Urteil des BVerwG vom 24.06.2008

Irak, Bewaffneter Konflikt, Bundesamt, Widerruf

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 45.07
VGH 13a B 06.30979
Verkündet
am 24. Juni 2008
von Förster
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit es sich auf den
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung (Nr. 1 und 2 des Be-
scheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
12. Oktober 2005) bezieht.
Im Übrigen (hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung eines
Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2
AufenthG, hilfsweise nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG
in Bezug auf den Irak) wird das Urteil des Bayerischen Verwal-
tungsgerichtshofs vom 1. Februar 2007 aufgehoben und die
Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Der Kläger trägt die Hälfte der Kosten des bisherigen Verfah-
rens in allen Rechtszügen. Im Übrigen bleibt die Entscheidung
über die Kosten der Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
Der Kläger erstrebt europarechtlichen Abschiebungsschutz wegen Gefahren
aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts (entsprechend den Vo-
raussetzungen für den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie
2004/83/EG). Hilfsweise erstrebt er nationalen Abschiebungsschutz wegen ihm
drohender Gefahren für Leib und Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Der 1980 in Kirkuk (Zentralirak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöri-
ger kurdischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Nach seiner Ein-
reise nach Deutschland stellte er im Juli 2001 beim Bundesamt für die An-
erkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und
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Flüchtlinge) - Bundesamt - einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylge-
suchs gab der Kläger an, er habe Angst vor Sanktionen wegen illegaler Ausrei-
se und seiner Verweigerungshaltung gegenüber der Baath-Partei. Mit be-
standskräftig gewordenem Bescheid vom 28. Februar 2002 stellte das Bundes-
amt fest, dass die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach § 51 Abs. 1
AuslG 1990 vorliegen.
Mit Bescheid vom 12. Oktober 2005 widerrief das Bundesamt die Flüchtlings-
anerkennung wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak. Zugleich
stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
nicht vorliegen.
Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht und vor dem
Verwaltungsgerichtshof keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil
vom 1. Februar 2007 zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf
sei rechtmäßig, weil der Kläger nach dem Sturz des Regimes von Saddam
Hussein im Jahr 2003 keine Verfolgung im Irak mehr zu befürchten habe, die
seine Anerkennung als Flüchtling rechtfertige. Der Kläger könne auch nicht die
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bean-
spruchen. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2
bis 5 AufenthG lägen nicht vor. Auch bestehe kein Anspruch auf Abschiebungs-
schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn der Kläger wäre im Fall seiner
Rückkehr in den Irak keiner individuellen erheblichen konkreten Gefahr für Leib,
Leben oder Freiheit ausgesetzt. Soweit er sich auf die allgemeine Situation im
Irak berufe, zu der auch die Gefahr zu rechnen sei, als Rückkehrer aus dem
Ausland Opfer von kriminellen Übergriffen zu werden, müsse er sich auf den
ihm durch den Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern gewähr-
ten Schutz vor einer Abschiebung in den Irak verweisen lassen. Der Kläger ha-
be keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15
Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004. Die hierfür
zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die
wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsse, liege nicht vor. Aus
den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterialien sei nicht ableitbar,
dass im Irak landesweit eine Bürgerkriegssituation gegeben wäre. Selbst wenn
man davon ausgehen würde, dass in Bagdad und anderen Städten, vor allem
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im zentralirakischen sogenannten „Sunnitischen Dreieck“, zumindest bürger-
kriegsähnliche Zustände herrschten, könne dies nicht zu einem durch die unmit-
telbare Anwendung von Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c der Richtli-
nie vermittelten Schutzanspruch führen. Denn ein innerirakisches Ausweichen
in andere Landesteile erscheine möglich, damit sei ein interner Schutz im Sinne
von Art. 8 der Richtlinie gewährleistet. Hiervon abgesehen stehe wohl auch die
bei allgemeinen Gefahren vergleichbaren Abschiebungsschutz bietende Erlass-
lage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern der Gewährung richtli-
niengemäßen subsidiären Schutzes entgegen.
Mit der vom Verwaltungsgerichtshof unbeschränkt zugelassenen Revision wen-
det sich der Kläger - nach Rücknahme der Revision hinsichtlich des Widerrufs
der Flüchtlingsanerkennung in der mündlichen Verhandlung - vorrangig da-
gegen, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des inzwischen durch
§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in nationales Recht umgesetzten subsidiären
Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG verneint hat. Er be-
mängelt insbesondere, dass das Gericht die Voraussetzungen dieser Schutz-
gewährung verkannt habe, insbesondere auch die Möglichkeit der Erlangung
internen Schutzes im Irak.
Die Beklagte tritt der Revision entgegen.
II
Das Revisionsverfahren war nach entsprechender Rücknahme der Revision
durch den Kläger insoweit einzustellen, als es sich auf den Widerruf der Flücht-
lingsanerkennung (Nr. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 12. Oktober 2005) bezogen hat (§ 141
Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Die nunmehr nur noch gegen die Versagung von Abschiebungsschutz nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtete Revision ist begründet. Das Berufungs-
urteil beruht insoweit auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO). Denn es hat einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Ab-
schiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit einer Begründung
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verneint, die einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhält. Da der Senat
mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil über das Vorliegen
eines solchen Abschiebungsverbots selbst nicht abschließend entscheiden
kann, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Ab-
schiebungsschutz zusteht, ist die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
vom 19. August 2007 (BGBl I 2007, 1970) - im Folgenden: Richtlinienumset-
zungsgesetz - am 28. August 2007 geltende Rechtslage. Denn nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die
nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht dann zu be-
rücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu be-
achten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitig-
keit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig
auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhand-
lung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede,
die neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil vom 11. September 2007
- BVerwG 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 <257 f.> Rn. 19).
1. Die während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderung hat zur
Folge, dass sich in Asylverfahren von Gesetzes wegen der Streitgegenstand
bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG geändert hat und im Ausgangsverfahren hinsichtlich der vom Kläger
im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschie-
bungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen,
vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Ab-
schiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren
Streitgegenstandsteil bilden. Hierauf hat der Kläger im Revisionsverfahren auf
Hinweis des Senats zulässigerweise reagiert und in Anpassung an die neue
Rechtslage seine Anträge dahin präzisiert, dass er in erster Linie die Verpflich-
tung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7
Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären
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Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internatio-
nalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
- ABl EG L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG 2004 vom
5. August 2005 S. 24 - sog. Qualifikationsrichtlinie -) und für den Fall, dass sei-
ne Klage insoweit keinen Erfolg hat, hilfsweise die Verpflichtung zur Feststel-
lung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in
Bezug auf den Irak begehrt. Diese Abstufung berücksichtigt die mit Inkrafttreten
des Richtlinienumsetzungsgesetzes eingetretene Änderung des Streitgegen-
stands bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG und entspricht nunmehr der typischen Interessenlage eines - wie im
Ausgangsverfahren - nach rechtskräftigem Widerruf der Flüchtlingsanerken-
nung in Bezug auf sein Heimatland ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz
begehrenden Klägers. Die hierfür maßgeblichen Erwägungen hat der Senat im
Einzelnen in seinem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07
(zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen)
ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genom-
men.
2. Entsprechend dem abgestuften Klageantrag des Klägers ist zunächst über
den Hauptantrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots
in Bezug auf den Irak nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zu entschei-
den. Hinsichtlich der vom Verwaltungsgerichtshof verneinten Abschiebungsver-
bote nach § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG hat die Revision keine Einwände erho-
ben, so dass nur der auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gestützte Anspruch zu
prüfen bleibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrere Voraussetzungen für die
Gewährung dieses europarechtlich vorgegebenen Abschiebungsschutzes
rechtsfehlerhaft ausgelegt.
Soweit der Verwaltungsgerichtshof das Vorliegen der Voraussetzungen des
jetzt in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geregelten Abschiebungsverbots in erster
Linie mit der Begründung verneint hat, dass im Irak kein landesweiter bewaffne-
ter Konflikt im Sinne dieser Vorschrift bestehe (UA S. 16), hat er zu hohe Anfor-
derungen an das Vorliegen eines solchen Konflikts gestellt. Soweit er ein Ab-
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schiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch deshalb verneint hat,
weil der Kläger bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts in Teilen des Irak
jedenfalls internen Schutz in anderen Landesteilen des Irak finden könnte (UA
S. 16), ist diese Begründung ebenfalls nicht mit Bundesrecht vereinbar, weil sie
auf zu schmaler Tatsachengrundlage getroffen worden ist. Schließlich steht das
angefochtene Urteil auch insoweit nicht in Einklang mit revisiblem Recht, als der
Verwaltungsgerichtshof seine Entscheidung ergänzend darauf gestützt hat,
dass „wohl auch die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusam-
menhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz bietende oben dargestell-
te Erlasslage“ der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes ent-
gegen stehe (UA S. 16 f.). Denn die nunmehr in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG
getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Falle
allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch auslän-
derbehördliche Erlasse verweist, ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass
sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung
subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt
sind. Auch insoweit wird Bezug genommen auf das Urteil des Senats vom heu-
tigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07.
3. Da das Berufungsgericht zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG, der Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG umsetzt, keine aus-
reichenden Feststellungen enthält, ist das Verfahren zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverwei-
sen. In dem erneuten Berufungsverfahren wird der Verwaltungsgerichtshof die
fehlenden Feststellungen zum Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten
Konflikts und zu den weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG einschließlich der Möglichkeit der Erlangung internen Schutzes nach
§ 60 Abs. 11 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 der Richtlinie nachzuholen ha-
ben. Wegen der hierbei zu berücksichtigenden Gesichtspunkte wird ebenfalls
auf das Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07 verwiesen.
4. Da das Berufungsgericht in dem zurückverwiesenen Verfahren zu prüfen hat,
ob der Kläger Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG hat, hatte der Senat über den hierzu hilfsweise geltend gemachten
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Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu
entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 155 Abs. 2 VwGO, da
der Kläger seine Revision betreffend den Widerruf seiner Flüchtlingsanerken-
nung zurückgenommen hat und wegen der damit rechtskräftig gewordenen
Abweisung seiner Klage durch das Berufungsgericht insoweit die Kosten erster
und zweiter Instanz als Unterlegener zu tragen hat. Hinsichtlich der Feststellung
von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bleibt die Kosten-
entscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichtskosten werden ge-
mäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Dr. Mallmann
Richter
Beck
RiBVerwG Prof. Dr. Kraft
Fricke
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Dr. Mallmann
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