Urteil des BVerwG vom 05.06.2012

Widerruf, Bundesamt, Ablauf der Frist, Subjektives Recht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 4.11
VGH 13a B 10.30074
Verkündet
am 5. Juni 2012
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juni 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. März 2011
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.
Der 1973 geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste im Mai 1998
nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 23. Juli 1998
stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - fest, dass die Voraus-
setzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Im Juni 2008 fragte das Bundesamt bei der Landeshauptstadt München an, ob
beim Kläger die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaub-
nis vorlägen. Das verneinte die Ausländerbehörde, da der Kläger Sozialhilfe
beziehe und straffällig geworden sei.
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Im November 2008 leitete das Bundesamt wegen der veränderten Verhältnisse
im Irak ein Widerrufsverfahren ein und gab dem Kläger im Januar 2009 Gele-
genheit zur Stellungnahme. Der Kläger wies im April 2009 darauf hin, dass ihm
bei Rückkehr in den Irak asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Kräfte
drohe. Im Übrigen lebe seine gesamte Familie in Deutschland. Er habe keinerlei
Beziehungen mehr zum Irak, sondern sei in Deutschland sozialisiert und Teil
dieser Gesellschaft.
Mit Bescheid vom 2. Juli 2009 widerrief das Bundesamt die Feststellung zu § 51
Abs. 1 AuslG und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Begründung des Bescheids ist zu entneh-
men, dass der Widerruf auf § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG gestützt wurde;
Ermessenserwägungen enthält der Bescheid nicht.
Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München abgewie-
sen. Mit Urteil vom 21. März 2011 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof
die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentli-
chen ausgeführt: Rechtsgrundlage des Widerrufs sei § 73 Abs. 1 AsylVfG. Da-
nach sei der Widerruf gerechtfertigt, denn die Voraussetzungen für die Zu-
erkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen beim Kläger nicht mehr vor. Ihm
drohe auch keine Verfolgung aus anderen Gründen. Der Widerruf sei nicht
schon deshalb aufzuheben, weil er erst nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 7
AsylVfG erfolgt sei. § 73 Abs. 7 AsylVfG enthalte einen Prüfungsauftrag für das
Bundesamt und keine Entscheidungsfrist wie § 48 Abs. 4 VwVfG. Zudem dürfe
derjenige, bei dem die Erstüberprüfung versäumt worden sei, nicht besser
dastehen als derjenige, bei dem diese zu keinem Widerruf geführt habe. Auch
die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG mit der Folge eines
Übergangs zur Ermessensentscheidung seien nicht erfüllt, denn eine
vorangehende Prüfung, aufgrund derer ein Widerruf nicht erfolgt sei, habe nicht
stattgefunden. Der bloße Fristablauf könne nicht mit einer abgeschlossenen
Negativprüfung gleichgesetzt werden. Der Kläger genieße weder
unionsrechtlichen noch nationalen Abschiebungsschutz.
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Der Kläger wendet sich mit der Revision nur noch gegen den Widerruf der
Flüchtlingsanerkennung. Dieser sei wegen fehlender Ermessensausübung
rechtswidrig. Versäume das Bundesamt eine fristgerechte Entscheidung, sei
dies einer Negativentscheidung gleichzustellen. Denn die Frist des § 73 Abs. 2a
Satz 1 AsylVfG liege nicht nur im öffentlichen, sondern auch im individuellen
Interesse des Flüchtlings. Wegen der fehlenden Ermessensentscheidung sei
der Widerrufsbescheid aufzuheben.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die in § 73 Abs. 2a und
Abs. 7 AsylVfG bestimmte Frist beziehe sich nur auf die Anfangsprüfung, ob
überhaupt ein Widerrufsverfahren einzuleiten sei. Der Gesetzgeber habe eine
Prüfungs- und keine Entscheidungsfrist gesetzt. Darüber hinaus bestehe die
Pflicht zum Widerruf allein im öffentlichen Interesse, denn mit der Gesetzesän-
derung sei eine Effektivierung der Widerrufsvorschriften beabsichtigt gewesen.
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt und vertei-
digt das angefochtene Urteil. Mit der Regelüberprüfungsfrist hätten den betrof-
fenen Ausländern keine subjektiven Rechte eingeräumt werden sollen. Die Re-
gelung habe ausweislich der Gesetzesbegründung nur eine innerbehördliche
verfahrensleitende Bedeutung. Sie diene der Beschleunigung des Asylverfah-
rens, nicht jedoch integrationspolitischen Zwecken. Da dem Bundesamt für die
Prüfung ein Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung
zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums zustehe, müsse dies für die
Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG in gleicher Weise gelten. Der Widerruf sei nur
zweieinhalb Monate nach der Stellungnahme des Klägers ergangen.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Der Verwaltungsgerichts-
hof hat die Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung
ohne Verletzung revisiblen Rechts abgewiesen. Er ist zutreffend davon ausge-
gangen, dass der Widerruf nicht schon deshalb aufzuheben ist, weil das Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - die Frist des § 73 Abs. 2a
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Satz 1, Abs. 7 AsylVfG versäumt hat (1.). Infolge der Fristversäumung ist der
Widerruf auch nicht in eine Ermessensentscheidung umgeschlagen (2.). Neben
den Fristbestimmungen in § 73 Abs. 2a Satz 1 und Abs. 7 AsylVfG ist die Jah-
resfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG nicht anwendbar (3.).
Schließlich hat der Verwaltungsgerichtshof in revisionsgerichtlich nicht zu bean-
standender Weise das Vorliegen der materiellen Widerrufsvoraussetzungen
gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG bejaht (4.).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73
AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts-
und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007
(BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 gelten-
den Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes
vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flücht-
lingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie
nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der
Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz
des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
Nach Absatz 2a der Vorschrift hat die Prüfung, ob die Voraussetzungen u.a. für
einen Widerruf nach Absatz 1 vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jah-
ren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (Satz 1). Das Ergebnis
ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (Satz 2). Ist nach der Prüfung ein Widerruf
oder eine Rücknahme nicht erfolgt, steht eine spätere Entscheidung nach Ab-
satz 1 oder Absatz 2 im Ermessen, es sei denn, der Widerruf oder die Rück-
nahme erfolgt, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufent-
haltsgesetzes oder des § 3 Abs. 2 vorliegen (Satz 4). Gemäß Absatz 7 hat die
Prüfung nach Absatz 2a Satz 1 spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu er-
folgen, wenn - wie hier - die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Ja-
nuar 2005 unanfechtbar geworden ist.
1. Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung im Bescheid vom 2. Juli 2009 in formeller
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Hinsicht nicht zu beanstanden ist. Dem Kläger ist gemäß § 73 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG schriftlich mitgeteilt worden, dass wegen der Änderung der Sachlage
im Irak ein Widerrufsverfahren eingeleitet wurde, und er hatte ausreichend Ge-
legenheit zur Stellungnahme. Ob der Widerrufsbescheid unverzüglich erfolgt ist,
kann dahinstehen, da der Kläger sich auf diese rein objektivrechtliche Voraus-
setzung nicht zu berufen vermag (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C
21.04 - BVerwGE 124, 277 <291> und vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C
21.06 - BVerwGE 128, 199 Rn. 18; stRspr). Der Widerrufsbescheid ist auch
nicht deshalb aufzuheben, weil das Bundesamt nicht innerhalb der Frist des
§ 73 Abs. 2a Satz 1, Abs. 7 AsylVfG entschieden hat (1.1). Denn auch diese
Fristbestimmung ist rein objektivrechtlicher Natur im Sinne einer Ordnungsvor-
schrift, so dass ein Versäumen der Frist nicht die Rechtswidrigkeit eines (ver-
späteten) Widerrufs zur Folge hat (1.2).
1.1 Das Bundesamt hat die in § 73 Abs. 2a Satz 1, Abs. 7 AsylVfG enthaltene
Prüfungsfrist versäumt. Die Verpflichtung, die Widerrufs- und Rücknahmevo-
raussetzungen innerhalb der vom Gesetzgeber gesetzten Frist zu prüfen, um-
fasst entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nur eine erste Vorprüfung,
ob ein Verfahren eingeleitet wird. Vielmehr muss mit Blick auf die Absicht des
Gesetzgebers, die asylverfahrensrechtlichen Vorschriften über Widerruf und
Rücknahme in der Praxis durch Einführung einer Überprüfungspflicht von Amts
wegen an Bedeutung gewinnen zu lassen (BTDrucks 15/420 S. 107, 112), die
Prüfung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen innerhalb der gesetz-
lichen Frist auch tatsächlich abgeschlossen werden. Die Prüfung ist nach Sinn
und Zweck der auf Effektivierung zielenden Regelung aber erst beendet mit
einer Negativmitteilung gemäß § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG an die Ausländer-
behörde oder dem Erlass eines Widerrufsbescheids. An der bisherigen Recht-
sprechung, nach der dem Bundesamt über die gesetzliche Frist hinaus noch ein
angemessener Prüfungszeitraum zusteht (Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG
10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 15; zuletzt Urteil vom
1. März 2012 - BVerwG 10 C 9.11 - Rn. 8 f.), hält der Senat nicht länger fest.
1.2 Die Versäumung der Prüfungsfrist führt aber nicht zur Rechtswidrigkeit des
Widerrufs. In der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
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zu § 73 AsylVfG ist offengeblieben, ob die Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2a
AsylVfG (bzw. die Übergangsfrist für Altanerkennungen in § 73 Abs. 7 AsylVfG)
ausschließlich öffentlichen Interessen oder (zumindest auch) dem individuellen
Interesse des anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtlings dient (vgl. Urteile
vom 1. November 2005 a.a.O. S. 292; vom 20. März 2007 a.a.O. Rn. 17 und
vom 12. Juni 2007 a.a.O. Rn. 11). Der erkennende Senat entscheidet diese
Frage nunmehr dahin, dass die Verpflichtung, die Widerrufs- und Rücknahme-
voraussetzungen gerade auch innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Zeit-
raums zu prüfen, insoweit dem Bundesamt ausschließlich im öffentlichen Inte-
resse an der alsbaldigen Entscheidung über den Fortbestand der Asylberechti-
gung bzw. des Flüchtlingsstatus auferlegt ist und ein Verstoß gegen diesen Prü-
fungsauftrag einen verspäteten Widerruf nicht ausschließt. Das ergibt sich aus
den Materialien des Zuwanderungsgesetzes, in denen die zum 1. Januar 2005
neu eingeführte Dreijahresfrist zur obligatorischen Überprüfung der Widerrufs-
oder Rücknahmevoraussetzungen durch das Bundesamt als Maßnahme zur
Beschleunigung des Asylverfahrens bezeichnet wird (BTDrucks 15/420 S. 107).
Wie bereits ausgeführt wollte der Gesetzgeber damit erreichen, dass die Vor-
schriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang weit-
gehend leergelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (BTDrucks 15/420 S. 112).
Die Effektivierung der Rechtsgrundlagen für die Aufhebung der Asyl- bzw.
Flüchtlingsanerkennung dient jedoch - wie auch das Gebot der Unverzüglich-
keit - nicht den Interessen der Statusinhaber (Hailbronner, AuslR, Stand:
August 2008, B 2 § 73 AsylVfG Rn. 93; Bergmann, in: Renner, AuslR, 9. Aufl.
2011, § 73 AsylVfG Rn. 29; Wolff, in: Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 2008,
§ 73 AsylVfG Rn. 41; VGH Kassel, Beschluss vom 1. August 2005 - 7 UE
1364/05.A - InfAuslR 2005, 491).
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Mitteilung des Bundesamts an die
Ausländerbehörde gemäß § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG, die Voraussetzungen
für den Widerruf oder die Rücknahme lägen nicht vor, eine Tatbestandsvoraus-
setzung für einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß
§ 26 Abs. 3 AufenthG bildet. Diese aufenthaltsrechtliche Folge knüpft aber nicht
an den bloßen Ablauf der asylverfahrensrechtlichen Überprüfungsfrist an, son-
dern erst an die Negativmitteilung als eine der möglichen Entscheidungen des
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Bundesamts nach Abschluss seiner obligatorischen Prüfung. Allein der Rege-
lungszusammenhang des § 73 Abs. 2a und Abs. 7 AsylVfG mit § 26 Abs. 3
AufenthG bietet daher noch keinen Anhaltspunkt für ein subjektives Recht auf
fristgerechte Prüfung gegenüber der Beklagten (a.A. VG Köln, Urteil vom
10. Juni 2005 - 18 K 4074/04.A - NVwZ-RR 2006, 67 <73>). Auch wenn der
Asylberechtigte oder Flüchtling gegenüber der Beklagten kein subjektives Recht
auf fristgerechte Prüfung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen
durch das Bundesamt hat, ist er - entgegen der Annahme der Revision - im Fal-
le einer Untätigkeit des Bundesamts nicht rechtlos gestellt: Hat das Bundesamt
innerhalb der Dreijahresfrist weder eine Negativmitteilung an die Ausländerbe-
hörde übermittelt noch die Anerkennung widerrufen oder zurückgenommen,
kann der Betroffene bei der Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis
gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG beantragen. Sollte eine Nachfrage beim Bundes-
amt ohne Rückmeldung bleiben, ist es der Ausländerbehörde allerdings ver-
wehrt, dem Antrag stattzugeben. Der Ausländer kann aber auf Erteilung der
Niederlassungserlaubnis klagen; zu dem Verfahren wird die Bundesrepublik
Deutschland als Trägerin des Bundesamts beizuladen sein. Kommt das Bun-
desamt auch während dieses aufenthaltsrechtlichen Klageverfahrens seiner
gesetzlichen Überprüfungspflicht nicht nach, hat das Gericht inzident zu prüfen,
ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Asyl-
bzw. Flüchtlingsanerkennung vorliegen, und es muss gegebenenfalls die Nega-
tivmitteilung des Bundesamts ersetzen. Auf diese Weise kann die vom Gesetz-
geber beabsichtigte Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Stellung von
Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen (vgl. BTDrucks 15/420 S. 80 zu
§ 26 Abs. 3 AufenthG) auch dann durchgesetzt werden, wenn das Bundesamt
seiner behördeninternen Mitwirkungspflicht nicht (rechtzeitig) nachkommen soll-
te.
2. Die Versäumung der in § 73 Abs. 2a Satz 1, Abs. 7 AsylVfG geregelten Prü-
fungsfrist hat auch nicht zur Folge, dass der gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
gebundene Widerruf in eine Ermessensentscheidung umgeschlagen ist. Das er-
gibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG, der für die
von Amts wegen gebotene Prüfung mit der Formulierung, „ob die Voraus-
setzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Ab-
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satz 2 vorliegen“, auf Befugnisnormen verweist, die dem Bundesamt kein be-
hördliches Ermessen einräumen. Zudem knüpft § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG
den Übergang zu einer Ermessensentscheidung nicht an den bloßen Zeitablauf
von drei Jahren, sondern verlangt dafür eine vorherige sachliche Prüfung und
Verneinung der Widerrufs- oder Rücknahmevoraussetzungen seitens des Bun-
desamtes durch eine formalisierte Negativentscheidung (Urteile vom 20. März
2007 a.a.O. Rn. 15; vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 - Buchholz
402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C
25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 16; Beschlüsse vom 27. November 2007
- BVerwG 10 B 86.07 - juris Rn. 9 und vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C
33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 19 Rn. 14). Die gesetz-
liche Regelung ist mehrtaktig angelegt: Erst nach negativem Abschluss der von
Amts wegen gebotenen Widerrufs- und Rücknahmeprüfung steht in einem spä-
teren Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren die Aufhebungsentscheidung im
Ermessen des Bundesamts, wenn nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8
AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG vorliegen.
3. Die im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelte Jahresfrist für den Widerruf
von Verwaltungsakten (§ 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG) findet auf
den angefochtenen Bescheid keine Anwendung. Die bereichsspezifische Fris-
tenregelung für den Widerruf und die Rücknahme von Asyl- und Flüchtlingsan-
erkennungen durch das Bundesamt in § 73 Abs. 2a Satz 1 und Abs. 7 AsylVfG
verdrängt diese allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Fristbestimmun-
gen. Nach Einführung des § 73 Abs. 2a AsylVfG zum 1. Januar 2005 hat das
Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass die Jahresfrist nach § 48
Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen die
Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Dreijahresfrist nach Unan-
fechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung widerrufen wird (Urteil vom
12. Juni 2007 a.a.O. Rn. 14 f.). Die bisher offengelassene Frage, ob dies auch
für den Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen nach Ablauf der Drei-
jahresfrist gilt, bejaht der Senat nunmehr.
Zu der vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 gelten-
den Regelung des § 73 Abs. 1 und 2 AsylVfG hat das Bundesverwaltungsge-
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richt ausgeführt, dass die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts
neben den spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG anwendbar sind,
soweit diese Raum dafür lassen (Urteil vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C
12.00 - BVerwGE 112, 80 <88>). Jedenfalls seit Einführung der Dreijahresfrist
ist das hinsichtlich der Jahresfrist des § 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG
nicht der Fall. Denn der Gesetzgeber hat dem Bundesamt einen bestimmten,
auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen
Rahmen vorgegeben, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar
abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen verengt werden
soll. Dafür spricht auch die bereits erwähnte Absicht des Gesetzgebers, die
Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme in der Praxis an Bedeutung
gewinnen zu lassen. Mit diesem Anliegen wäre eine neben der Dreijahresfrist
vom Bundesamt zusätzlich zu beachtende Ausschlussfrist von einem Jahr
schwerlich vereinbar. Im Übrigen genießt ein anerkannter Asylberechtigter oder
Flüchtling nach Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen und Vorliegen ma-
terieller Erlöschens- oder Widerrufsgründe auch völker- oder unionsrechtlich
grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen auf Aufrechterhaltung seines for-
mellen Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus, denn mit dem Widerruf wird nicht zugleich
über seinen weiteren Aufenthalt entschieden. Damit fehlt ein Anknüpfungspunkt
für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG, denn im
System der verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen über die Aufhebung
von Verwaltungsakten ist auch die Fristregelung Ausdruck des Vertrauens-
schutzes (vgl. Urteil vom 27. April 2006 - BVerwG 3 C 23.05 - BVerwGE 126, 7
<14>).
4. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorliegen der materiellen Widerrufsvo-
raussetzungen gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG in revisionsgerichtlich
nicht zu beanstandender Weise bejaht.
Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vor-
gaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates
vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status
von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Perso-
nen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des
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zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12;
berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der
Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Um-
stände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Be-
stimmungen der Richtlinie, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer
Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren, und der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union (EuGH) in seinem Grundsatzurteil vom
2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) auszulegen.
Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie
hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom
24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 9).
Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2
AsylVfG setzt demzufolge voraus, dass in Anbetracht einer erheblichen und
nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände im Herkunftsland dieje-
nigen Umstände weggefallen sind, aufgrund derer der Betreffende begründete
Furcht vor Verfolgung hatte und als Flüchtling anerkannt worden war. Eine er-
hebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände liegt vor, wenn
sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich
geändert haben. Durch neue Tatsachen muss sich eine signifikant und ent-
scheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose erge-
ben, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr be-
steht. Dauerhaft ist eine Veränderung, wenn eine Prognose ergibt, dass sich die
Änderung der Umstände als stabil erweist, d.h. der Wegfall der verfolgungsbe-
gründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält (Urteile vom 24. Februar 2011
a.a.O. Rn. 14 ff. und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 19 ff.). Der Verwaltungsge-
richtshof hat sich in der angefochtenen Entscheidung an den genannten Maß-
stäben orientiert. Er ist aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststel-
lungen zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger wegen seiner illegalen
Ausreise aus dem Irak und seinem Verbleib im Ausland keine Verfolgung mehr
droht und sich diese veränderte Sachlage infolge des Sturzes von Saddam
Hussein und seines Systems als stabil erweist.
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Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung setzt neben dem Wegfall der der An-
erkennung zugrunde liegenden Verfolgungsgefahr weiter voraus, dass der Be-
treffende auch nicht wegen anderer Umstände begründete Furcht vor Verfol-
gung hat. Auch das hat das Berufungsgericht geprüft und sich unter ausführli-
cher Verarbeitung von aktuellem Quellenmaterial die Überzeugung gebildet,
dass der Kläger im Irak mangels dafür ausreichender Verfolgungsdichte keiner
Gruppenverfolgung als Sunnit ausgesetzt ist. Das wird von der Revision nicht
gerügt und ist revisionsgerichtlich auch nicht zu beanstanden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Maidowski
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 26 Abs. 3, § 60 Abs. 1
AsylVfG
§ 73 Abs. 1, Abs. 2a, Abs. 4 Satz 1, Abs. 7
GFK
Art. 1 C Nr. 5 und 6
VwVfG
§ 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4
Richtlinie 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f, Abs. 2
Stichworte:
Ausschlussfrist; Ermessen; Ermessensentscheidung; Entscheidungsfrist; Frist;
Fristversäumnis; Fristversäumung; Inzidentprüfung; Negativmitteilung; Nieder-
lassungserlaubnis; Prüfung; Prüfungsfrist; Prüfungspflicht; Rechtsverletzung;
subjektives Recht; Widerrufsvoraussetzungen; Widerruf der Flüchtlingsan-
erkennung.
Leitsätze:
1. Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist nicht deshalb ausgeschlossen,
weil das Bundesamt die Frist des § 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG versäumt hat.
2. Auch nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG bleibt die erst-
malige Entscheidung des Bundesamts über den Widerruf ein gebundener Ver-
waltungsakt und schlägt nicht um in eine Ermessensentscheidung.
3. Kommt das Bundesamt seiner Prüfungspflicht nach § 73 Abs. 2a, Abs. 7
AsylVfG nicht fristgerecht nach, ist im Klageverfahren auf Verpflichtung zur Er-
teilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG inzident zu
prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Negativmitteilung des Bundesamts
nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG vorliegen.
4. Die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4
Satz 1 VwVfG findet auf den Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG keine Anwen-
dung.
Urteil des 10. Senats vom 5. Juni 2012 - BVerwG 10 C 4.11
I. VG München vom 09.10.2009 - Az.: VG M 4 K 09.50262 -
II. VGH München vom 21.03.2011 - Az.: VGH 13a B 10.30074 -