Urteil des BVerwG vom 16.02.2010

Russische Föderation, Kriegsverbrechen, Statut, Bewaffneter Konflikt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 7.09
OVG 2 L 26/06
Verkündet
am 16. Februar 2010
Röder
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Februar 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter,
Prof. Dr. Kraft und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sach-
sen-Anhalt vom 28. November 2008 wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zur ander-
weitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger,
erstrebt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Der im September 1978 geborene Kläger reiste nach eigenen Angaben mit sei-
nem Bruder im Jahr 2002 auf dem Landweg nach Deutschland ein und bean-
tragte Asyl. Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (damals: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge)
- Bundesamt - am 4. November 2002 gab er an, er habe im Mai 2002 ge-
meinsam mit einem Freund in Tschetschenien zwei Personen erschossen und
einen russischen Offizier festgenommen, um seinen bei einer Säuberungsakti-
on festgenommenen Bruder durch einen Austausch frei zu bekommen. Er sei
zur Rettung seines Bruders zum Mörder geworden. Danach seien der Kläger,
der freigepresste Bruder und der Freund geflohen und mit Hilfe eines Schlep-
pers nach Deutschland gebracht worden. Er werde nun überall in Russland ge-
sucht.
Mit Bescheid vom 25. April 2003 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab,
stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Ab-
schiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, und drohte dem Kläger die
Abschiebung in die Russische Föderation an. Zur Begründung führte es unter
anderem aus, der Kläger habe das von ihm vorgetragene Verfolgungsschicksal
nicht glaubhaft gemacht.
Mit Urteil vom 15. Juni 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflich-
tet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hin-
sichtlich einer Abschiebung in die Russische Föderation festzustellen und den
Bescheid des Bundesamtes aufgehoben, soweit er dem Verpflichtungsaus-
spruch entgegensteht. Hinsichtlich des Asylbegehrens wies es die Klage ab.
Gegen das Urteil hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten - Bun-
desbeauftragter - Berufung eingelegt.
In der öffentlichen Sitzung vor dem Oberverwaltungsgericht am 28. November
2008 hat der Kläger persönlich den Vorgang der Tötung von zwei russischen
Soldaten und das anschließende Freipressen des Bruders im Einzelnen ge-
schildert (Sitzungsprotokoll S. 2 ff. - Prozessakte Bl. 91 ff.). Danach sei sein
einziger Bruder im Frühjahr 2002 von den Russen bei einer Säuberungsaktion
festgenommen worden. Er habe einen tschetschenischen Milizionär gefragt, der
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für die Russen gearbeitet habe, wie er seinen Bruder befreien könne. Der
Milizionär habe gesagt, die effektivste Methode sei, einen russischen Offizier zu
„fangen“ und auszutauschen. Er, der Kläger, habe sich dann bei Widerstands-
kämpfern erkundigt, wie man so etwas bewerkstelligen könne. Ein Wider-
standskämpfer und er hätten sich dann auf Märkten nach den Möglichkeiten
umgesehen, einen Offizier zu „fangen“. Auf einem Markt in W. habe sich dann
eine Gelegenheit geboten. Der Widerstandskämpfer und er hätten zu dem
Zeitpunkt eine Waffe des Typs AKM-45 getragen, das sei eine moderne Form
der Kalaschnikow. Diese Waffe könne man ganz leicht unter der Jacke verste-
cken. Auf dem Markt habe man mit versteckten Waffen herumlaufen können.
Es sei ein russisches Militärfahrzeug gekommen, aus dem drei Russen ausge-
stiegen seien, ein Offizier und zwei Soldaten. Sie hätten auf dem Markt einkau-
fen wollen. Die Soldaten hätten dem Kläger und seinem Begleiter den Rücken
zugewandt, als der Begleiter aus einer Entfernung von ca. 5 bis 6 Metern das
Feuer eröffnete. Nach dem Widerstandskämpfer habe auch er, der Kläger, ge-
schossen und einen der Soldaten getroffen. Die russischen Soldaten hätten das
Feuer erwidert. Sie, der Kläger und sein Begleiter, hätten nicht gewusst, ob die
Russen tot seien oder nur verletzt. Er habe keine Tötungsabsicht gehabt, aber
die russischen Soldaten außer Gefecht setzen müssen, um seinen Bruder zu
befreien. Der russische Offizier habe auch eine Waffe dabei gehabt, sie aber
nicht gezogen. Vielmehr sei er wie erstarrt gewesen und habe kaum Wi-
derstand geleistet. Er, der Kläger, und der ihn begleitende Widerstandskämpfer
hätten den Offizier dann in den Wald gefahren und ihn dort den Widerstands-
kämpfern übergeben. Im Juni 2002 habe der Austausch des Offiziers gegen
seinen Bruder stattgefunden. Er, der Kläger, sei zu der Stelle mit etwa 10 Wi-
derstandskämpfern und dem russischen Offizier gefahren. Der Austausch sei
von den Russen gefilmt worden. Nach der Aktion hätten er und sein Bruder sich
versteckt, denn es sei ihnen klar gewesen, dass die Russen nach ihnen suchen
würden.
Das Oberverwaltungsgericht hat durch Urteil vom 28. November 2008 die Beru-
fung des Bundesbeauftragten zurückgewiesen und seine Entscheidung im We-
sentlichen wie folgt begründet: Der Kläger habe die Russische Föderation vor-
verfolgt verlassen. Ihm habe zum Zeitpunkt seiner Ausreise (Straf-)Verfolgung
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wegen der Tötung von zwei russischen Soldaten, der Entführung eines russi-
schen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft mit
Hilfe tschetschenischer Widerstandskämpfer während des zweiten Tsche-
tschenienkrieges gedroht (UA S. 11). Diese Strafverfolgung habe - jedenfalls
auch - politischen Charakter gehabt. Sein Verhalten habe sich aus Sicht der
russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-sepa-
ratistische Sache dargestellt. Es lägen auch keine stichhaltigen Gründe vor, die
eine Verfolgung im Falle seiner heutigen Rückkehr nach Tschetschenien aus-
schlössen. Zwar habe sich die Situation in Tschetschenien mittlerweile verbes-
sert. Der Kläger gehöre aber zu einer besonders gefährdeten Personengruppe,
weil er von Seiten der Sicherheitskräfte mit Mitgliedern der Rebellenorganisati-
on in Zusammenhang gebracht werde. Bei dieser Personengruppe bleibe es bei
der in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Vermutungsregel,
dass sie bei Rückkehr mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen zu rechnen hätte.
Dem Kläger stehe auch im übrigen Gebiet der Russischen Föderation keine
inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Vielmehr könne erwartet werden,
dass er aufgrund der Beteiligung an der Aktion zur Befreiung seines Bruders
und der deshalb bestehenden landesweiten Fahndung auch in anderen Gebie-
ten der Russischen Föderation Verfolgungsmaßnahmen der Staatsgewalt aus-
gesetzt wäre.
Das Berufungsgericht lehnt einen Ausschluss des Klägers von der Flüchtlings-
eigenschaft nach § 3 Abs. 2 AsylVfG ab. Seine Beteiligung an der Tötung der
Soldaten stelle kein die Anerkennung ausschließenden Kriegsverbrechen dar,
weil sich die Tat gegen Soldaten und nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet
habe. Auch der Ausschlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat gemäß
Satz 1 Nr. 2 der Vorschrift liege nicht vor. Mit „klassischen terroristischen Akten“
wie Bombenattentaten gegenüber Zivilpersonen, aber auch staatlichen Hoheits-
trägern, insbesondere wenn hierdurch Unbeteiligte einbezogen würden, sowie
Geiselnahmen mit Flugzeugentführungen sei die Tötung der beiden russischen
Soldaten, an denen der Kläger beteiligt war, nicht vergleichbar (UA S. 29).
Mit ihren vom Senat zugelassenen Revisionen rügen das Bundesamt und der
Bundesbeauftragte die fehlerhafte Handhabung der Ausschlussgründe. Das
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Bundesamt wendet sich gegen die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsge-
richts, Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG könnten
nur gegenüber Zivilpersonen begangen werden. Es bezieht sich auf Art. 8 des
Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof, wonach nicht nur
Angriffe auf die Zivilbevölkerung ein Kriegsverbrechen darstellen können, son-
dern auch bestimmte Maßnahmen, die sich gegen Kombattanten richten. Hier-
zu zähle die Anwendung verbotener Methoden der Kriegsführung, z.B. in
Gestalt der Heimtücke. Auch der Ausschlusstatbestand der schweren nichtpoli-
tischen Straftat im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG sei nicht auf
Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung beschränkt. Die Schwere der Tat
liege hier auf der Hand. Da der Grund für das Handeln des Klägers die Befrei-
ung seines Bruders gewesen sei, habe er die Taten aus persönlichen Gründen
durchgeführt. Mithin handele es sich um „nichtpolitische Straftaten“.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Zwar finde sich in Art. 8 des Rö-
mischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof eine umfassende Defi-
nition des Begriffs „Kriegsverbrechen“. Die dort aufgezählten kriminellen Hand-
lungen träfen jedoch auf den Kläger nicht zu. Insbesondere komme hier keine
vorsätzliche Tötung in Betracht, weil der Kläger eine vorsätzliche Tatbegehung
glaubhaft bestreite. Das Verhalten des Klägers erfülle auch nicht den Tatbe-
stand einer schweren nichtpolitischen Straftat. Er habe mit seiner Tat keine po-
litischen oder gar terroristischen Zwecke verfolgt, sich auch nicht mit den Zielen
der tschetschenischen Widerstandskämpfer identifiziert. Sein Handeln habe
vielmehr Einzelfallcharakter gehabt und ausschließlich dem Zweck gedient,
seinen Bruder aus der russischen Gefangenschaft zu befreien. Schließlich set-
ze der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass von dem Aus-
länder weiterhin eine Gefahr ausgehe, was nicht der Fall sei. Aber selbst wenn
hier vom Vorliegen eines Ausschlusstatbestandes für die Flüchtlingseigenschaft
auszugehen sei, stünde dem Kläger ein Anspruch auf Asyl nach dem deut-
schen Verfassungsrecht zu.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich
an dem Verfahren beteiligt. Nach dessen Auffassung hat der Kläger den Aus-
schlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG durch Begehung eines
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Kriegsverbrechens erfüllt. Das Kriegsverbrechen liege in einer meuchlerischen
Tötung der zwei Soldaten und in der Geiselnahme des Offiziers.
II
Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten für Asylangelegen-
heiten - Bundesbeauftragter - haben Erfolg. Das Berufungsgericht hat den An-
spruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Verstoß
gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) bejaht. Zwar ist seine Wür-
digung, bei dem aus individuellen Gründen als vorverfolgt anzusehenden Kläger
sprächen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass er bei Rückkehr nach
Tschetschenien nicht erneut von solcher Verfolgung bedroht werde und auch
keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Fö-
deration bestehe, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden (1.). Das Beru-
fungsgericht hat aber das Vorliegen der Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AsylVfG (2.) und des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG (3.) mit einer
Begründung verneint, die einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhält. Da
der Senat über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mangels hinrei-
chender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend
selbst entscheiden kann, ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück-
zuverweisen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren des Klägers auf Zuer-
kennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1
AufenthG, hilfsweise - für den Fall der Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft -
auf Feststellung eines gemeinschaftsrechtlichen Abschiebungsverbots nach
§ 60 Abs. 2 ff. AufenthG, weiter hilfsweise eines nationalen Abschiebungsver-
bots nach vorgenannten Vorschriften. Hingegen ist über die Anerkennung als
Asylberechtigter nach Art. 16a GG nicht mehr zu befinden, denn insoweit hat
das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Juni 2005 das Asylbegehren des
Klägers rechtskräftig abgewiesen.
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in
der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798)
sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekannt-
machung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162). Die in diesen Bekanntma-
chungen berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am
28. August 2007 in Kraft getreten sind, hat das Oberverwaltungsgericht gemäß
§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG zu Recht der am 28. November 2008 er-
gangenen Berufungsentscheidung zugrunde gelegt.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkom-
mens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörig-
keit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60
Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer
nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Frei-
heit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung
bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind
Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April
2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu
gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie -
ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
Die Begründung, auf die das Berufungsgericht seine Prognose einer dem Klä-
ger drohenden Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG stützt,
hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung stand.
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a) Nach den von der Beklagten und dem Bundesbeauftragten nicht mit Verfah-
rensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts,
an die der Senat gebunden ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), drohte dem Kläger im
Zeitpunkt seiner Ausreise Verfolgung wegen der Tötung von zwei russischen
Soldaten, der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung sei-
nes Bruders während des zweiten Tschetschenienkrieges.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die dem Kläger drohende Strafver-
folgung über die Ahndung kriminellen Unrechts hinausgegangen wäre. Bei
Strafprozessen gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus - vor al-
lem Tschetschenen - seien in zahlreichen Fällen hohe Haftstrafen aufgrund von
unter Folter erlangten Geständnissen verhängt worden. Dem Kläger habe un-
verhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung gedroht, weil er auf-
grund der durchgeführten Aktion für die russischen Sicherheitskräfte im Ver-
dacht gestanden habe, die politischen Ansichten des tschetschenischen Wider-
stands zu teilen und mit Waffengewalt zu unterstützen. Damit hat das Beru-
fungsgericht den Tatbestand einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9
Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG festgestellt. Die Verfolgung ging
dabei von russischen Sicherheitskräften und somit unmittelbar vom Staat aus
(§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a AufenthG i.V.m. Art. 6 Buchst. a der Richtlinie).
b) § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt des Weiteren voraus, dass die geschütz-
ten Rechtsgüter wegen der Rasse des Ausländers, seiner Religion, seiner
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind. Auch gemeinschafts-
rechtlich ist eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann
relevant, wenn sie an einen der in Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG genannten
Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie). Bei der Prüfung der
Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von
seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie).
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts knüpfte die dem Kläger dro-
hende individuelle Verfolgung an seine tschetschenische Volkszugehörigkeit in
Verbindung mit der „mit Hilfe tschetschenischer Widerstandskämpfer“ durchge-
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führten „Freipressung seines Bruders aus russischer Haft“ an, was sich aus
Sicht der russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-
separatistische Sache dargestellt habe. Darin liegt eine Kombination der Ver-
folgungsgründe der Nationalität und der - zumindest zugeschriebenen - politi-
schen Überzeugung.
c) Die vom Berufungsgericht für den Kläger gestellte Verfolgungsprognose ist
als in erster Linie tatrichterliche Würdigung revisionsgerichtlich nicht zu bean-
standen.
Dem Kläger, der bei Verlassen seines Herkunftslandes unmittelbar von Verfol-
gung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtli-
nie 2004/83/EG zugute. Nach dieser Bestimmung ist die Tatsache, dass ein
Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar
bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung
begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er er-
neut von solcher Verfolgung bedroht wird.
Zur Überzeugung des Berufungsgerichts sprechen keine stichhaltigen Gründe
dagegen, dass der Kläger bei Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere
Regionen der Russischen Föderation erneut von staatlicher Verfolgung durch
die russischen Sicherheitskräfte bedroht wird. Dieser Prognose liegt die An-
nahme des Oberverwaltungsgerichts zugrunde, dass der Kläger auch weiterhin
einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt sei und nach ihm landesweit gefahndet
werde. Gegen diese Prognose ist revisionsgerichtlich nichts zu erinnern.
d) Das Berufungsgericht hat ferner angenommen, dass dem Kläger keine Mög-
lichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation
offen steht. Auch diese Würdigung begegnet keinen Bedenken.
2. Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG nicht Flüchtling,
wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertrags-
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werke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser
Verbrechen zu treffen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG). Dies gilt auch für Aus-
länder, die andere zu derartigen Straftaten angestiftet oder sich in sonstiger
Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG).
Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht, weil es davon ausgeht, dass die
Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG nur dann erfüllt sind,
wenn sich eines der in der Vorschrift genannten Verbrechen gegen die Zivilbe-
völkerung richtet. Dies trifft jedenfalls für ein hier allein in Betracht kommendes
Kriegsverbrechen nicht zu. Der Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 AsylVfG kann auch dann erfüllt sein, wenn ein Soldat Opfer eines Kriegs-
verbrechens ist.
§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG verweist zur Definition der Tatbestandsmerk-
male Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit auf „internationale Vertragswerke, die ausgearbeitet wurden,
um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen“. Wie der Senat be-
reits in seinem Urteil vom 24. November 2009 - BVerwG 10 C 24.08 - (zur Ver-
öffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 31)
ausgeführt hat, bestimmt sich die Frage, ob Kriegsverbrechen oder Verbrechen
gegen die Menschlichkeit im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG vorlie-
gen, gegenwärtig in erster Linie nach den im Römischen Statut des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (BGBl 2000 II S. 1394, nachfolgend:
IStGH-Statut) ausgeformten Tatbeständen dieser Delikte. Denn darin manifes-
tiert sich der aktuelle Stand der völkerstrafrechtlichen Entwicklung bei Verstö-
ßen gegen das Humanitäre Völkerrecht.
In Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut werden Kriegsverbrechen differenzierend zwi-
schen Taten in internationalen (Buchst. a und b) und innerstaatlichen (Buchst. c
bis f) bewaffneten Konflikten definiert. Für den innerstaatlichen bewaffneten
Konflikt knüpft Buchst. c an schwere Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3
der vier Genfer Konventionen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte
vom 12. August 1949 an. Er stellt u.a. Angriffe auf Leib und Leben sowie die
Geiselnahme von Personen unter Strafe, die nicht unmittelbar an den Feindse-
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ligkeiten teilnehmen, einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte, welche die
Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung,
Gefangennahme oder eine andere Ursache außer Gefecht befindlich sind. Die
Vorschrift wertet danach auch Handlungen als Kriegsverbrechen, die gegen
Soldaten gerichtet sind. Buchst. e erfasst andere schwere Verstöße gegen die
innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze
und Gebräuche im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. So erstreckt sich
Buchst. e Nr. IX - XI auf den Schutz gegnerischer Kombattanten im Falle
meuchlerischer Tötung oder Verwundung, der Erklärung, dass kein Pardon ge-
geben wird sowie der körperlichen Verstümmelung von Personen, die sich in
der Gewalt einer anderen Konfliktpartei befinden.
Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob die Voraussetzungen der in
Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut geregelten Tatbestände erfüllt sind, bei denen sich
ein Kriegsverbrechen auch gegen einen Soldaten richten kann. Mangels aus-
reichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht abschließend
selbst entscheiden, ob dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung
zusteht. Deshalb ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur er-
neuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuver-
weisen. Dabei wird das Berufungsgericht folgende Gesichtspunkte zu beachten
haben:
a) Im vorliegenden Fall liegt es nahe, von einem innerstaatlichen bewaffneten
Konflikt auszugehen. Art. 8 Abs. 2 Buchst. d und f IStGH-Statut grenzen inner-
staatliche bewaffnete Konflikte ab gegenüber Fällen innerer Unruhen und
Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder anderen
ähnlichen Handlungen. Buchst. f setzt zudem voraus, dass zwischen staatli-
chen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen
Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht. Diese Regelungen
markieren die untere völkerrechtliche Relevanzschwelle für einen innerstaatli-
chen bewaffneten Konflikt. Verlangt wird ein gewisses Maß an Intensität und
Dauerhaftigkeit des Konflikts, um den Eingriff in die Souveränität des betroffe-
nen Staates zu rechtfertigen (vgl. Urteil vom 24. November 2009 a.a.O. Rn. 33
m.w.N.). Das Berufungsgericht hat nicht ausdrücklich festgestellt, dass der
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zweite Tschetschenienkrieg die Merkmale eines innerstaatlichen bewaffneten
Konflikts erfüllt. Es spricht in dem angefochtenen Urteil von „Kriegsgeschehen“,
allerdings ohne diesen Tatsachenbegriff unter die völkerrechtlichen Kriterien
des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu subsumieren.
Die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt aber, jedenfalls
für den hier maßgeblichen Zeitraum, nahe und wurde von den Beteiligten in der
mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat geteilt.
b) Der Umstand, dass der Kläger als Zivilperson anzusehen sein dürfte, schließt
nicht aus, dass er Täter eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 IStGH-
Statut sein kann. Zwar hat das Berufungsgericht ausgeführt, der Kläger habe
„im Rahmen des zweiten Tschetschenienkrieges an der Seite der Tsche-
tschenen gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft, indem er an der
Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus
russischer Haft maßgeblich beteiligt war“ (UA S. 9). Dies bedeutet bei verstän-
diger Würdigung aber nur, dass der Kläger gemeinsam mit tschetschenischen
Widerstandskämpfern die Aktion zur Freipressung seines Bruders durchgeführt
hat. Hingegen ist den genannten Ausführungen des Berufungsgerichts nicht zu
entnehmen, dass damit - entgegen den Angaben des Klägers - seine Eigen-
schaft als Kämpfer festgestellt werden sollte. Dies würde im Übrigen seine Zu-
gehörigkeit zum administrativen Apparat einer Konfliktpartei und die Wahrneh-
mung einer „continuous combat function“ für diese voraussetzen (vgl. Internati-
onal Committee of the Red Cross, Interpretive Guidance on the Notion of Direct
Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, Genf 2009,
S. 27, 33, 35 - http
le/direct-participation-guidance-2009-icrc.pdf
Februar 2010>). Dafür bestehen keine Anhaltspunkte.
Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut definiert nur, welche Handlungen Kriegsverbrechen
darstellen und wer geeignetes Opfer sein kann, grenzt jedoch den Täterkreis
selbst nicht ein. Nach der Rechtsprechung internationaler Strafgerichtshöfe und
nach der völkerstrafrechtlichen Literatur kann grundsätzlich auch eine Zivilper-
son Täter eines Kriegsverbrechens sein, nicht nur ein Kämpfer der sich ge-
genüberstehenden Konfliktparteien. Es muss aber ein funktionaler Zusammen-
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hang mit dem bewaffneten Konflikt bestehen („sufficient nexus“ - vgl. Werle,
Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 971 ff.; Ambos, in: Münchener Kommentar
zum Strafgesetzbuch, Band 6/2, 2009, vor §§ 8 ff. VStGB Rn. 37 sowie Zim-
mermann/Geiß, a.a.O. § 8 VStGB Rn. 111 ff.; Ruanda-Strafgerichtshof ICTR,
Urteil vom 26. Mai 2003, Procecutor v. Rutaganda ,
ICTR-96-3-A, Rn. 569 f. -
Jugoslawien-Strafgerichtshof ICTY, Urteil vom
25. Juni 1999, Aleksovski , Nr. IT-95-14/1-T, Rn. 45 -
ar 2010>).
Der funktionale Zusammenhang erfordert eine Verbindung zwischen der Tat
und dem bewaffneten Konflikt, nicht zwischen dem Täter und einer der Kon-
fliktparteien. Eine Verbindung des Täters zu einer der Konfliktparteien ist zwar
ein Indiz für den funktionalen Zusammenhang zwischen Tat und Konflikt, aber
keine zwingende Voraussetzung. Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts
muss für die Fähigkeit des Täters, das Verbrechen zu begehen, für seine Ent-
scheidung zur Tatbegehung, für die Art und Weise der Begehung oder für den
Zweck der Tat von wesentlicher Bedeutung sein (vgl. Werle, a.a.O. Rn. 972
m.w.N.). Für einen funktionalen Zusammenhang spricht es, wenn bestimmte
Taten unter Ausnutzung der durch den bewaffneten Konflikt geschaffenen Si-
tuation begangen werden. Dies gilt aber nicht für Taten, die nur bei Gelegenheit
des gleichzeitigen bewaffneten Konflikts und unabhängig von diesem begangen
werden. Zu prüfen ist insoweit, ob die Tat in Friedenszeiten ebenso hätte be-
gangen werden können oder ob die Situation des bewaffneten Konflikts die
Tatbegehung erleichtert und die Opfersituation verschlechtert hat. Die persönli-
che Motivation des Täters ist unerheblich: Auch wer z.B. als Wachsoldat einen
Kriegsgefangenen aus Eifersucht tötet, nutzt die besondere Situation des be-
waffneten Konflikts aus und begeht deshalb ein Kriegsverbrechen (so Ambos,
a.a.O. Rn. 35 m.w.N.; vgl. hierzu auch Zimmermann/Geiß, a.a.O. Rn. 111 - 118;
Cottier, in: Triffterer, Commentary on the Rome Statute of the International Cri-
minal Court, 2. Aufl. 2008, Art. 8, S. 293 Rn. 6).
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Im vorliegenden Fall spricht nach dem eigenen Vorbringen des Klägers viel da-
Dem funktionalen Zusammenhang steht auch nicht entgegen, dass die Aktion
abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen auf einem Markt durchgeführt wur-
de. Denn die Aktion richtete sich bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffne-
ten Konflikts gegen eine der Konfliktparteien. Sie wurde mit Hilfe der gegneri-
schen Konfliktpartei realisiert. Auslöser der Tat war die Gefangennahme des
Bruders des Klägers durch die russischen Streitkräfte im Rahmen des bewaff-
neten Konflikts. Damit sprechen mehrere Gesichtspunkte dafür, dass hier ein
hinreichender Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt vorliegt. Die per-
sönliche Motivation des Klägers, seinen Bruder aus russischer Haft zu befreien,
steht dem nicht entgegen, da die spezifische Gefährdungssituation des bewaff-
neten Konflikts die Tat erst ermöglicht hat. Die Beteiligung des Klägers an der
Tötung der russischen Soldaten wäre danach grundsätzlich geeignet, ein
Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut darzustellen. Die
abschließende Gesamtwürdigung dieser Frage obliegt aber dem Tatrichter; sie
wird vom Berufungsgericht vorzunehmen sein.
c) Die beiden getöteten russischen Soldaten und der gefangen genommene
russische Offizier kommen als Opfer eines Kriegsverbrechens nach Art. 8
Abs. 2 IStGH-Statut in Betracht.
aa) Entgegen der vom Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwal-
tungsgericht geäußerten Auffassung liegt allerdings die Annahme eines Kriegs-
verbrechens durch Geiselnahme des russischen Offiziers nach Art. 8 Abs. 2
Buchst. c Nr. III IStGH-Statut eher fern. Danach kann die Geiselnahme von Zi-
vilpersonen sowie solchen Angehörigen der Streitkräfte ein Kriegsverbrechen
darstellen, die die Waffen gestreckt haben oder außer Gefecht befindlich sind.
Legt man das Vorbringen des Klägers zugrunde, der im vorliegenden Verfahren
bisher einzigen Quelle für den Ablauf der Gefangennahme des russischen Offi-
ziers, so wurde dieser nicht zu einem Zeitpunkt als Geisel für die Freipressung
des Bruders des Klägers genommen, als er sich ergeben und die Waffen ge-
streckt hatte. Vielmehr wurde der Angriff auf ihn mit dem Ziel seiner Geisel-
nahme bereits zu einem Zeitpunkt durchgeführt, als er noch bewaffnet war und
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- 16 -
die beiden ihn begleitenden russischen Soldaten den Angriff mit Waffengewalt
erwiderten. Eine Person streckt die Waffen nur dann, wenn sie aufhört zu
kämpfen und die Absicht signalisiert, die Kampfhandlungen einzustellen, insbe-
sondere durch Aufgabe der Kontrolle über ihre Waffen (vgl. Werle, a.a.O.
Rn. 1006). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Offizier vor der Gefan-
gennahme seine Waffe abgelegt oder ausdrücklich oder konkludent erklärt hat,
sich zu ergeben. Aus dem Umstand, dass er nach den Angaben des Klägers
„wie erstarrt“ war und „kaum Widerstand geleistet“ hat, dürfte dies jedenfalls
nicht zu entnehmen sein. Vielmehr dürfte er zum Zeitpunkt seiner Geiselnahme
noch Kombattant gewesen sein. Ebenso dürfte eine vorsätzliche Tötung der
beiden Soldaten im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. c Nr. I IStGH-Statut fernlie-
gen, da nicht ersichtlich ist, dass sie die Waffen gestreckt hatten bzw. außer
Gefecht waren.
bb) Näherer Prüfung durch das Berufungsgericht bedarf der Tatbestand der
meuchlerischen Tötung der beiden russischen Soldaten nach Art. 8 Abs. 2
Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut.
Die meuchlerische Tötung und Verwundung feindlicher Kombattanten (sog.
Perfidieverbot) wird seit der Verabschiedung von Art. 23 Buchst. b der Haager
Landkriegsordnung von 1907 (RGBl 1910, 132) als Kriegsverbrechen angese-
hen (vgl. BTDrucks 14/8524, S. 34 f.). Während dieses Kriegsverbrechen im in-
ternationalen bewaffneten Konflikt auch gegenüber Zivilpersonen begangen
werden kann (vgl. Art. 8 Abs. 2 Buchst. b Nr. XI IStGH-Statut), sind taugliche
Opfer im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt nur Kämpfer der gegneri-
schen Partei (Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut, vgl. auch Werle,
a.a.O. Rn. 1184). Diese Voraussetzung liegt hier vor: Die beiden Personen, an
deren Tötung der Kläger beteiligt war, waren russische Soldaten. Im Einzelfall
sind verbotene Perfidie und erlaubte Kriegslist schwer voneinander abzugren-
zen (vgl. Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 8. Abschn. Rn. 71;
Cottier, a.a.O. S. 385 Rn. 117).
Zur näheren Bestimmung der Voraussetzungen der „meuchlerischen Tötung“
kann auf das Verbot der Heimtücke im internationalen bewaffneten Konflikt
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nach Art. 37 Abs. 1 des am 8. Juni 1977 unterzeichneten Zusatzprotokolls I zu
den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer inter-
nationaler bewaffneter Konflikte (Zusatzprotokoll I - BGBl 1990 II S. 1551) zu-
rückgegriffen werden, das auch für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt
gilt. Diese Bestimmung lautet:
„Art. 37 Verbot der Heimtücke
(1) Es ist verboten, einen Gegner unter Anwendung von
Heimtücke zu töten, zu verwunden oder gefangen zu
nehmen. Als Heimtücke gelten Handlungen, durch die ein
Gegner in der Absicht, sein Vertrauen zu missbrauchen,
verleitet wird, darauf zu vertrauen, dass er nach den Re-
geln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völker-
rechts Anspruch auf Schutz hat oder verpflichtet ist,
Schutz zu gewähren. Folgende Handlungen sind Beispiele
für Heimtücke:
a) das Vortäuschen der Absicht, unter einer Parlamentär-
flagge zu verhandeln oder sich zu ergeben;
b) das Vortäuschen von Kampfunfähigkeit infolge Ver-
wundung oder Krankheit;
c) das Vortäuschen eines zivilen oder Nichtkombattanten-
status;
d) das Vortäuschen eines geschützten Status durch Be-
nutzung von Abzeichen, Emblemen oder Uniformen der
Vereinten Nationen oder neutraler oder anderer nicht
am Konflikt beteiligter Staaten.“
Völkerrechtswidrig ist danach nicht jede Irreführung des Gegners, sondern nur
die Ausnutzung eines durch spezifische - insbesondere in Art. 37 Abs. 1 Zu-
satzprotokoll I beschriebene - Handlungen geschaffenen Vertrauenstatbestan-
des (vgl. Werle, a.a.O. Rn. 1181). Entscheidend ist, dass der Täter den Gegner
gerade über das Bestehen einer völkerrechtlichen Schutzlage getäuscht hat.
Das gilt auch im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Denn nach den auf der
Grundlage von Art. 9 des IStGH-Statuts beschlossenen Auslegungshilfen
(„Verbrechenselemente“) zu Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX (vgl. Internationaler
Strafgerichtshof : Elements of Crimes - Erläuterung zu Art. 8 Abs. 2
Buchst. e Nr. IX -
ar 2010>) gelten als Heimtücke im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt Hand-
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lungen, durch die ein Gegner in der Absicht, sein Vertrauen zu missbrauchen,
verleitet wird, darauf zu vertrauen, dass er nach den Regeln des in bewaffneten
Konflikten anwendbaren Völkerrechts Anspruch auf Schutz hat oder verpflichtet
ist, Schutz zu gewähren. Für die im vorliegenden Fall in Betracht kommende
letztere Variante muss der Täter dem Opfer vorgetäuscht haben, dass es nach
dem im Konflikt anwendbaren Völkerrecht verpflichtet sei, einen Schutzan-
spruch des Täters zu achten. Untersagt ist also nicht jede Irreführung des Geg-
ners, sondern nur die Ausnutzung eines durch spezifische, völkerrechtswidrige
Handlungen erschlichenen Vertrauens. Dieser kriegsvölkerrechtliche Heimtü-
ckebegriff ist daher nicht mit dem Merkmal der Heimtücke in § 211 Abs. 2 StGB
gleichzusetzen (vgl. BTDrucks 14/8524, S. 34 f. zu § 11 Abs. 1 Nr. 7 Völker-
strafgesetzbuch).
Allerdings ist für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zu berücksichtigen,
dass es für Guerilla- bzw. Widerstandskämpfer keine völkerrechtliche Pflicht
zum Tragen einer Uniform gibt. Mithin ist der Tatbestand des Vortäuschens
eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus nur unter besonderen Vorausset-
zungen erfüllt. Für Widerstandskämpfer im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt
besteht jedoch die Pflicht zum offenen Tragen der Waffe als Unterscheidungs-
merkmal zwischen Kämpfern und Zivilpersonen. Das lässt sich aus der
Vorschrift des Art. 44 Abs. 3 Zusatzprotokoll I ableiten, wonach Kombattanten
nicht gegen das Verbot perfiden Verhaltens verstoßen, wenn sie ihre Waffen
bei jeder militärischen Handlung einschließlich der Vorbereitung von Angriffen
offen tragen. Diese Wertung ist auch für die Anwendung des Perfidieverbots im
innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zu berücksichtigen (vgl. Werle, a.a.O.
Rn. 1185).
Im vorliegenden Fall bedarf es der Ermittlung der näheren Tatumstände durch
das Berufungsgericht zur Klärung der Frage, ob der Kläger heimtückisch im
Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut handelte. Dafür könnte
sprechen, dass nicht nur der Kläger, sondern auch der ihn begleitende Wider-
standskämpfer den Angriff auf die russischen Soldaten wohl in Zivilkleidung mit
zunächst verborgenen Waffen vorbereitete. Insoweit fehlt es an den erforderli-
chen tatsächlichen Feststellungen. Es kommt in Betracht, dass der Wider-
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standskämpfer gegen die Pflicht verstoßen hat, die Waffen offen zu tragen. Legt
man ein mittäterschaftliches Vorgehen zugrunde, könnte dem Kläger ein
heimtückisches Verhalten des Widerstandskämpfers zugerechnet werden (vgl.
Art. 25 Abs. 3 Buchst. a IStGH-Statut). Es käme aber auch ein eigenes heim-
tückisches Vorgehen des Klägers in Betracht, wenn die Voraussetzung erfüllt
wäre, dass er unmittelbar an den Feindseligkeiten teilgenommen (vgl. hierzu
Art. 13 Abs. 3 Zusatzprotokoll II ) und dies nicht durch
offenes Tragen der Waffen oder auf andere Weise zu erkennen gegeben hätte.
Dann hätte er selbst darüber getäuscht, dass er im betreffenden Zeitpunkt kei-
nen Schutz genoss und daher gezielt hätte angegriffen werden dürfen (vgl. die
Auslegungshilfe des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes vom
Mai 2009 zum Begriff der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten: ICRC,
Interpretive Guidance of the Notion of Direct Participation in Hostilities under
International Humanitarian Law, Genf 2009 a.a.O. insbes. S. 85). Durch das
verdeckte Tragen der Waffen könnten die russischen Soldaten darüber ge-
täuscht worden sein, dass sie von dem Widerstandskämpfer und dem mit ihm
zusammenwirkenden Kläger keinen Angriff zu erwarten hatten und sie deshalb
die beiden Personen nicht angreifen durften. Dass die Soldaten dem Kläger und
seinem Begleiter Vertrauen entgegen brachten, kann möglicherweise daraus
abgeleitet werden, dass sie ihnen nach Angaben des Klägers den Rücken
zuwandten, als sie von deren Schüssen getroffen wurden.
Weiter wird festzustellen sein, ob vorsätzliches und wissentliches Verhalten im
Sinne von Art. 30 IStGH-Statut gegeben ist. Das liegt nach dem eigenen Vor-
bringen des Klägers insofern nahe, als er mit einer Schusswaffe, die er als
„moderne Form der Kalaschnikow“ bezeichnet, gezielt auf die Soldaten aus
einer Entfernung von 5 bis 6 Metern geschossen hat. Zudem hat er im Rahmen
seiner Anhörung durch das Bundesamt die Frage bejaht, ob er zur Rettung sei-
nes Bruders „zum Mörder geworden“ sei, was gegen ein bloß fahrlässiges Han-
deln spricht.
Soweit der Kläger sich auf Strafausschließungsgründe beruft, sind diese am
Maßstab von Art. 31 Abs. 1 IStGH-Statut zu prüfen. Dabei spricht nach den
bisherigen Feststellungen wenig für das Vorliegen derartiger Gründe. Zwar ver-
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folgte der Kläger nach eigenen Angaben das Ziel, seinen Bruder aus einer als
unrechtmäßig angesehenen Inhaftierung zu befreien, in deren Verlauf er Über-
griffe bis hin zu Folter befürchtete. Zweifelhaft erscheint aber, ob der Kläger im
Sinne der genannten Vorschrift in angemessener Weise gehandelt und seinen
Bruder vor einer diesem unmittelbar drohenden und rechtswidrigen Anwendung
von Gewalt in einer Weise verteidigt hat, die in einem angemessenen Verhältnis
zum Umfang der seinem Bruder drohenden Gefahr stand. Dies kann indessen
aufgrund der bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts
nicht abschließend beurteilt werden.
3. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht auch deshalb, weil es den Aus-
schlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
AsylVfG) auf zu schmaler Tatsachengrundlage verneint. Es qualifiziert die Tat
des Klägers der Sache nach als politische, ohne das Vorliegen einer politischen
Motivation auf hinreichender Tatsachengrundlage festzustellen.
Der Kläger ist gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG nicht Flüchtling, wenn
aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er vor sei-
ner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des
Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch
wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden. Dies gilt auch im Fall
der Beteiligung an derartigen Straftaten (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG). Art. 1 F
Buchst. b GFK, auf den dieser Ausschlussgrund zurückzuführen ist, dient - wie
bereits im Urteil des Senats vom 24. November 2009 näher ausgeführt
(BVerwG 10 C 24.08 a.a.O. Rn. 25-41) - dem Ausschluss „gemeiner Straftäter“.
Diesen wollte man den Schutz der Konvention vorenthalten, um aus Akzep-
tanzgründen den Status eines „bona fide“ Flüchtlings nicht in Misskredit zu
bringen. Daher rechtfertigt nicht jedes kriminelle Handeln des Schutzsuchenden
vor seiner Einreise einen Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung. Erforder-
lich ist vielmehr eine schwere nichtpolitische Straftat.
a) Es spricht nach den bisherigen Feststellungen viel dafür, dass der Kläger
eine schwere Straftat im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG begangen
hat.
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Ob einer Straftat das von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG geforderte Gewicht
zukommt, bestimmt sich nach internationalen und nicht nach nationalen Maß-
stäben (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung
der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Nr. 155). Es muss sich um ein Kapitalverbre-
chen oder eine sonstige Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen
als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich
verfolgt wird. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger an der Tö-
tung von zwei russischen Soldaten und der Entführung eines Offiziers beteiligt
war (UA S. 3, 29 und 27). Dies sind schwere Straftaten im Sinne von § 3 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 AsylVfG, wenn der Täter dazu - wie hier - nicht durch einen Kom-
battantenstatus legitimiert ist. Etwas anderes könnte sich nur dann ergeben,
wenn der Kläger nicht vorsätzlich gehandelt hätte oder sich auf Rechtferti-
gungs- oder Entschuldigungsgründe berufen könnte, was nach den bisher ge-
troffenen Feststellungen (vgl. oben 2 c) bb) aber eher fern liegt.
b) Ob die vom Kläger begangene Tat eine nichtpolitische war, ist nach dem De-
likttypus sowie den der konkreten Tat zugrunde liegenden Motiven und den mit
ihr verfolgten Zielen zu beurteilen. Nichtpolitisch ist eine Tat, wenn sie überwie-
gend aus anderen Motiven, etwa aus persönlichen Beweggründen oder
Gewinnstreben begangen wird (UNHCR a.a.O. Nr. 152). Besteht keine eindeu-
tige Verbindung zwischen dem Verbrechen und dem angeblichen politischen
Ziel oder ist die betreffende Handlung in Bezug zum behaupteten politischen
Ziel unverhältnismäßig, überwiegen nichtpolitische Beweggründe und kenn-
zeichnen die Tat damit insgesamt als nichtpolitisch (vgl. Urteil vom 24. Novem-
ber 2009 - BVerwG 10 C 24.08 - a.a.O. Rn. 42).
Das Berufungsgericht stuft die vom Kläger begangenen Straftaten der Sache
nach als politische ein, indem es sie im Zusammenhang mit politisch motivier-
ten Gewalttaten erörtert, dann aber gegen „klassische terroristische Akte“ ab-
grenzt, weil sie mit solchen Verbrechen nicht vergleichbar seien. Die Bewertung
als politische Straftaten erfolgt aber auf zu schmaler Tatsachengrundlage. Ins-
besondere berücksichtigt das Berufungsgericht nicht, dass der Beweggrund des
Klägers für die Tötung der beiden Soldaten und die Geiselnahme des Offiziers
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- wie vom Berufungsgericht festgestellt (UA S. 11) - in der Befreiung seines
Bruders aus der russischen Gefangenschaft lag. Nach eigenen Angaben des
Klägers war dies sogar der ausschließliche Zweck seines Handelns. Er ver-
folgte insoweit ein persönliches und kein politisches Ziel. Für die politische
Qualität der Straftat genügt nicht, dass sie sich aus der Sicht der russischen
Sicherheitskräfte als Engagement des Klägers für die „tschetschenisch-sepa-
lich auf die tatsächliche Motivation des Klägers an. Eine politische Motivation
des Klägers kann wohl nicht aus den bereits erwähnten Ausführungen des Be-
rufungsgerichts abgeleitet werden, der Kläger habe „im Rahmen des zweiten
Tschetschenienkrieges an der Seite der Tschetschenen und gegen die russi-
sche Besatzungsmacht gekämpft, indem er an der Entführung eines russischen
Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft maßgeblich
beteiligt war“ (UA S. 9). Dem ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger Wider-
standskämpfer war und die Aktion den Zielen des tschetschenischen Wider-
stands dienen sollte (vgl. oben 2 b). Im Übrigen hat der Kläger angegeben,
dass er nicht Mitglied der Widerstandskämpfer war. In der mündlichen Ver-
handlung vor dem Senat hat der Bevollmächtigte des Klägers zudem hervorge-
hoben, dass sich sein Mandant nicht mit den Zielen des tschetschenischen Wi-
derstands identifiziert, sondern lediglich eine Einzelaktion mit deren Unterstüt-
zung durchgeführt habe. Die Bewertung, welche Motive für die Straftaten des
Klägers letztlich maßgeblich waren und ob dabei persönliche oder politische
Gründe im Vordergrund standen, ist jedoch eine tatrichterliche Aufgabe, die das
Berufungsgericht nach Zurückverweisung der Sache unter Beachtung der
Hinweise des Senats erneut vorzunehmen hat.
Das Berufungsgericht wird bei seiner Entscheidung auch zu berücksichtigen
haben, dass die möglichen weiteren Voraussetzungen für das Eingreifen dieses
Ausschlussgrundes (Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeitsprüfung), die
sich aus Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG ergeben, aufgrund
der Vorlageentscheidungen des Senats an den Gerichtshof der Europäischen
Union derzeit als europarechtlich klärungsbedürftig anzusehen sind (vgl. Be-
schlüsse vom 14. Oktober 2008 - BVerwG 10 C 48.07 - BVerwGE 132, 79 ff.
und vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 46.07 - Buchholz 451.902 Europ.
50
- 23 -
Ausl.- und Asylrecht Nr. 24). Sollte sich für seine erneute Entscheidung eine
europarechtliche Zweifelsfrage in entscheidungserheblicher Weise stellen wird
es prüfen müssen, ob es das Verfahren im Hinblick auf die bereits anhängigen
Vorabentscheidungsverfahren aussetzt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert er-
gibt sich aus § 30 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Richter
Prof. Dr. Kraft Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Satz 2
AufenthG
§ 60 Abs. 1 Satz 1
GFK
Art. 1 F
IStGH-Statut
Art. 8, Art. 9, Art. 25, Art. 30, Art. 31
VwGO
§ 108 Abs. 1 Satz 1, § 137 Abs. 2, § 144 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2
Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, Art. 12 Abs. 2
Genfer Konventionen
vom 12. August 1949 Art. 3
Zusatzprotokoll I
vom 8. Juni 1977
Art. 37, 44
Zusatzprotokoll II
vom 8. Juni 1977
Art. 13
Stichworte:
Ausschlussgrund; Beweismaß; Flüchtlingsanerkennung; funktionaler Zusam-
menhang; innerstaatlicher bewaffneter Konflikt; Kämpfer; Kombattant; Kriegs-
verbrechen; meuchlerische Tötung; nichtpolitische Straftat; Separatismus; Ter-
rorismus; Völkerstrafrecht; Zivilperson.
Leitsätze:
1. Eine Zivilperson kann Täter eines Kriegsverbrechens im Sinne von § 3 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AsylVfG i.V.m. Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut sein. Es muss aber ein
funktionaler Zusammenhang zwischen der Tat und dem bewaffneten Konflikt
bestehen. Nicht erforderlich ist eine Verbindung zwischen dem Täter und einer
der Konfliktparteien.
2. In einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt können Kriegsverbrechen
nicht nur gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch gegenüber Kämpfern
der gegnerischen Partei begangen werden.
3. Voraussetzung für das Kriegsverbrechen der meuchlerischen Tötung eines
Kombattanten nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut ist, dass der
Täter den Gegner über das Bestehen einer völkerrechtlichen Schutzlage ge-
täuscht hat.
4. Für die Frage, ob eine schwere Straftat nichtpolitischen Charakter im Sinne
von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hat, kommt es maßgeblich auf die tatsäch-
liche Motivation des Täters an.
Urteil des 10. Senats vom 16. Februar 2010 - BVerwG 10 C 7.09
I. VG Magdeburg vom 15.06.2005 - Az.: VG 3 A 216/03 MD -
II. OVG Magdeburg vom 28.11.2008 - Az.: OVG 2 L 26/06 -