Urteil des BVerwG vom 15.02.2010

Vorläufige Dienstenthebung, Bindungswirkung, Vorrang, Unabhängigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 126.09
OVG 3d A 2238/08.BDG
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Februar 2010
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Groepper, Dr. Heitz und
Dr. Maidowski
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 26. August 2009 wird aufgeho-
ben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das
Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Der Be-
klagte hat dargelegt, dass das Berufungsurteil auf einem Verfahrensmangel
gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 69 BDG beruht.
Der als Briefzusteller bei der Deutschen Post AG tätige Beamte wurde im Mai
2003 wegen des Vorwurfs, dem Dienst unerlaubt fernzubleiben, vorläufig des
Dienstes enthoben. Sein hiergegen gerichteter Aussetzungsantrag blieb in bei-
den verwaltungsgerichtlichen Instanzen erfolglos. Im Disziplinarklageverfahren
hat das Oberverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene
Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis bestätigt. Der Beklagte
sei als Beamter untragbar geworden, weil er zwischen dem 1. September 2002
und dem 24. Januar 2007 mit Ausnahme der Zeit eines Krankenhausaufent-
halts dem Dienst vorsätzlich unerlaubt ferngeblieben sei. Die Dienstfähigkeit
des Beklagten stehe aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Gelsenkir-
chen vom 16. Dezember 2005, durch das seine Klage gegen die Feststellung
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des Verlusts der Dienstbezüge abgewiesen worden sei, und aufgrund des Be-
schlusses des Oberverwaltungsgerichts über die Ablehnung des Antrags auf
Zulassung der Berufung bindend fest. Es gebe keinen Grund, sich von diesen
Feststellungen zu lösen.
1. Der Beklagte rügt zu Recht, dass das Oberverwaltungsgericht auf der Grund-
lage seines Rechtsstandpunkts bei der disziplinarrechtlichen Würdigung des
dem Beklagten angelasteten Verhaltens und bei der Bestimmung der ange-
messenen Disziplinarmaßnahme einen entscheidungserheblichen tatsächlichen
Umstand, nämlich die Erklärung in dem Schriftsatz vom 2. Dezember 2003, er
sei zur Aufnahme der früheren dienstlichen Tätigkeit bereit, nicht berücksichtigt
hat. Darin liegt ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108
Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 3 BDG.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien,
aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Daraus
folgt auch die Verpflichtung, der Überzeugungsbildung den im Verfahren fest-
gestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde zu legen. Das Gericht
darf nicht einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse
bei seiner rechtlichen Würdigung außer Acht lassen, insbesondere Umstände
übergehen, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm auf der Grundlage sei-
ner Rechtsauffassung hätte aufdrängen müssen. In solchen Fällen fehlt es an
einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des
Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche
nicht zu beanstanden ist (vgl. nur Beschluss vom 18. November 2008 - BVerwG
2 B 63.08 - Buchholz 235.1 § 17 BDG Nr. 1 = NVwZ 2009, 399, jeweils Rn. 27
m.w.N.).
Dem Berufungsurteil liegt die Rechtsauffassung zugrunde, ein Beamter bleibe
dem Dienst auch weiterhin unerlaubt fern, wenn er aus diesem Grund vorläufig
des Dienstes enthoben worden sei. Auch nach dieser Auffassung ist aber der
Tatbestand des unerlaubten Fernbleibens vom Dienst gemäß § 73 Abs. 1
Satz 1 BBG a.F. (§ 96 Abs. 1 Satz 1 BBG n.F.) ab dem Zeitpunkt nicht mehr
gegeben, zu dem der Beamte seinen Dienst aufgenommen hätte, wenn er
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hieran nicht durch die vorläufige Dienstenthebung gehindert worden wäre (§ 39
Abs. 3 Satz 2 BDG). Dies ist der Fall, wenn der Beamte nach der vorläufigen
Dienstenthebung glaubhaft unmissverständlich zu erkennen gibt, er sei bereit,
die ihm obliegenden Dienstgeschäfte wahrzunehmen (sog. Dienstbereit-
schaftserklärung).
Danach ist nach dem Rechtsstandpunkt des Oberverwaltungsgerichts von ent-
scheidungserheblicher Bedeutung, ob der Beklagte in dem Schriftsatz vom
2. Dezember 2003 eine derartige Erklärung abgegeben hat. Das Oberverwal-
tungsgericht hat diesen Schriftsatz trotz seiner zentralen Bedeutung in Tatbe-
stand und Gründen des Berufungsurteils nicht erwähnt, obwohl ihn der Beklagte
in dem Aussetzungsverfahren beim Oberverwaltungsgericht eingereicht hat.
Dies lässt darauf schließen, dass es seinen Inhalt nicht in die Entscheidungs-
findung einbezogen hat. Vielmehr hat sich das Oberverwaltungsgericht damit
erst in den Gründen seines Beschlusses vom 7. Oktober 2009 auseinander
gesetzt, in dem es den Antrag des Beklagten auf Berichtigung des Urteilstatbe-
standes abgelehnt hat. Diese Ausführungen nach der Verkündung des Beru-
fungsurteils können den diesem anhaftenden Verstoß gegen den Überzeu-
gungsgrundsatz nicht nachträglich heilen.
Die Nichtberücksichtigung der Erklärung des Beklagten vom 2. Dezember 2003
ist auch nicht wegen der Bindungswirkung der tatsächlichen Feststellungen des
rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 16. Dezem-
ber 2005 unbeachtlich. Die Feststellungen zur Dauer des unerlaubten Fernblei-
bens binden nicht nach § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG, weil sie offenbar unrichtig im
Sinne des Satzes 2 dieser Vorschrift sind. Da auch das Verwaltungsgericht den
Schriftsatz vom 2. Dezember 2003 nicht erwähnt hat, bestehen an der Richtig-
keit der Feststellungen aufgrund eines neu eingeführten Beweismittels zumin-
dest erhebliche Zweifel. Diese reichen aus, um nach § 57 Abs. 1 Satz 2 BDG
eine Pflicht zur erneuten Prüfung der Feststellungen über die Dauer des uner-
laubten Fernbleibens des Beklagten zu begründen (stRspr, vgl. zuletzt Be-
schluss vom 24. Juli 2007 - BVerwG 2 B 65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG
Nr. 4 Rn. 11).
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Die tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in dem Be-
schluss vom 12. Juni 2007 über die Ablehnung des Berufungszulassungsan-
trags des Beklagten können eine Bindungswirkung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1
BDG schon deshalb nicht entfalten, weil diese Wirkung nach dem Wortlaut des
§ 57 Abs. 1 Satz 1 BDG auf die Feststellungen rechtskräftiger Urteile be-
schränkt ist. Der Beschluss vom 12. Juni 2007 steht einem Urteil nicht gleich.
Das Oberverwaltungsgericht hat nicht über den Streitgegenstand des verwal-
tungsgerichtlichen Verfahrens, nämlich über die Feststellung des Verlusts der
Dienstbezüge gemäß § 9 BBesG, sondern über die Darlegung und das Vorlie-
gen eines Berufungszulassungsgrundes entschieden (§ 124a Abs. 5 Satz 2,
§ 124 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 VwGO).
2. Die weiteren Verfahrensrügen des Beklagten greifen nicht durch:
a) Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag des Beklagten auf Aussetzung
des Disziplinarklageverfahrens ermessensfehlerfrei abgelehnt, weil der Aus-
gang des Zurruhesetzungsverfahrens für die Entscheidung über die Disziplinar-
klage nicht vorgreiflich ist (§ 94 VwGO, § 3 BDG). Die Klage wäre im Falle der
Zurruhesetzung des Beklagten nicht zwangsläufig abzuweisen. Auch gegen
Ruhestandsbeamte können Disziplinarmaßnahmen wegen Dienstvergehen
verhängt werden, die sie im aktiven Dienst begangen haben (§ 5 Abs. 2, §§ 11,
12, § 13 Abs. 2 Satz 2 BDG; vgl. Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 - BVerwG
2 B 19.05 - Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2 Rn. 6 und vom 17. Mai 2006
- BVerwG 2 B 15.06 - Buchholz 235.1 § 12 BDG Nr. 1).
b) Nach der Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, die einer revisionsge-
richtlichen Nachprüfung nur in eingeschränktem Umfang zugänglich ist, lassen
die Stellungnahmen des Facharztes Dr. R. für sich genommen die Bindungs-
wirkung der Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsge-
richts Gelsenkirchen vom 16. Dezember 2005 nicht entfallen. Insoweit sieht der
Senat im Hinblick auf die Ausführungen unter 4.b) von einer weiteren Begrün-
dung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO, § 69 BDG).
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3. Auch die Grundsatzrüge des Beklagten kann nicht zur Zulassung der Revisi-
on führen. Die aufgeworfene Frage zur Reichweite der Aufklärungspflicht im
Anwendungsbereich des § 9 BBesG ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung im
Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG, weil sie nur aufgrund der kon-
kreten Umstände des jeweiligen Falles beantwortet werden kann.
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Der für die Beurteilung der Verfahrensrüge maßgebende Rechtsstandpunkt
des Oberverwaltungsgerichts, der Tatbestand des unerlaubten Fernbleibens
vom Dienst könne auch nach der vorläufigen Dienstenthebung des Beamten
verwirklicht werden, entspricht nicht der Rechtsauffassung des Senats (vgl. Ur-
teil vom 24. April 1980 - BVerwG 2 C 26.77 - BVerwGE 60, 118 = Buchholz 235
§ 9 BBesG Nr. 2). Danach ruht die aktive Dienstleistungspflicht eines Beamten
oder Soldaten während der Rechtswirksamkeit einer vorläufigen Dienstenthe-
bung. Deren Zweck besteht gerade darin, dem Beamten die weitere Erfüllung
seiner Dienstgeschäfte zu untersagen. Der Beamte ist davon entbunden, sich
während der vorgeschriebenen Arbeitszeit an dem vorgesehenen Ort aufzuhal-
ten, um Dienstgeschäfte wahrzunehmen. Daher obliegt ihm kein Dienst mehr,
dem er ungenehmigt und schuldhaft fernbleiben könnte. Die Regelung des § 39
Abs. 3 Satz 1 BDG, die ebenso wie die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des
§ 125 Satz 1 BDO die Fortdauer des nach § 9 BBesG begründeten Verlusts der
Dienstbezüge wegen unerlaubten Fernbleibens nach der vorläufigen Dienst-
enthebung anordnet, stellt nur klar, dass der Beamte nach der vorläufigen
Dienstenthebung besoldungsrechtlich nicht besser steht als vorher. Es soll ver-
hindert werden, dass deren Anordnung dem Beamten einen ungerechtfertigten
Vermögensvorteil bringt, weil sein weiteres Fernbleiben nicht mehr als unge-
nehmigt angesehen werden könnte.
b) Das Oberverwaltungsgericht ist gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 BDG verpflichtet,
erneut diejenigen tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des
Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 16. Dezember 2005 zu prüfen, die die
Dienstfähigkeit des Beklagten betreffen. Diese Feststellungen sind offenbar
unrichtig, weil sie darauf beruhen, dass das Verwaltungsgericht den Anwen-
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dungsbereich des Grundsatzes des Vorrangs der medizinischen Beurteilung
des Amtsarztes zu Lasten des Beklagten verkannt hat.
Der medizinischen Beurteilung des Amtsarztes kommt kein unbedingter, son-
dern nur ein eingeschränkter Vorrang vor der Beurteilung des behandelnden
Privatarztes zu, wenn beide Beurteilungen hinsichtlich desselben Krankheitsbil-
des des Beamten voneinander abweichen. Ein unbedingter Vorrang wäre mit
dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO,
§ 3 BDG nicht zu vereinbaren. Danach besteht keine generelle Rangordnung
der Beweismittel; diese sind grundsätzlich gleichwertig (stRspr, vgl. nur Urteil
vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 30.05 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO
Nr. 50 Rn. 16). Daher können sich die Tatsachengerichte im Konfliktfall nur
dann auf die Beurteilung des Amtsarztes stützen, wenn keine Zweifel an der
Sachkunde des Amtsarztes bzw. eines von ihm hinzugezogenen Facharztes
bestehen, seine Beurteilung auf zutreffenden Tatsachengrundlagen beruht und
in sich stimmig und nachvollziehbar ist. Hat der Privatarzt seinen medizinischen
Befund näher erläutert, so muss der Amtsarzt auf diese Erwägungen eingehen
und nachvollziehbar darlegen, warum er ihnen nicht folgt. Diese Grundsätze
beanspruchen in gleicher Weise Geltung, wenn sich der Amtsarzt der medizini-
schen Beurteilung eines von ihm eingeschalteten Facharztes anschließt. Die
Stellungnahme des Facharztes wird dann dem Amtsarzt zugerechnet (Urteile
vom 11. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 10.05 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 30
Rn. 36 und vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 2.05 - juris Rn. 34).
Dieser eingeschränkte Vorrang im Konfliktfall findet seine Rechtfertigung in der
Neutralität und Unabhängigkeit des Amtsarztes. Im Gegensatz zu einem Pri-
vatarzt, der womöglich bestrebt ist, das Vertrauen des Patienten zu ihm zu er-
halten, nimmt der Amtsarzt seine Beurteilung von seiner Aufgabenstellung her
unbefangen und unabhängig vor. Er steht Beamten und Dienststelle gleicher-
maßen fern (Urteile vom 9. Oktober 2002 - BVerwG 1 D 3.02 - juris Rn. 22, vom
11. Oktober 2006 a.a.O. Rn. 37 und vom 12. Oktober 2006 a.a.O. Rn. 35).
Zwar kann der Bahnarzt dem Amtsarzt gleichgestellt werden, weil der Bahnärzt-
liche Dienst aufgrund der Zuordnung zum Bundeseisenbahnvermögen öffent-
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lich-rechtlichen Charakter hat (Urteile vom 11. April 2000 - BVerwG 1 D 1.99 -
juris Rn. 12 und vom 12. Oktober 2006 a.a.O. Rn. 33). Entsprechendes könnte
für die im Auftrag der Postnachfolgeunternehmen tätigen Betriebsärzte allen-
falls gelten, wenn deren Neutralität und Unabhängigkeit durch Rechtsnormen
begründet und gewährleistet wäre. Interne Regelungen der Unternehmen ge-
nügen nicht. Ansonsten fehlt die unabdingbare Voraussetzung für die Anwen-
dung des Vorranggrundsatzes. Es besteht dann kein Grund, der im Auftrag ei-
nes privatwirtschaftlich tätigen Unternehmens erstellten Beurteilung eines Be-
triebsarztes einen anderen Stellenwert als derjenigen des behandelnden Pri-
vatarztes zuzuerkennen.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat jedenfalls den Anwendungsbereich
des Vorranggrundsatzes verkannt, weil es ihn unbesehen auf die Beurteilungen
der Betriebsärztin der Deutschen Post AG angewandt hat. Es hat die Betriebs-
ärztin einem Amtsarzt gleichgestellt, ohne zu berücksichtigen, dass dies nur bei
normativ gesicherter Neutralität und Unabhängigkeit der Betriebsärzte gegen-
über den Postnachfolgeunternehmen gerechtfertigt wäre.
Groepper
Dr. Heitz
Dr. Maidowski
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