Urteil des BVerwG vom 30.10.2014

Rechtliches Gehör, Gefährdung, Ernennung, Verwertungsverbot

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 109.13
OVG 2 A 348/12
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Oktober 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dollinger
beschlossen:
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Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts
vom 12. September 2013 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückver-
wiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
42 800 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Be-
schluss über die Verwerfung der Berufung des Klägers aufzuheben und der
Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Ober-
verwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 133 Abs. 6 VwGO). Die Beru-
fungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Der Kläger macht zu Recht geltend, dass das Oberverwal-
tungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat
(Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).
Der 1960 geborene Kläger ist seit 1992 Polizeibeamter. Nachdem der Beklagte
erfahren hatte, dass der Kläger 1980 wegen mehrerer Diebstähle zu einer Frei-
heitsstrafe verurteilt worden war, nahm er die Ernennung zum Beamten zurück.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die
Verurteilung könne berücksichtigt werden, obwohl ihre Eintragung im Bundes-
zentralregister längst getilgt sei. Die weitere Tätigkeit des Klägers als Polizeibe-
amter führe zu einer erheblichen Gefährdung der Allgemeinheit, weil sie das
Ansehen der Polizei beschädige. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung nicht
zugelassen.
Der Kläger hat gegen das erstinstanzliche Urteil mit Schriftsatz vom 5. Mai 2012
fristwahrend Rechtsmittel eingelegt. Der erste Satz dieses Schriftsatzes lautet
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auszugsweise: „…beantrage ich hiermit die Zulassung der Berufung gegen das
Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 29. März 2013 durch das Sächsi-
sche Oberverwaltungsgericht und lege Berufung gegen das vorgenannte Urteil
ein mit dem Antrag….“. Auf Seite 4 des Schriftsatzes unter „V.“ hat der Kläger
ausgeführt, dass die Berufung aus den Gründen der ernstlichen Zweifel an der
Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, der besonderen rechtlichen Schwierig-
keiten und der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen sei.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beru-
fungszulassungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss
vom 23. Juli 2013 abgelehnt. In der Begründung heißt es, das eingelegte
Rechtsmittel der Berufung sei offensichtlich unzulässig. Auf diese Rechtsauf-
fassung hatte das Gericht den Kläger zuvor nicht hingewiesen.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 3. September 2013 darauf hingewiesen, er
habe in dem fristwahrenden Schriftsatz vom 5. Mai 2012 einen Antrag auf Zu-
lassung der Berufung gestellt. Diesen Vortrag hat er nach Akteneinsicht mit
Schriftsatz vom 9. September 2013 wiederholt.
Durch Beschluss vom 12. September 2013 hat das Oberverwaltungsgericht die
Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. In den Gründen heißt es, zu-
lässiges Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil sei der Antrag auf Zu-
lassung der Berufung gewesen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe
dagegen ausdrücklich Berufung gegen das Urteil eingelegt und bereits konkrete
Berufungsanträge gestellt. Selbst wenn der Schriftsatz vom 5. Mai 2012 als Zu-
lassungsantrag ausgelegt werden könnte, habe der Kläger jedenfalls keinen
Zulassungsgrund dargelegt.
1. Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht, das
Vorbringen jedes Verfahrensbeteiligten bei seiner Entscheidung in Erwägung zu
ziehen. Der Gehörsanspruch verlangt nicht, dass das Gericht das gesamte
Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen wiederzugeben und zu
jedem einzelnen Gesichtspunkt Stellung zu nehmen hat. Vielmehr sind in der
Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Über-
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zeugung leitend gewesen sind. Das Gericht kann sich auf die Darstellung und
Würdigung derjenigen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte beschrän-
ken, auf die es nach seinem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich an-
kommt (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Daher kann aus dem Umstand, dass
das Gericht einen Aspekt des Vorbringens eines Beteiligten in den Entschei-
dungsgründen nicht abgehandelt hat, dann geschlossen werden, es habe die-
sen Aspekt nicht in Erwägung gezogen, wenn er nach dem Rechtsstandpunkt
des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft (stRspr; vgl. BVerfG,
Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <145 f.>;
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200
<209 f.> = Buchholz 402.25 § 1 Nr. 174 S. 27 f.; Beschluss vom 21. Juni 2007
- BVerwG 2 B 28.07 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 3 Rn. 6).
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Verwerfung der Berufung
beruht auf der Rechtsauffassung, der Kläger habe in dem Schriftsatz vom
5. Mai 2012 gegen das die Klage abweisende erstinstanzliche Urteil nur Beru-
fung eingelegt, anstatt einen - nach § 124 Abs. 1, § 124a Abs. 4 VwGO allein
zulässigen - Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen. Nach diesem
Standpunkt folgerichtig hat das Oberverwaltungsgericht keine Entscheidung
über die Zulassung der Berufung getroffen. Die Ausführungen zur fehlenden
Darlegung eines Zulassungsgrundes tragen die Berufungsentscheidung nicht.
Von der tragenden Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts hat der
Kläger erstmals durch die Gründe des - Prozesskostenhilfe ablehnenden - Be-
schlusses vom 23. Juli 2013 Kenntnis erhalten. Sein nachfolgender Vortrag in
den Schriftsätzen vom 3. September und vom 9. September 2013 zum Inhalt
des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 hätte dem Oberverwaltungsgericht bereits
wegen des ersten Satzes dieses Schriftsatzes Anlass geben müssen, seine
Rechtsauffassung über das eingelegte Rechtsmittel zu überdenken. Die Gründe
des Beschlusses über die Verwerfung der Berufung lassen jedoch nicht erken-
nen, dass das Oberverwaltungsgericht dies getan hat. Dieser Schluss drängt
sich schon deshalb auf, weil sich das Oberverwaltungsgericht - wie bereits in
dem Beschluss vom 23. Juli 2013 - darauf beschränkt hat, seine Rechtsauffas-
sung in einem Satz mitzuteilen. Erneut hat es lediglich ausgeführt, der Kläger
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habe in dem Schriftsatz vom 5. Mai 2012 ausdrücklich Berufung eingelegt. Auf
dessen Erklärungen in den Schriftsätzen vom 3. September und vom 9. Sep-
tember 2013 ist es mit keinem Wort eingegangen. Dementsprechend hat es
den Eingangssatz des Schriftsatzes vom 5. Mai 2013 nicht erwähnt, nach des-
sen eindeutigem Wortlaut der Kläger eben nicht nur Berufung eingelegt, son-
dern voranstehend einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt hat. Auch
fehlt jede Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai
2012, in dem der Kläger unter „V.“ Ausführungen zu Zulassungsgründen ge-
macht hat.
Es liegt auf der Hand, dass dem Vortrag des Klägers zum Inhalt des Schriftsat-
zes vom 5. Mai 2012 zentrale Bedeutung für die Entscheidungsfindung über
das eingelegte Rechtsmittel zukommt. Der Umstand, dass die Gründe des Ver-
werfungsbeschlusses keinen Hinweis auf diesen Vortrag enthalten und sich
nicht mit dem Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012, insbesondere nicht mit
dem Wortlaut des Eingangssatzes, befassen, lässt nur den Schluss zu, dass
das Oberverwaltungsgericht den Vortrag des Klägers nicht in die Entschei-
dungsfindung einbezogen und die danach gebotene umfassende Auslegung
des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 unterlassen hat.
Durch die Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses und die Zurückverweisung
der Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO wird das Oberverwaltungsgericht in die La-
ge versetzt, erneut darüber zu entscheiden, ob der Kläger Berufung eingelegt
oder einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt hat. Einer erneuten Ent-
scheidung über die Berufung bedarf es nicht, wenn das Oberverwaltungsgericht
aufgrund einer - allen Umständen Rechnung tragenden - Auslegung des Schrift-
satzes vom 5. Mai 2012 zu dem Ergebnis kommt, der Kläger habe einen Antrag
auf Zulassung der Berufung gestellt. Für diese Auslegung weist der Senat auf
seine Rechtsprechung hin, wonach Erklärungen gegenüber einer Behörde auch
aus Gründen der Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG im Rahmen des methodisch Vertretbaren so auszulegen sind,
dass der Erklärende sein Rechtsschutzziel erreicht (Urteil vom 30. Oktober
2013 - BVerwG 2 C 23.12 - BVerwGE 148, 217 Rn. 15 f., 23). Für die Einlegung
von Rechtsmitteln im Verwaltungsprozess gilt nichts anderes.
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2. Für den Fall, dass das Oberverwaltungsgericht annimmt, der Kläger habe ei-
nen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, weist der Senat für die dann zu
treffende Entscheidung über die Zulassung der Berufung vorsorglich auf
Folgendes hin:
Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist
bei verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung dargelegt, wenn der
Antragsteller einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tat-
sachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in
Frage stellt. Ernstliche Zweifel sind nicht erst dann anzunehmen, wenn bei der
im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Erfolg der
Berufung wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (stRspr; vgl. nur BVerfG,
Kammerbeschlüsse vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 - NVwZ 2000, 1163
<1164> und vom 21. Januar 2009 - 1 BvR 2524/06 - NVwZ 2009, 515 <516>).
In dem Schriftsatz vom 5. Mai 2012 hat der Kläger ernstliche Zweifel an der
Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
daraus hergeleitet, dass das Verwaltungsgericht nicht begründet habe, dass ein
Verbleib des Klägers im Polizeidienst zu einer erheblichen Gefährdung der All-
gemeinheit im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG führen würde. Damit hat er
zwar nicht die generelle Anwendbarkeit dieser gesetzlichen Ausnahme von dem
Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, wohl aber deren Anwendung im vor-
liegenden Fall in Frage gestellt.
In der Tat hat das Verwaltungsgericht für die Annahme einer erheblichen Ge-
fährdung ausschließlich auf eine Beeinträchtigung des Ansehens der Polizei
abgestellt, ohne die erforderliche Gefährdungsprognose vorzunehmen. Bei die-
ser Prognose kommt dem Umstand maßgebendes Gewicht zu, dass der Kläger
seit 1992 ungefähr 20 Jahre lang ohne Beanstandungen als Polizist tätig war.
Darauf ist das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der erheblichen Gefähr-
dung nicht eingegangen. Hinzu kommt, dass die Taten des Klägers bei Eintritt
in den Polizeidienst ungefähr zwölf Jahre zurück lagen und der Kläger im Tat-
zeitraum erst 19 Jahre alt war.
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Weiterhin hat der Kläger seinen Vortrag mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2012
durch einen Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
26. März 1996 - BVerwG 1 C 12.95 - (BVerwGE 101, 24) ergänzt. Daraus hat er
zutreffend hergeleitet, dass der Ausnahmetatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 4
BZRG die Verwertung einer im Bundeszentralregister getilgten oder tilgungsrei-
fen strafrechtlichen Verurteilung ausschließlich für Entscheidungen vorsieht, die
den Zugang zu einer bestimmten Betätigung, im vorliegenden Fall die Einstel-
lung in den öffentlichen Dienst, regeln. Der Ausnahmetatbestand des § 52
Abs. 1 Nr. 4 BZRG schränkt das Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG
aber nicht für Maßnahmen ein, die die betreffenden Betätigungen beenden.
Eine derartige Maßnahme stellt die Rücknahme der Ernennung, d.h. der Ein-
stellung in den öffentlichen Dienst, dar.
Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht die Anwendbarkeit des Ausnahme-
tatbestandes des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG für die Rücknahme der Ernennung
des Klägers zum Polizeibeamten angenommen, ohne die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu berücksichtigen. Im Übrigen ergibt sich die
Fragwürdigkeit der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bereits aus dem
Gesetzeswortlaut des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47
Abs. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Domgörgen Dr. Heitz Dollinger
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