Urteil des BVerwG vom 21.02.2008

Verbotsirrtum, Disziplinarrecht, Strafrecht, Dienstleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 1.08
OVG 80 D 7.06
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Februar 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Groepper
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 11. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO, § 69 BDG, § 41 Berliner Disziplinargesetz - DiszG -) gestützte Be-
schwerde bleibt erfolglos. Der Sache kommt keine grundsätzliche Bedeutung
zu.
Der wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst aus dem Beamtenverhältnis
entfernte Beklagte hält folgende „rechtliche und tatsächliche“ Fragen für klä-
rungsbedürftig:
Handelt es sich bei dem Irrtum des Beklagten, wonach er
glaubte, zur Dienstleistung nicht verpflichtet zu sein, da er
nur zu 50 % dienstfähig sei und ihm der Dienstherr eine
entsprechende Beschäftigung anbieten müsse, um einen
Verbotsirrtum oder um einen Tatbestandsirrtum?
Sind diese dem Strafrecht entlehnten Irrtumstatbestände
auf das Disziplinarrecht überhaupt übertragbar und hin-
sichtlich ihrer Rechtsfolgen dort anwendbar?
Besteht bei irrtümlicher Annahme des Beamten, zum
Dienstantritt wegen Dienstunfähigkeit nicht verpflichtet zu
sein, das ihm disziplinarrechtlich zur Last zu legende
Dienstvergehen in einer ungenehmigten Dienstabwesen-
heit oder darin, dass er die tatsächlich bestehende Ver-
pflichtung zur Dienstausübung vorwerfbar verkannt hat?
Keine dieser Fragen rechtfertigt die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeu-
tung.
Soweit die Fragen auf Umstände des konkreten Einzelfalls des Beklagten ge-
richtet und damit nach dessen eigener Einschätzung tatsächlicher Natur sind,
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scheiden sie als Zulassungsgrund schon deshalb aus, weil die Zulassung we-
gen grundsätzlicher Bedeutung eine klärungsbedürftige allgemeine Rechtsfrage
voraussetzt.
Die erste Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist. Danach liegt ein den Vorsatz ausschlie-
ßender Tatbestandsirrtum vor, wenn sich der objektiv dienstfähige Beamte irr-
tümlich für dienstunfähig hält. In diesem Falle erstreckt sich der Irrtum des Be-
amten auf das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Dienstfähigkeit (vgl.
Urteile vom 9. April 2002 - BVerwG 1 D 17.01 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 25
Rn. 58 f. und vom 11. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 10.05 - Buchholz 232 § 73
BBG Nr. 30 Rn. 34). Kennt der Beamte dagegen seine - gegebenenfalls einge-
schränkte - Dienstfähigkeit oder hält er sie nicht für ausgeschlossen, hält sich
aber gleichwohl aus Rechtsgründen nicht zur Dienstleistung verpflichtet, so be-
findet er sich in einem Rechtsirrtum, der nach den im Strafrecht entwickelten
Grundsätzen des Verbotsirrtums zu behandeln ist und den Vorsatz nicht aus-
schließt. Ein dienstfähiger Beamter, der ungenehmigt keinen Dienst leistet,
handelt hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „Dienstfähigkeit“ mit bedingtem
Vorsatz, wenn er ernsthaft für möglich hält, dienstfähig zu sein, und im Hinblick
darauf billigend in Kauf nimmt, die Dienstleistungspflicht zu verletzen (vgl. Urteil
vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 2.05 - juris Rn. 41).
Auch die zweite Frage ist nicht klärungsbedürftig. Nach ständiger Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts sind im Rahmen der Tat- und Schuld-
feststellung auch ergänzende Feststellungen möglich und in die gebotene Ge-
samtwürdigung einzubeziehen, die - belastend und als sog. Milderungsgrund
entlastend - der Charakterisierung der Handlungsweise und der Persönlichkeit
des Beamten dienen. Das sind z.B. das Tatmotiv und die auf den Tatentschluss
einwirkenden äußeren Umstände, auch die Frage nach einer Bereicherungsab-
sicht, nach einer verminderten Schuldfähigkeit, eines bestimmten Fahrlässig-
keitsgrades, des Grades einer Trunkenheit, der Mitschuld eines außenstehen-
den Dritten, eines verschuldeten Verbotsirrtums (vgl. zu einem Fall der maß-
nahmebeschränkten Berufung nach der Bundesdisziplinarordnung, Urteil vom
5. Juli 2006 - BVerwG 1 D 5.05 - Buchholz 235 § 82 BDO Nr. 7 Rn. 34 m.w.N.).
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Es kann nicht zweifelhaft sein, dass diese dem Strafrecht entnommenen Begrif-
fe im Disziplinarrecht denselben Bedeutungsgehalt besitzen und auch hinsicht-
lich ihrer Rechtsfolgen im materiellen Disziplinarrecht anwendbar sind. Insbe-
sondere ist geklärt, dass der Verbotsirrtum zu berücksichtigen ist. Erkennt der
Beamte zutreffend den von ihm verursachten Geschehensablauf, der objektiv
einen Dienstvergehenstatbestand erfüllt, glaubt er aber gleichwohl, nicht pflicht-
widrig gehandelt zu haben, so beruft er sich auf einen Verbotsirrtum. Ein sol-
cher Rechtsirrtum über das Bestehen, den Umfang oder den Inhalt dienstlicher
Pflichten (vgl. z.B. Urteile vom 25. März 1980 --
<364 f.> und vom 11. Dezember 1991 --
<210 f.>) kann das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit (Unrechtsbe-
wusstsein) entfallen lassen. Wenn dem Beamten nicht widerlegt werden kann,
die Pflichtverletzung unter einem Verbotsirrtum begangen zu haben, schließt
ein solcher Irrtum die Schuld - und damit das Dienstvergehen - nur dann aus,
wenn er unvermeidbar war (vgl.. Die Vermeidbarkeit des
Verbotsirrtums bestimmt sich nach der von dem Beamten nach seiner Amts-
stellung (Status, Dienstposten) und seinen persönlichen Kenntnissen und Fä-
higkeiten (Vorbildung, dienstlicher Werdegang) zu fordernden Sorgfalt unter
Berücksichtigung ihm zugänglicher Informationsmöglichkeiten (vgl. Urteil vom
22. Juni 2006 - BVerwG 2 C 11.05 - ZBR 2006, 385 <387>).
Die dritte Frage führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Die Be-
schwerde zeigt nicht auf, wieso die Klärung dieser Frage in einem Revisions-
verfahren entscheidungserheblich sein könnte. Sie bedarf keiner Klärung, weil
sie sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen würde. Nach den Feststellun-
gen des Berufungsgerichts hat der Beklagte ein Dienstvergehen begangen,
indem er gegen seine Pflicht verstoßen hat, dem Dienst nicht ohne Genehmi-
gung seines Dienstvorgesetzten fernzubleiben (UA S. 20). Das Gebot, über-
haupt zum Dienst zu erscheinen, ist eine leicht einsehbare Grundpflicht eines
jeden (dienstfähigen, sei es auch nur eingeschränkt dienstfähigen) Beamten
(stRspr, z.B. Urteil vom 31. August 1999 - BVerwG 1 D 12.98 - BVerwGE 111, 1
<4> m.w.N.). § 36 Abs. 1 Satz 1 LBG bestimmt daher, dass der Beamte dem
Dienst nicht ohne Genehmigung seines Dienstvorgesetzten fernbleiben darf.
Eine davon unabhängige, also selbständige Dienstpflicht „die bestehende Ver-
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pflichtung zur Dienstausübung nicht vorwerfbar zu verkennen“, besteht
daneben nicht. Es handelt sich vielmehr um die eine Pflicht, zum Dienst zu er-
scheinen, die der Beamte pflichtgemäß zu erkennen und zu befolgen hat. Liegt
bei dem Beamten insoweit ein Erkenntnisproblem vor, ist dieses nach den in
der Disziplinarrechtsprechung geklärten Irrtumsregeln zu lösen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 77 Abs. 4 BDG, § 41
DiszG. Gerichtskosten werden gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 BDG nicht erhoben.
Albers Dr. Müller Groepper
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