Urteil des BVerwG vom 24.06.2008

Irak, Bewaffneter Konflikt, Bundesamt, Widerruf

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 44.07
VGH 13a B 06.30996
Verkündet
am 24. Juni 2008
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:
Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit es sich auf
den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung (Nr. 1 und 2 des
Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
vom 16. März 2006) bezieht.
Im Übrigen (hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung
eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7
Satz 2 AufenthG, hilfsweise nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1
AufenthG in Bezug auf den Irak) wird das Urteil des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. Februar
2007 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichts-
hof zurückverwiesen.
Der Kläger trägt die Hälfte der Kosten des bisherigen Ver-
fahrens in allen Rechtszügen. Im Übrigen bleibt die Ent-
scheidung über die Kosten der Schlussentscheidung vor-
behalten.
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G r ü n d e :
I
Der Kläger erstrebt europarechtlichen Abschiebungsschutz wegen Gefahren
aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts (entsprechend den Vor-
aussetzungen für den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie
2004/83/EG). Hilfsweise erstrebt er nationalen Abschiebungsschutz wegen ihm
drohender Gefahren für Leib und Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Der 1976 in Mosul (Zentralirak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöri-
ger kurdischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Nach seiner Ein-
reise nach Deutschland stellte er im Juli 2001 beim Bundesamt für die Aner-
kennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flücht-
linge) - Bundesamt - einen Asylantrag. Zwischenzeitlich befinden sich im Bun-
Begründung seines Asylgesuchs gab der Kläger an, in seinem Geschäft sei
eine Tasche mit Flugblättern und Informationen von Schiiten gefunden worden.
Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 14. September 2001 stellte das
Bundesamt fest, dass die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach § 51
Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen.
Mit Bescheid vom 16. März 2006 widerrief das Bundesamt die Flüchtlingsaner-
kennung wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak. Zugleich stell-
te es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht
vorliegen.
Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht und vor dem
Verwaltungsgerichtshof keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil
vom 1. Februar 2007 zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf
sei rechtmäßig, weil der Kläger nach dem Sturz des Regimes von Saddam
Hussein im Jahr 2003 keine Verfolgung im Irak mehr zu befürchten habe, die
seine Anerkennung als Flüchtling rechtfertige. Der Kläger könne auch nicht die
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG be-
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anspruchen. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60
Abs. 2 bis 5 AufenthG lägen nicht vor. Auch bestehe kein Anspruch auf Ab-
schiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn der Kläger wäre im
Fall seiner Rückkehr in den Irak keiner individuellen erheblichen konkreten Ge-
fahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt. Soweit er sich auf die allgemeine
Situation im Irak berufe, zu der auch die Gefahr zu rechnen sei, als Rückkehrer
aus dem Ausland Opfer von kriminellen Übergriffen zu werden, müsse er sich
auf den ihm durch den Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern
gewährten Schutz vor einer Abschiebung in den Irak verweisen lassen. Der
Kläger habe keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach
Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004. Die
hierfür zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Inten-
sität, die wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsse, liege nicht
vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterialien sei nicht ab-
leitbar, dass im Irak landesweit eine Bürgerkriegssituation gegeben wäre.
Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass in Bagdad und anderen Städ-
ten, vor allem im zentralirakischen sogenannten „Sunnitischen Dreieck“, zumin-
dest bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, könne dies nicht zu einem
durch die unmittelbare Anwendung von Art. 18 in Verbindung mit Art. 15
Buchst. c der Richtlinie vermittelten Schutzanspruch führen. Denn ein innerira-
kisches Ausweichen in andere Landesteile erscheine möglich, damit sei ein
interner Schutz im Sinne von Art. 8 der Richtlinie gewährleistet. Hiervon abge-
sehen stehe wohl auch die bei allgemeinen Gefahren vergleichbaren Abschie-
bungsschutz bietende Erlasslage des Bayerischen Staatsministeriums des In-
nern der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entgegen.
Mit der vom Verwaltungsgerichtshof unbeschränkt zugelassenen Revision
wendet sich der Kläger - nach Rücknahme der Revision hinsichtlich des Wider-
rufs der Flüchtlingsanerkennung in der mündlichen Verhandlung - vorrangig
dagegen, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des inzwischen
durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in nationales Recht umgesetzten subsidiä-
ren Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG verneint hat. Er
bemängelt insbesondere, dass das Gericht die Voraussetzungen dieser
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Schutzgewährung verkannt habe, insbesondere auch die Möglichkeit der Er-
langung internen Schutzes im Irak.
Die Beklagte tritt der Revision entgegen.
II
Das Revisionsverfahren war nach entsprechender Rücknahme der Revision
durch den Kläger insoweit einzustellen, als es sich auf den Widerruf der Flücht-
lingsanerkennung (Nr. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 16. März 2006) bezogen hat (§ 141 Satz 1,
§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Die nunmehr nur noch gegen die Versagung von Abschiebungsschutz nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtete Revision ist begründet. Das Berufungsur-
teil beruht insoweit auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO). Denn es hat einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Ab-
schiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit einer Begründung
verneint, die einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhält. Da der Senat
mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil über das Vorliegen
eines solchen Abschiebungsverbots selbst nicht abschließend entscheiden
kann, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob dem Kläger der begehrte Ab-
schiebungsschutz zusteht, ist die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
vom 19. August 2007 (BGBl I 2007, 1970) - im Folgenden: Richtlinienumset-
zungsgesetz - am 28. August 2007 geltende Rechtslage. Denn nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die
nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht dann zu be-
rücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu be-
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achten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitig-
keit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig
auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Ver-
handlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt ent-
schiede, die neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil vom 11. September
2007 - BVerwG 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 <257 f.> Rn. 19).
1. Die während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderung hat zur
Folge, dass sich in Asylverfahren von Gesetzes wegen der Streitgegenstand
bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG geändert hat und im Ausgangsverfahren hinsichtlich der vom Kläger
im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschie-
bungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen,
vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Ab-
schiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren
Streitgegenstandsteil bilden. Hierauf hat der Kläger im Revisionsverfahren auf
Hinweis des Senats zulässigerweise reagiert und in Anpassung an die neue
Rechtslage seine Anträge dahin präzisiert, dass er in erster Linie die Verpflich-
tung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7
Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären
Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig inter-
nationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schut-
zes - ABl EG L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG L 204 vom
5. August 2005 S. 24 - sogenannte Qualifikationsrichtlinie -) und für den Fall,
dass seine Klage insoweit keinen Erfolg hat, hilfsweise die Verpflichtung zur
Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Auf-
enthG in Bezug auf den Irak begehrt. Diese Abstufung berücksichtigt die mit
Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes eingetretene Änderung des
Streitgegenstands bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG und entspricht nunmehr der typischen Interessenlage
eines - wie im Ausgangsverfahren - nach rechtskräftigem Widerruf der Flücht-
lingsanerkennung in Bezug auf sein Heimatland ausländerrechtlichen Abschie-
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bungsschutz begehrenden Klägers. Die hierfür maßgeblichen Erwägungen hat
der Senat im Einzelnen in seinem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren
BVerwG 10 C 43.07 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung
BVerwGE vorgesehen) ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederho-
lungen Bezug genommen.
2. Entsprechend dem abgestuften Klageantrag des Klägers ist zunächst über
den Hauptantrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots
in Bezug auf den Irak nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zu entschei-
den. Hinsichtlich der vom Verwaltungsgerichtshof verneinten Abschiebungsver-
bote nach § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG hat die Revision keine Einwände erho-
ben, so dass nur der auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gestützte Anspruch zu
prüfen bleibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrere Voraussetzungen für die
Gewährung dieses europarechtlich vorgegebenen Abschiebungsschutzes
rechtsfehlerhaft ausgelegt.
Soweit der Verwaltungsgerichtshof das Vorliegen der Voraussetzungen des
jetzt in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geregelten Abschiebungsverbots in erster
Linie mit der Begründung verneint hat, dass im Irak kein landesweiter bewaffne-
ter Konflikt im Sinne dieser Vorschrift bestehe (UA S. 16), hat er zu hohe An-
forderungen an das Vorliegen eines solchen Konflikt gestellt. Soweit er ein Ab-
schiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch deshalb verneint hat,
weil der Kläger bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts in Teilen des Irak
jedenfalls internen Schutz in anderen Landesteilen des Irak finden könnte (UA
S. 16), ist diese Begründung ebenfalls nicht mit Bundesrecht vereinbar, weil sie
auf zu schmaler Tatsachengrundlage getroffen worden ist. Schließlich steht das
angefochtene Urteil auch insoweit nicht in Einklang mit revisiblem Recht, als der
Verwaltungsgerichtshof seine Entscheidung ergänzend darauf gestützt hat,
dass „wohl auch die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusam-
menhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz bietende oben dargestell-
te Erlasslage“ der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entge-
genstehe (UA S. 16 f.). Denn die nunmehr in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ge-
troffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Falle all-
gemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländer-
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behördliche Erlasse verweist, ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass sie
nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsi-
diären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt sind.
Auch insoweit wird Bezug genommen auf das Urteil des Senats vom heutigen
Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07.
3. Da das Berufungsgericht zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG, der Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG umsetzt, keine aus-
reichenden Feststellungen enthält, ist das Verfahren zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.
In dem erneuten Berufungsverfahren wird der Verwaltungsgerichtshof die
fehlenden Feststellungen zum Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten
Konflikts und zu den weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG einschließlich der Möglichkeit der Erlangung internen Schutzes nach
§ 60 Abs. 11 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 der Richtlinie nachzuholen ha-
ben. Wegen der hierbei zu berücksichtigenden Gesichtspunkte wird ebenfalls
auf das Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07 verwiesen.
4. Da das Berufungsgericht in dem zurückverwiesenen Verfahren zu prüfen hat,
ob der Kläger Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG hat, hatte der Senat über den hierzu hilfsweise geltend gemachten
Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu
entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO, da der
Kläger seine Revision betreffend den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung
zurückgenommen hat und wegen der damit rechtskräftig gewordenen Abwei-
sung seiner Klage durch das Berufungsgericht insoweit die Kosten erster und
zweiter Instanz als Unterlegener zu tragen hat. Hinsichtlich der Feststellung von
Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bleibt die Kostenent-
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scheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichtskosten werden ge-
mäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Richter
Beck Fricke