgenommen habe
oder habe geschehen lassen, keine strafrechtlich relevante sexuelle Kompo-
nente nachzuweisen sei. Die Pflichtwidrigkeit seines Handelns liege darin, dass
die nicht sexuell bestimmten Handlungen bei demjenigen, der sie sehe oder
davon erfahre, ein sehr großes Unsicherheitsgefühl auslösten, ob der Beklagte
jederzeit die verlässliche Gewähr dafür biete, weitere Steigerungen unter gar
keinen Umständen aufkommen zu lassen. Bei der Maßnahmebemessung hat
das Oberverwaltungsgericht zu Lasten des Beklagten berücksichtigt, dass ihm
nach seinen Einlassungen in der mündlichen Verhandlung nach wie vor die
Einsicht in die Pflichtwidrigkeit seines Tuns fehle.
2. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.
Der Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Rechtssache eine - vom Beschwer-
deführer zu bezeichnende - konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche
Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die bislang höchstrichterlich nicht geklärt
ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechts-
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fortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (stRspr; vgl. nur
BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>
und vom 9. April 2014 - 2 B 107.13 - NVwZ 2014, 1174 Rn. 9). Diese Voraus-
setzungen sind hier nicht erfüllt.
a) Soweit der Beklagte die Frage aufwirft,
"Darf ein freisprechendes strafgerichtliches Urteil hinsicht-
lich der Tatsachenfeststellungen als bindend in ein Diszip-
linarverfahren eingeführt werden, wenn das disziplinarisch
zu ahndende Verhalten vom ursprünglich angeschuldigten
strafrechtlichen Verhalten abweicht (disziplinarischer
Überhang)?",
ist diese Frage in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.
Der sogenannte disziplinare Überhang betrifft hier die Frage, ob trotz eines
rechtskräftigen Freispruchs im Straf- oder Bußgeldverfahren noch eine Diszipli-
narmaßnahme ausgesprochen werden darf oder ob einem solchen Ausspruch
die Sperrwirkung des rechtskräftigen Freispruchs entgegensteht. Diese Frage
beantworten die Disziplinargesetze (vgl. § 13 Abs. 2 ThürDG, § 14 Abs. 2
BDG). Soweit die Sperrwirkung des rechtskräftigen Freispruchs im Straf- oder
Bußgeldverfahren für das Disziplinarverfahren reicht, besteht für dieses ein
Prozesshindernis (BVerwG, Urteil vom 9. Mai 1990 - 1 D 54.89 - BVerwGE 86,
279 <281 f.>). Allerdings lassen die Disziplinargesetze den Ausspruch einer
Disziplinarmaßnahme dann zu, wenn der Sachverhalt, der Gegenstand des
Freispruchs gewesen ist, ein Dienstvergehen darstellt, ohne den Tatbestand
einer Straf- oder Bußgeldvorschrift zu erfüllen. Erfüllt also ein bestimmtes Ver-
halten zwar keinen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand, wohl aber den
Tatbestand eines Dienstvergehens, liegt ein disziplinarer Überhang vor und
entfaltet der rechtskräftige Freispruch im Straf- oder Bußgeldverfahren keine
Sperrwirkung für das Disziplinarverfahren (vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Mai
1990 - 1 D 54.89 - BVerwGE 86, 279 <282>, vom 30. Juli 1991 - 2 WD
5.91 - BVerwGE 93, 143 <146>, vom 6. Juni 2000 - 1 D 66.98 - Buchholz 235
§ 17 BDO Nr. 1 S. 2 f. und vom 16. März 2004 - 1 D 15.03 - Buchholz 232 § 54
Satz 3 BBG Nr. 36 S. 81).
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Entfaltet der rechtskräftige Freispruch im Straf- oder Bußgeldverfahren wegen
eines disziplinaren Überhangs keine Sperrwirkung für das Disziplinarverfahren,
gelten die Regelungen der Disziplinargesetze über die Bindung an tatsächliche
Feststellungen in anderen Verfahren und die Lösung von einer solchen Bindung
(§ 16 ThürDG, § 57 BDG). Grundsätzlich können auch die Tatsachenfeststel-
lungen in sachgleichen freisprechenden Strafurteilen unter die Bindungswirkung
nach den Disziplinargesetzen fallen, wenn und soweit diese auf einer vollstän-
digen Prüfung der Tat- und Schuldfrage beruhen oder wenn das freisprechende
Strafurteil darauf beruht, dass - etwa im Falle eines persönlichen Strafaufhe-
bungsgrundes - Tat und Täterschaft des Beamten feststehen (BVerwG, Urteile
vom 21. März 1974 - 1 D 1.74 -, vom 6. Juni 2000 - 1 D 66.98 - Buchholz 235
§ 17 BDO Nr. 1 S. 2 f. und vom 16. März 2004 - 1 D 15.03 - Buchholz 232 § 54
Satz 3 BBG Nr. 36 S. 81).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Oberverwaltungsgericht im vorlie-
genden Fall seiner Entscheidung die nach § 16 ThürDG bindenden Feststellun-
gen des freisprechenden Urteils zugrunde gelegt. Grundsätzlichen Klärungsbe-
darf hierzu zeigt die Beschwerde nicht auf.
b) Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
"Verstößt es gegen Art. 6 EMRK und den Grundsatz der
Unschuldsvermutung, wenn kindliche Zeugen im Strafver-
fahren beeinflusst werden und die von ihnen geschilderten
Tatsachen gleichwohl im Disziplinarverfahren als erwiesen
eingeführt werden?",
ist nicht entscheidungserheblich.
Das Gericht hat im Strafverfahren im Rahmen der Beweisaufnahme den tat-
sächlichen Geschehensablauf zu erforschen (vgl. § 244 StPO). Dabei hat es
ggf. auch Zeugen zu hören und zu prüfen, ob und inwieweit deren Aussagen
glaubhaft sind. Das gilt für erwachsene Zeugen und für minderjährige Zeugen
gleichermaßen.
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Im vorliegenden Fall hat das Landgericht unter Zugrundelegung auch der Aus-
sagen der minderjährigen Zeuginnen, soweit es ihnen gefolgt ist, den tatsächli-
chen Geschehensablauf ermittelt. Dabei hat es die Aussagen der als Zeuginnen
vernommenen Schülerinnen im Einzelnen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts
gewürdigt. Bei einem Teil der Aussagen hat es für möglich gehalten, dass sie
nicht den tatsächlichen Geschehensablauf wiedergaben, sondern durch nach-
trägliche Umstände beeinflusst waren. Im Ergebnis hat das Strafgericht hin-
sichtlich der angeklagten Missbrauchshandlungen eine suggestive Beeinflus-
sung nicht ausschließen können und ist deshalb zum Freispruch gelangt. Damit
sind die "kontaminierten" Aussagen der Schülerinnen gerade nicht in die tat-
sächlichen Feststellungen des Strafurteils eingeflossen und würde sich die auf-
geworfene Frage in einem Revisionsverfahren nicht stellen.
c) Die Frage,
"Ist in Verfahren mit dem Gegenstand des sexuellen Miss-
brauchs (Strafverfahren) bzw. der Dienstpflicht zu körper-
licher Distanz (Disziplinarverfahren) stets ein fachärztli-
ches und psychotherapeutisches Gutachten über den An-
geklagten einzuholen, da hinreichende Anhaltspunkte für
ein gerichtsbekanntes Krankheitsbild der Pädophilie be-
stehen (ICD-10 F65.4)?",
ist für sich genommen zu unbestimmt, weil unklar bleibt, zum Beweis welcher
Tatsache das Gutachten einzuholen sein soll. Hinreichend bestimmt wird die
Frage durch die nachfolgend in der Beschwerde aufgeworfene Verknüpfung:
"Ist in Verfahren, in denen hinreichende Anhaltspunkte für
das Krankheitsbild der Pädophilie (F65.4) bestehen, auch
ergänzend ein Gutachten über die Schuldfähigkeit bzw.
verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten/Beklagten
einzuholen?"
Soweit sich die Frage auf das Strafverfahren bezieht, bedarf es schon deshalb
keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, weil der Beklagte freigesprochen
worden ist, sodass sich im Strafverfahren die Frage nach der Notwendigkeit der
Einholung eines Sachverständigengutachtens von vornherein nicht stellte. So-
weit sie sich auf das Disziplinarverfahren bezieht, lässt sie sich nicht in verall-
gemeinerungsfähiger Form, sondern nur nach den Maßgaben des jeweiligen
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Einzelfalls beantworten. Denkbar ist deshalb lediglich eine - hier vom Beklagten
auch erhobene, vgl. unter 4. - Verfahrensrüge, dass eine im konkreten Fall er-
forderliche Einholung eines Sachverständigengutachtens unterblieben ist.
3. Die Beschwerde ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen.
Eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, § 127 Nr. 1 BRRG
setzt voraus, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts auf einem abstrak-
ten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das
Bundesverwaltungsgericht oder ein anderes Oberverwaltungsgericht in Anwen-
dung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Zwischen den Gerichten muss
ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer be-
stimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen (stRspr; vgl.
BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 26 S. 14 f. und vom 25. Mai 2012 - 2 B 133.11 - NVwZ-RR
2012, 607 Rn. 5). Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen An-
wendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner
Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer
Divergenzrüge dagegen nicht (stRspr; vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17. Janu-
ar 1995 - 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55 und vom
28. Mai 2013 - 7 B 39.12 - juris Rn. 8). Die Entscheidungen müssen dasselbe
Gesetz und dieselbe Fassung des Gesetzes zum Gegenstand haben (BVerwG,
Beschluss vom 9. April 2014 - 2 B 107.13 - NVwZ 2014, 1174 Rn. 4 f. m.w.N.).
Die Beschwerde bezeichnet keine divergierenden Rechtssätze. Hinsichtlich des
Urteils des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 27. August 2008 (20 LD
5/07 - juris) nimmt die Beschwerde lediglich Formulierungen aus dem Tatbe-
stand dieses Urteils zu einem landgerichtlichen und einem verwaltungsgerichtli-
chen Urteil auf, bezeichnet aber keine Rechtssätze. Das Urteil des Oberverwal-
tungsgerichts Schleswig vom 5. November 1992 (3 L 36/92 - NJW 1993, 952)
betrifft die Rechtmäßigkeit einer pädagogischen Maßnahme gegenüber Schü-
lern, die einen Unterrichtsraum verschmutzt hatten und diesen dann zusammen
mit dem Lehrer reinigen mussten, und damit einen gänzlich anders gelagerten
rechtlichen Kontext.
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4. Auch die geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
liegen mit einer Ausnahme (dazu unter 5.) nicht vor.
a) Soweit die Beschwerde rügt, im gerichtlichen Disziplinarverfahren sei die
Vernehmung der Schülerinnen und Schüler als Zeugen rechtsfehlerhaft unter-
blieben, zumal diese "offensichtlich" auch im Strafverfahren nicht durch den
Beklagten hätten befragt werden können, ist damit ein Aufklärungsmangel (§ 86
Abs. 1 VwGO) nicht aufgezeigt. Zum einen stand einer solchen Zeugenbefra-
gung die Bindungswirkung der strafgerichtlichen Feststellungen nach § 16
Abs. 1 ThürDG entgegen. Zum anderen hat der anwaltlich vertretene Beklagte
im Berufungsverfahren einen auf die nunmehr vermisste Sachaufklärung ge-
richteten Beweisantrag nicht gestellt. Das Revisionsverfahren dient nicht dazu,
entsprechende Versäumnisse in der Tatsacheninstanz zu korrigieren. Dem
Oberverwaltungsgericht musste sich angesichts der Bindungswirkung nach
§ 16 ThürDG eine Beweisaufnahme auch nicht aufdrängen.
b) Das Oberverwaltungsgericht hat nicht den Überzeugungsgrundsatz (§ 108
Abs. 1 VwGO) oder seine Aufklärungspflicht dadurch verletzt, dass es - wie die
Beschwerde anführt - von einer pädophilen Neigung des Beklagten ausgegan-
gen wäre, ohne hierzu ein Sachverständigengutachten einzuholen. Vielmehr ist
das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich nicht von einer solchen Neigung aus-
gegangen.
c) Die Rüge des Beklagten, das Oberverwaltungsgericht habe das ihm vorge-
worfene Verhalten rechtsfehlerhaft als innerdienstlich qualifiziert, betrifft nicht
das Verfahren, sondern die - vermeintlich - unrichtige Anwendung materiellen
Rechts im Einzelfall. Das gleiche gilt für seine Rüge, das Oberverwaltungsge-
richt habe bei der Maßnahmebemessung nicht alle für ihn sprechenden entlas-
tenden Umstände berücksichtigt.
d) Mit der Rüge, das behördliche Verfahren leide an dem Mangel, dass die
Gleichstellungsbeauftragte vor der Erhebung der Disziplinarklage nicht beteiligt
worden sei, kann der Beklagte nicht mehr gehört werden. Nach § 51 Abs. 1
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Satz 1 ThürDG hat der Beamte innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung
der Disziplinarklage u.a. wesentliche Mängel des behördlichen Disziplinarver-
fahrens zu rügen; eine Rüge in den Rechtsmittelinstanzen ist damit ausge-
schlossen.
e) Soweit die Beschwerde als Verstoß gegen das Recht auf Gewährung rechtli-
chen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 GG rügt, dass das Ober-
verwaltungsgericht das Verteidigungsverhalten des Beklagten im Strafverfahren
ohne vorherigen Hinweis zu seinem Nachteil ausgelegt habe, ist dies hinsicht-
lich des Verteidigungsverhaltens im Strafverfahren unbegründet, weil das Ober-
verwaltungsgericht in seinem Urteil in keiner Weise auf das Verteidigungsver-
halten des Beklagten im Strafverfahren rekurriert und es ihm somit auch nicht
nachteilig angerechnet hat.
5. Die Beschwerde rügt allerdings zu Recht, dass das Oberverwaltungsgericht
mit der Berücksichtigung des Verteidigungsverhaltens des Beklagten im Diszi-
plinarverfahren zu seinem Nachteil gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz
"nemo tenetur" und gegen das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach
Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verstoßen habe. Das Oberverwal-
tungsgericht hat es versäumt, den Beklagten vor der Verkündung des Beru-
fungsurteils darauf hinzuweisen, dass es die Entfernung aus dem Beamtenver-
hältnis ausschlaggebend auch auf dessen Verteidigungsverhalten im Diszipli-
narverfahren stützen will.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass ein
Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und
dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhal-
ten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die
entscheidungserheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äuße-
rungsrecht keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflicht des Ge-
richts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich
aus erkennen, welche Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfah-
rens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können,
und entsprechend vortragen. Jedoch verlangt der Schutz vor einer Überra-
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schungsentscheidung, dass das Gericht rechtzeitig mitteilt, dass es auf eine
Rechtsauffassung abstellen will, mit der die Beteiligten angesichts des Standes
von Rechtsprechung und Schrifttum nicht zu rechnen brauchen. Nur durch ei-
nen solchen Hinweis erhalten sie Gelegenheit, sich zu dieser Auffassung zu
äußern, und damit auf die Entscheidungsfindung des Gerichts einzuwirken
(BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133
<144 f.>; BVerwG, Urteil vom 19. August 2010 - 2 C 5.10 - Buchholz 235.2
LDisziplinarG Nr. 12 Rn. 28 und Beschluss vom 20. November 2012 - 2 B
56.12 - NVwZ 2013, 1093 Rn. 5).
Das Oberverwaltungsgericht hat das Verteidigungsverhalten des Beklagten im
Disziplinarverfahren nicht als bemessungsneutral behandelt, sondern ausdrück-
lich zu seinem Nachteil in die Gesamtwürdigung nach § 11 ThürDG einbezo-
gen. Es hat zu Lasten des Beklagten berücksichtigt, dass er offensichtlich nicht
erkannt habe, dass er Grenzen überschritten habe. Wie seine Ausführungen in
der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zeigten, sei er nach wie vor der
Ansicht, dass ihm nichts vorzuwerfen sei. Insbesondere aus dem Inhalt seiner
persönlichen Erklärung und der Art und Weise, wie er sie in der mündlichen
Verhandlung vorgetragen habe, ergebe sich, dass der Beklagte die ihm vorge-
worfenen Handlungen nahezu ausschließlich aus seinem Blickwinkel betrachte
und nach seinen Maßstäben bewerte. Es sei nicht im Ansatz zu erkennen ge-
wesen, dass sich der Beklagte um eine objektive Sichtweise bemüht habe, ge-
schweige denn sich selbstkritisch mit seinem Verhalten und dessen Folgen
auseinandergesetzt habe. Folglich fehle ihm nach wie vor die Einsicht in die
Pflichtwidrigkeit seines Tuns.
Diesen Erwägungen zum nachträglichen Umgang des Beamten mit dem von
ihm in der Sache nicht bestrittenen Verhalten ist ihre Relevanz für die erforderli-
che Disziplinarmaßnahme nicht abzusprechen.
Gemäß § 11 Abs. 1 ThürDG (vgl. auch § 13 Abs. 1 BDG) wird eine Disziplinar-
maßnahme nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der
Schwere des Dienstvergehens, des Persönlichkeitsbildes des Beamten und der
Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit ver-
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hängt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2013 - 1 D 1.12 - BVerwGE 148,
192 Rn. 39 zu § 13 Abs. 1 BDG). Grundsätzlich ist demnach die Schwere des
Dienstvergehens richtungsweisend für die Bestimmung der erforderlichen Dis-
ziplinarmaßnahme. Davon ausgehend können aber Erkenntnisse zum Persön-
lichkeitsbild des Beamten im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine an-
dere als die durch die Schwere indizierte Maßnahme geboten ist (BVerwG, Ur-
teil vom 28. Februar 2013 - 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 Rn. 26). Gerade für
die Frage, ob auf den Beamten mit pflichtenmahnenden Maßnahmen noch aus-
reichend eingewirkt werden kann oder ob er für eine weitere Amtsausübung im
Beamtenverhältnis untragbar geworden ist, kommt dem Persönlichkeitsbild des
Beamten ausschlaggebende Bedeutung zu (BVerwG, Beschlüsse vom 25. Mai
2012 - 2 B 133.11 - NVwZ-RR 2012, 607 Rn. 8 und vom 11. Februar 2014 - 2 B
37.12 - juris Rn. 21 ff.).
Es kann daher zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, wenn der Beamte die
von ihm eingeräumten Taten nachträglich aufgearbeitet hat und eine erneute
Begehung entsprechender Dienstvergehen nicht mehr zu besorgen ist (vgl.
BVerwG, Urteil vom 28. Juli 2011 - 2 C 16.10 - BVerwGE 140, 185 Rn. 37 zur
inneren Einsicht, sich künftig rechtstreu zu verhalten; Urteil vom 25. Juli
2013 - 2 C 63.11 - BVerwGE 147, 229 Rn. 26 zur freiwilligen Wiedergutma-
chung).
Nicht zulässig ist es dagegen, das Ausbleiben solcher inneren Einsicht und
Aufarbeitung der dem Beamten vorgeworfenen Pflichtenverstöße zu seinen
Lasten zu würdigen. Zulässiges Prozessverhalten, wozu auch das Bestreiten
der Tat selbst und das Negieren oder Relativieren ihres Unrechtsgehalts gehört,
darf grundsätzlich nicht zu Lasten des Beamten gewertet werden (BVerwG, Ur-
teil vom 28. Februar 2013 - 2 C 62.11 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 19
Rn. 49 ff.; Beschlüsse vom 20. November 2012 - 2 B 56.12 - NVwZ 2013, 1093
Rn. 8 und vom 10. Dezember 2014 - 2 B 75.14 - ZBR 2015, 131 Rn. 10; hierzu
auch Müller, ZBR 2012, 331 <339 ff.>).
Die nachteilige Berücksichtigung des Verteidigungsverhaltens des Beklagten im
gerichtlichen Verfahren durch das Oberverwaltungsgericht war hier deshalb
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verfahrensfehlerhaft. Weder im Hinblick auf die dargestellte höchstrichterliche
Rechtsprechung noch in Anbetracht des konkreten Prozessverlaufs, in dem das
Verteidigungsverhalten bislang nicht für bedeutsam erachtet worden war und im
erstinstanzlichen Urteil keine Erwähnung gefunden hatte, bestand für den Be-
klagten Anlass, von einer maßgeblichen Berücksichtigung dieses Umstandes
auszugehen, sodass die Würdigung im Berufungsurteil als "überraschend" ge-
wertet werden muss (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20. November 2012 - 2 B
56.12 - NVwZ 2013, 1093 Rn. 4 ff. und vom 12. November 2014 - 2 B 67.14 -
ZBR 2015, 92 Rn. 9 ff.).
Hätte das Oberverwaltungsgericht einen Hinweis darauf gegeben, wäre der Be-
klagte in die Lage versetzt worden, seine Einwände gegen eine solche nachtei-
lige Berücksichtigung zulässigen Verteidigungsverhaltens darzulegen. Von die-
ser Äußerungsmöglichkeit hat er im Rahmen des Nichtzulassungsbeschwerde-
verfahrens ausführlich und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
beschließenden Senats Gebrauch gemacht. Mit diesen Erwägungen hat sich
das Oberverwaltungsgericht bislang nicht auseinandergesetzt, sodass nicht
ausgeschlossen werden kann, dass die angegriffene Entscheidung auf dem
unterlassenen Hinweis beruht.
Domgörgen Dr. von der Weiden Dr. Kenntner
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