Urteil des BVerwG vom 12.10.2010

Notwendige Streitgenossenschaft, Kapitalanleger, Rechtskraft, Bier

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 AV 1.10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Oktober 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt
beschlossen:
Der Antrag wird abgelehnt.
G r ü n d e :
Der auf § 53 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 VwGO gestützte Antrag, ein zuständiges Ge-
richt für einen Rechtsstreit um die Erteilung von Aussagegenehmigungen für
Zivilrechtsstreitigkeiten der Antragsteller zu bestimmen, hat keinen Erfolg.
1. Die Antragsteller wollen durch ihre - mit Anträgen auf Erlass einer einstweili-
gen Anordnung verbundenen - Klagen erreichen, die Antragsgegnerin zur Ertei-
lung von Aussagegenehmigungen zu verpflichten. Eine von den Antragstellern
als Zeugin benannte Beamtin soll in bei verschiedenen Kammern des Landge-
richts München I rechtshängigen Zivilrechtsstreitigkeiten aussagen, in denen
die Antragsteller jeweils Schadensersatzansprüche gegen eine Bank wegen der
Verletzung von Pflichten nach dem Wertpapierhandelsgesetz geltend machen.
Die Antragsgegnerin hat die Aussagegenehmigung im Zivilrechtsstreit der An-
tragstellerin zu 1 verweigert. Daraufhin hat ihr das Landgericht mit Beschluss
vom 29. April 2010 Frist bis zum 31. Dezember 2010 gesetzt, die Aussagege-
nehmigung für die Zeugin herbeizuführen. Schriftliche Aufforderungen einiger
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Antragsteller, die Aussagegenehmigungen zu erteilen, sind ergebnislos geblie-
ben. Das angerufene Verwaltungsgericht hat angekündigt, die Verfahren der
Mehrzahl der Antragsteller abzutrennen und an die nach seiner Auffassung ört-
lich zuständigen Verwaltungsgerichte zu verweisen.
Die Antragsteller machen geltend, über die Aussagegenehmigung könne wegen
des identischen Sachverhaltes nur einheitlich entschieden werden. Die An-
tragsteller seien notwendige Streitgenossen. Die vor dem Landgericht anhängi-
gen Verfahren sollten künftig nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz
verbunden werden. Die Verweisung der verwaltungsgerichtlichen Verfahren
widerspreche dem Gesetzeszweck des Kapitalanleger-Musterverfahrensge-
setzes.
2. § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO sieht eine Zuständigkeitsbestimmung für den Fall
vor, dass nach § 52 VwGO mehrere Gerichte in Betracht kommen. Dies ist nicht
der Fall, wenn bloß rechtliche Zweifel über die Zuständigkeit vorliegen, die
durch Auslegung der Zuständigkeitsregelungen beseitigt werden können (Be-
schluss vom 19. Juli 1979 - BVerwG 6 ER 400.79 - BVerwGE 58, 225 <228>
= Buchholz 448.0 § 32 WPflG Nr. 24 S. 21). § 53 VwGO durchbricht nicht die
Regelung über den gesetzlichen Richter, sondern ergänzt sie lediglich für den
Fall, dass das Prozessrecht selbst keine oder keine widerspruchsfreie Zuwei-
sung enthält. Zweck der Norm ist es nicht, dem Bundesverwaltungsgericht die
Entscheidung über Zweifelsfragen, die sich aus der Auslegung des § 52 VwGO
ergeben, gleichsam in der Art einer Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. Be-
schluss vom 4. Juni 2007 - BVerwG 2 AV 1.07 - juris Rn. 2). Aus diesem Grund
ist der Anwendungsbereich der Norm nicht eröffnet, soweit zwischen den An-
tragstellern und dem Gericht streitig ist, ob sich der Gerichtsstand - wie das
Verwaltungsgericht ausweislich seines rechtlichen Hinweises vom 18. August
2010 meint - nach § 52 Nr. 4 VwGO richtet oder - wie die Kläger meinen - nach
§ 1 Abs. 3 Satz 1 FinDAG in Verbindung mit § 52 Nr. 5 VwGO.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass für die in einer Klage- und
Antragsschrift verbundenen Rechtsbehelfe unterschiedliche Gerichtsstände
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begründet sind, wenn § 52 Nr. 4 VwGO entsprechend der Rechtsauffassung
des Verwaltungsgerichts Anwendung findet.
Hinsichtlich paralleler Rechtsstreitigkeiten, für die nach der Verwaltungsge-
richtsordnung eine unterschiedliche örtliche Zuständigkeit begründet ist, ist kein
Raum für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 53 VwGO durch das Bun-
desverwaltungsgericht, auch wenn die Zuständigkeit eines Gerichts prozess-
ökonomisch wäre (Beschluss vom 5. Juli 2002 - BVerwG 7 AV 2.02 - Buchholz
310 § 53 VwGO Nr. 28). Ein Erfordernis für eine Entscheidung nach § 53
VwGO kann sich zwar dann ergeben, wenn eine mehrfache Zuständigkeit im
Hinblick auf eine notwendige Streitgenossenschaft zumindest nicht fernliegt
(Beschluss vom 22. November 1999 - BVerwG 11 AV 2.99 - Buchholz 310 § 53
VwGO Nr. 27). Eine notwendige Streitgenossenschaft besteht aber hinsichtlich
des Anspruches auf Erteilung einer Aussagegenehmigung nicht.
Dass die Antragsteller entsprechend § 64 VwGO in Verbindung mit § 62 Abs. 1
2. Alt. ZPO nur gemeinsam prozessführungs- oder sachbefugt sind, machen sie
nicht geltend. Es liegt auch kein Fall einer notwendigen Streitgenossenschaft
wegen einer notwendig einheitlichen Sachentscheidung im Sinne von § 64
VwGO in Verbindung mit § 62 Abs. 1 1. Alt ZPO vor. Dass den Klagen „ein
inhaltlich identischer, austauschbarer Sachverhalt zugrunde liegt“ - wie die An-
tragsteller geltend machen - ist für die Begründung einer notwendigen Streitge-
nossenschaft nicht ausreichend. Die Identität des Streitgegenstandes ist zwar
Voraussetzung für das Vorliegen einer notwendigen Streitgenossenschaft, be-
gründet sie aber allein noch nicht; entscheidend ist vielmehr, dass die in einem
Verfahren ergehende Entscheidung eine Rechtskraft- oder Gestaltungswirkung
in anderen Verfahren hervorruft (Bier in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzer,
VwGO, § 64 Rn. 13). Diese Rechtsgemeinschaft muss sich auf den Gegen-
stand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - hier den Anspruch auf Ertei-
lung einer Aussagegenehmigung - beziehen. Sie wird nicht schon dadurch be-
gründet, dass alle angestrebten Aussagegenehmigungen Auswirkungen auf
den Erfolg paralleler zivilgerichtlicher Verfahren haben. Dass nach dem Vortrag
der Kläger zukünftig die parallelen Zivilrechtsstreitigkeiten dadurch zusammen-
geführt werden sollen, dass ein Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-
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Musterverfahrensgesetz durchgeführt wird, führt nicht dazu, dass gegenwärtig
eine Rechtskraft- oder Gestaltungswirkung eines verwaltungsgerichtlichen Ver-
fahrens für die anderen verwaltungsgerichtlichen Verfahren besteht. § 16 des
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes regelt Wirkungen des Musterent-
scheides für die Prozessgerichte, deren Entscheidung von der im Musterverfah-
ren getroffenen Feststellung oder der im Musterverfahren zu klärenden Rechts-
frage abhängt, und für die ausgesetzten zivilrechtlichen Verfahren der im Mus-
terverfahren Beigeladenen, nicht die Auswirkungen eines zivilgerichtlichen Ver-
fahrens auf vorgelagerte verwaltungsgerichtliche Verfahren. Der Beschleuni-
gungs- und Konzentrationszweck eines Kapitalanleger-Musterverfahrens wird
dadurch erreicht, dass gleichgelagerte Fragen in Parallelverfahren vor erstin-
stanzlichen Zivilgerichten einheitlich durch ein Oberlandesgericht vorab geklärt
werden. Die Erreichung dieses Ziels wird nicht dadurch unterlaufen, dass ande-
ren Gerichtsbarkeiten zugewiesene vorgelagerte Streitigkeiten nach den dort
geltenden Prozessordnungen von unterschiedlichen Gerichten entschieden
werden.
Herbert Dr. Heitz Dr. Eppelt