Urteil des BVerwG vom 07.07.2011

Bekämpfung des Terrorismus, Straftat, Flüchtlingseigenschaft, Eheliche Wohnung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 28.10
OVG 10 A 10215/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 7. Juli 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 31. Oktober
2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger begehrt Flüchtlingsschutz und hilfsweise die Feststellung eines Ab-
schiebungsverbots in Bezug auf die Türkei.
Der 1980 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszu-
gehörigkeit. Er reiste im März 2007 nach Deutschland ein und beantragte Asyl.
Zur Begründung gab er im Wesentlichen an: Er sei, wie auch seine frühere
Ehefrau, die er 2002 geheiratet habe, aktiver Anhänger der DHKP/C gewesen.
Nach der Eheschließung hätten sie ihre politischen Aktivitäten gemeinsam fort-
gesetzt und sich dabei verstärkt für die DHKP/C engagiert. Er habe sich später
insbesondere für den Verein TAYAD wie auch die prokurdische Partei
DEHAP/DTP eingesetzt. Seine Frau habe sich zunehmend bei der DHKP/C
betätigt, sich dabei radikalisiert und bewaffnete Anschläge befürwortet. Dadurch
seien Konflikte zwischen ihnen entstanden und er habe deshalb im Juni 2006
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die eheliche Wohnung verlassen. Die Wohnung sei aber weiterhin auf seinen
Namen gelaufen und von ihm finanziert worden. Ende Dezember 2006 sei sei-
ne Ehe geschieden worden. Im Januar 2007 sei seine Frau verhaftet und eine
polizeiliche Razzia in der Wohnung durchgeführt worden. Dabei sei dort ein
Waffenlager entdeckt worden. In diesem Zusammenhang habe die Polizei dann
auch nach ihm gesucht. Er sei gewarnt worden, dass er ebenfalls mit einer Ver-
haftung rechnen müsse. Daraufhin sei er mit Hilfe eines Schleppers nach
Deutschland ausgereist.
Mit Bescheid vom 1. August 2007 lehnte das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass weder die Vor-
aussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Das Verwaltungsgericht wies die Klage insge-
samt ab.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung hinsichtlich des Begehrens auf
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugelassen und die Beklagte verpflich-
tet, dem Kläger gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzu-
erkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei, als er die Türkei
verlassen habe, unmittelbar von politischer Verfolgung bedroht gewesen. Ihm
müsse daher der für Vorverfolgte geltende herabgesetzte Wahrscheinlichkeits-
maßstab zugute kommen. Die Gefahr einer ihm erneut drohenden politischen
Verfolgung könne nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Denn Aktivisten der in der Türkei verbotenen, gewaltbereiten linksextremisti-
schen Organisationen wie gerade auch der DHKP/C müssten befürchten, Opfer
schwerwiegender Übergriffe bis hin zu Misshandlungen und Folterungen zu
werden. Dies müsse auch der Kläger befürchten vor dem Hintergrund der Fest-
nahme seiner früheren Ehefrau als Gebietsleiterin der DHKP/C und nach Auf-
deckung des in seiner Wohnung aufgefundenen Waffenlagers wie aber auch
seiner eigenen langjährigen Aktivitäten für den Verein TAYAD. Der Zuerken-
nung der Flüchtlingseigenschaft stehe kein Ausschlusstatbestand entgegen.
Der Kläger habe sich nicht in ähnlicher Weise wie seine Ehefrau radikalisiert.
Es könne deshalb nicht angenommen werden, dass von ihm künftig eine Ge-
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fahr ausgehe, wie sie in den flüchtlingsrechtlichen Ausschlusstatbeständen vor-
ausgesetzt sei.
Die Beklagte erstrebt mit ihrer Revision die Abweisung der noch anhängigen
Klage. Der Kläger sei nach § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 2 AufenthG a.F. (inzwischen:
§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG) vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen. Ent-
gegen der Auffassung des Berufungsgerichts setzen die Ausschlussgründe kei-
ne fortbestehende Gefährlichkeit des Ausländers voraus.
Mit Beschluss vom 16. Juli 2009 - BVerwG 10 C 3.09 - hat der Senat das Ver-
fahren ausgesetzt, nachdem er dem Gerichtshof der Europäischen Union in
zwei anderen Verfahren verschiedene Fragen zur Auslegung der inzwischen
unionsrechtlich geregelten Ausschlussgründe in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c
und zu Art. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - sog.
Qualifikationsrichtlinie - zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte. Der Gerichtshof
hat die Vorlagefragen mit Urteil vom 9. November 2010 (Rs. C-57/09 und
C-101/09 - NVwZ 2011, 285) beantwortet (vgl. auch die Senatsurteile vom heu-
tigen Tag in den Verfahren BVerwG 10 C 26.10 und BVerwG 10 C 27.10).
Die Beklagte sieht sich in ihrer Auffassung durch das Urteil des Gerichtshofs
bestätigt. Dem schließt sich der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundes-
verwaltungsgericht an.
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil. Seiner Auffassung nach fehlt es an
der Feststellung seiner persönlichen Verantwortung für konkrete terroristische
Aktionen der DHKP/C.
II
Die Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis mit den Be-
teiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141
Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Die Beru-
fungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1
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Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuer-
kennung der Flüchtlingseigenschaft mit einer Begründung bejaht, die mit Bun-
desrecht nicht zu vereinbaren ist (1.). Es hat die positiven Voraussetzungen für
die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m.
§ 60 Abs. 1 AufenthG auf zu schmaler Tatsachengrundlage und damit entgegen
den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung bejaht und ist da-
bei von einem rechtlich unzutreffenden Maßstab ausgegangen (1.1). Vor allem
aber hat es das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG
(früher: § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG/§ 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG 1990) mit einer
Begründung verneint, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist. So hat es zu-
nächst auf zu schmaler Tatsachengrundlage angenommen, dass der Kläger
keine Ausschlussgründe verwirklicht habe. Im Übrigen ist es der Sache nach zu
Unrecht davon ausgegangen, dass ein Ausschluss nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
und 3 AsylVfG voraussetzt, dass von dem Betreffenden auch noch gegenwärtig
die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten oder Handlungen im Sinne
dieser Bestimmungen droht (1.2). Mangels ausreichender Feststellungen des
Berufungsgerichts konnte der Senat nicht selbst abschließend entscheiden, ob
der Kläger Verfolgung zu befürchten hat, aber gegebenenfalls durch seine Akti-
vitäten insbesondere für die DHKP/C einen Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 oder 3 AsylVfG verwirklicht hat (2.). Das Verfahren war daher zur
weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzu-
verweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des klägerischen Begehrens auf Zu-
erkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die neue, seit dem Inkrafttreten des
Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Euro-
päischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - im Folgenden: Richtli-
nienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltende Rechtslage.
1. Rechtgrundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist
§ 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling
im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörig-
keit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt
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hatte, den Bedrohungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Dies gilt al-
lerdings (u.a.) dann nicht, wenn er einen Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2
AsylVfG verwirklicht hat.
1.1 Das Berufungsgericht ist vorliegend davon ausgegangen, dass der Kläger
die positiven Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt. Es hat dies aller-
dings auf unzureichende tatsächliche Feststellungen gestützt und sich dabei
von einem rechtlich unzutreffenden Maßstab leiten lassen.
Das Berufungsgericht hat angenommen, dass der Kläger sein Heimatland ver-
lassen hat, nachdem er dort wegen seiner politischen Überzeugung unmittelbar
von politischer Verfolgung bedroht war (UA S. 8 f.). Bei seiner Prüfung, ob dem
Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei (erneut) Verfolgung droht, hat es mit
Blick auf dessen Vorverfolgung auf den herabgestuften Wahrscheinlichkeits-
maßstab der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung abgestellt (UA S. 10), wie
er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwal-
tungsgerichts zum Asylgrundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt und
dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen worden ist. Dieses materiellrechtli-
che Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfol-
gungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004
über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsange-
hörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden
Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU
Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) fremd. Sie geht vielmehr von einem ein-
heitlichen Prognosemaßstab aus, der dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
nach bisheriger deutscher Rechtslage entspricht und verfolgt einen beweis-
rechtlichen Ansatz, wie er etwa bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung
des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Mit dem Richtlinienum-
setzungsgesetz vom 19. August 2007 hat der deutsche Gesetzgeber deshalb
bei der Flüchtlingsanerkennung die bisherigen unterschiedlichen Wahrschein-
lichkeitsmaßstäbe des nationalen Rechts aufgegeben und sich den beweis-
rechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht (vgl. zum Vorstehenden im
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Einzelnen Urteil des Senats vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - zur Veröf-
fentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, m.w.N.).
Dass der Kläger tatsächlich vor seiner Ausreise unmittelbar von politischer Ver-
folgung bedroht war, hat das Berufungsgericht auf zu schmaler Tatsachen-
grundlage angenommen. Denn es hat sich hierbei vor allem auf die Angaben
des Klägers gestützt und bezüglich deren Glaubhaftigkeit nicht gewürdigt, dass
der Kläger nach der eingeholten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom
1. September 2008 in der Türkei weder im Zusammenhang mit dem gegen sei-
ne geschieden Ehefrau eingeleiteten Strafverfahren noch wegen seiner eigenen
früheren Aktivitäten gesucht wird. Der Senat kann diese Frage nicht abschlie-
ßend beurteilen. Sollte der Kläger sein Heimatland vorverfolgt verlassen haben,
wäre dies nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ein ernsthafter Hinweis darauf, dass
die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet ist. Dann bleibt zu prüfen, ob
stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen.
1.2 Erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60
Abs. 1 AufenthG, kommt es entscheidend darauf an, ob er durch die ihm zur
Last gelegten Aktivitäten insbesondere für die DHKP/C vor seiner Ausreise ei-
nen Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllt hat. Mit dieser Regelung
hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 12 Abs. 2 und 3
der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt, die sich ihrerseits an den in Art. 1 F GFK
aufgeführten Ausschlussgründen orientieren (BTDrucks 16/5065 S. 214). Die
Ausführungen des Berufungsgerichts, mit denen es das Vorliegen eines Aus-
schlussgrundes bei dem Kläger verneint hat, sind mit revisiblem Recht nicht
vereinbar.
Das Berufungsgericht hat keinen der jetzt in § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG (früher
in § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG) geregelten Ausschlussgründe näher in Betracht
gezogen. Es hat das Vorliegen aller drei Ausschlussgründe pauschal in einem
Satz verneint (UA S. 14). Nach den tatsächlichen Feststellungen des Beru-
fungsgerichts zu den Aktivitäten des Klägers in der Türkei steht der Aus-
schlussgrund einer schweren nichtpolitischen Straftat im Vordergrund (§ 3
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG), der dem Ausschlussgrund nach Art. 12 Abs. 2
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Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG sowie nach Art. 1 F Buchst. b GFK ent-
spricht. Nach dieser Bestimmung ist ein Ausländer nicht Flüchtling, wenn aus
schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er vor seiner
Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des
Bundesgebietes begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch
wenn mit ihr angeblich politische Ziele verfolgt wurden. Die Regelung gilt auch
für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten angestiftet oder
sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG in Um-
setzung von Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG). Das Berufungsgericht
hat die Vorschrift offenbar dahingehend verstanden, dass der Ausschlussgrund
nicht allein der Sanktionierung eines in der Vergangenheit von dem Ausländer
begangenen schweren nichtpolitischen Verbrechens, sondern daneben auch
der Gefahrenabwehr diene. Der Ausschlussgrund sei daher zu verneinen, wenn
von dem Ausländer keine Gefahr mehr ausgehe (UA S. 14).
Das Berufungsgericht hat das Eingreifen dieses Ausschlussgrundes - und der
beiden anderen Ausschlussgründe - im Falle des Klägers verneint, ohne die
maßgeblichen Umstände näher festzustellen und zu würdigen (dazu unten un-
ter 2.). Es spricht einerseits von einer „Annäherung“ des Klägers an die
DHKP/C (UA S. 14). Andererseits ist von den „Verstrickungen“ des Klägers in
die linksextremistische Szene die Rede, von den gemeinsamen politischen Ak-
tivitäten mit seiner früheren Ehefrau sowie seiner - aus der Sicht der türkischen
Sicherheitskräfte - Mitwisserschaft, „wenn nicht gar Mittäterschaft hinsichtlich
deren Engagements für die DHKP/C bis hin zur Anlegung eines Waffenlagers in
der Ehewohnung“ (UA S. 12). Allerdings habe der Kläger - anders als seine
Ehefrau, die schließlich sogar den bewaffneten Kampf gegen den türkischen
Staat befürwortet habe - solch eine Radikalisierung abgelehnt. Von daher kön-
ne nicht angenommen werden, dass vom Kläger die Gefahr ausgehe, dass er
es künftig zu derartigen Verhaltensweisen - wie in den Ausschlussgründen
normiert - kommen lassen werde (UA S. 14). Abgesehen davon, dass diese
Annahmen des Berufungsgerichts auf zu schmaler Tatsachengrundlage beru-
hen, kann den rechtlichen Erwägungen nach Einholung der Vorabentscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union durch den Senat nicht gefolgt werden
(vgl. hierzu auch die Urteile des Senats vom heutigen Tag im Verfahren
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BVerwG 10 C 26.10, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung
BVerwGE vorgesehen, sowie im Verfahren BVerwG 10 C 27.10).
Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 9. November
2010 (a.a.O. Rn. 104 f.) setzt der Ausschluss von der Anerkennung als Flücht-
ling nach Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie nicht voraus, dass von dem
Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmestaat ausgeht. Den Aus-
führungen des Gerichtshofs zufolge, die sich gleichermaßen auch auf den Aus-
schlussgrund des Zuwiderhandelns gegen die Ziele und Grundsätze der Verein-
ten Nationen (Art. 12 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie, § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
AsylVfG) beziehen, wurden die Ausschlussgründe mit dem Ziel geschaffen, von
der Flüchtlingsanerkennung Personen auszuschließen, die hinsichtlich des
Schutzes, der sich aus der Anerkennung ergibt, als unwürdig angesehen wer-
den, und zu verhindern, dass die Anerkennung den Urhebern bestimmter
schwerer Straftaten ermöglicht, sich ihrer strafrechtlichen Verantwortung zu
entziehen. Nach der Systematik der Richtlinie 2004/83/EG ist eine möglicher-
weise von einem Flüchtling für den betreffenden Mitgliedstaat ausgehende ge-
genwärtige Gefahr nicht im Rahmen des Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie zu berück-
sichtigen, sondern im Rahmen des Art. 14 Abs. 4 bzw. des Art. 21 Abs. 2 der
Richtlinie (vgl. § 3 Abs. 4 und § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG jeweils i.V.m. § 60
Abs. 8 Satz 1 AufenthG). Mit den Ausschlussgründen nach Art. 12 Abs. 2
Buchst. b und c der Richtlinie sollen hingegen nach ihrem Wortlaut Handlungen
geahndet werden, die in der Vergangenheit begangen wurden (EuGH, Urteil
vom 9. November 2010 a.a.O. Rn. 101 ff.). Auf eine fortbestehende von dem
Betreffenden ausgehende aktuelle Gefahr kommt es daher nicht an.
Für diese Ausschlussgründe bedarf es nach dem Urteil des Gerichtshofs auch
keiner (nachgelagerten) auf den Einzelfall bezogenen Verhältnismäßigkeitsprü-
fung. Erfüllt eine Person die in den Ausschlussgründen festgelegten Vorausset-
zungen, ist sie zwingend und ohne Ausnahme von der Anerkennung als Flücht-
ling ausgeschlossen. Der Ausschluss nach Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der
Richtlinie hängt mit der Schwere der begangenen Handlungen zusammen, die
von einem solchen Grad sein muss, dass die betreffende Person nicht in be-
rechtigter Weise Anspruch auf den Schutz als Flüchtling im Sinne der Richtlinie
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erheben kann. Da bereits im Rahmen der Beurteilung der Schwere der began-
genen Handlungen und der individuellen Verantwortung des Betreffenden alle
Umstände berücksichtigt werden, die für diese Handlungen und für die Lage
des Betreffenden kennzeichnend sind, ist eine zusätzliche weitere Verhältnis-
mäßigkeitsprüfung nicht mehr geboten (EuGH, Urteil vom 9. November 2010
a.a.O. Rn. 107 ff.).
3. Auch wenn das Berufungsurteil demnach hinsichtlich der positiven wie nega-
tiven Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung auf der Verletzung von
Bundesrecht beruht, kann der Senat hierüber nicht selbst entscheiden. Denn
aufgrund der bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts
lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger, soweit er bei Rückkehr
in die Türkei aus politischen Gründen Verfolgung befürchten müsste, einen
Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG verwirklicht hat.
Das Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG
setzt voraus, dass schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass
der Betreffende vor seiner Einreise in das Bundesgebiet eine schwere nichtpoli-
tische Straftat begangen, zu einer solchen Tat angestiftet oder sich in sonstiger
Weise daran beteiligt hat (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG). Als schwere Straftaten in
diesem Sinne sind, wie der Gerichtshof der Europäischen Union betont hat
(EuGH, Urteil vom 9. November 2010 a.a.O. Rn. 81), u.a. terroristische Hand-
lungen anzusehen, die durch ihre Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung ge-
kennzeichnet sind, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt
werden. Allerdings rechtfertigt allein der Umstand, dass eine Person einer Or-
ganisation angehört hat, die - wie hier die DHKP/C - wegen ihrer Beteiligung an
terroristischen Handlungen in der sog. EU-Terrorliste (Anhang zum Gemeinsa-
men Standpunkt des Rates vom 17. Juni 2002 betreffend die Aktualisierung des
Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer
Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Ge-
meinsamen Standpunkts 2002/340/GASP - 2002/462/GSAP - ABl EG Nr. L 160
vom 18. Juni 2002 S. 32) aufgeführt ist, und sie den von dieser Organisation
geführten bewaffneten Kampf aktiv unterstützt hat, nicht automatisch die An-
nahme eines Ausschlussgrundes nach dieser Vorschrift. Es bedarf vielmehr in
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jedem Einzelfall einer Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, um zu
ermitteln, ob die von der Organisation begangenen Handlungen schwere nicht-
politische Straftaten im Sinne des Ausschlussgrundes sind und ob der betref-
fenden Person eine individuelle Verantwortung für die Verwirklichung dieser
Handlungen zugerechnet werden kann, wobei dem in der Vorschrift verlangten
Beweisniveau Rechnung zu tragen ist (EuGH, Urteil vom 9. November 2010
a.a.O. Rn. 99). Entsprechendes gilt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs
für den vom Berufungsgericht nicht näher geprüften und hier eher fernliegenden
Ausschlussgrund des Zuwiderhandelns gegen die Ziele und Grundsätze der
Vereinten Nationen nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG, der Art. 12 Abs. 2
Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG entspricht (EuGH, Urteil vom 9. November
2010 a.a.O. Rn. 99; BVerwG, Urteile vom heutigen Tag - BVerwG 10 C 26.10
und BVerwG 10 C 27.10 -).
Daran gemessen genügen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts
auch unter Berücksichtigung des anzulegenden (abgesenkten) Beweismaßes
nicht, um über das Vorliegen eines Ausschlusses nach § 3 Abs. 2 Satz 1
AsylVfG abschließend zu entscheiden. In Betracht kommt vor allem der Aus-
schlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat. Zwar kann davon ausge-
gangen werden, dass die DHKP/C aufgrund der Aufnahme in die EU-Terrorliste
im Jahre 2002 und der von ihr angewandten Methoden eine terroristische Or-
ganisation ist. Das Berufungsgericht hat aber keine Feststellungen dazu getrof-
fen, inwieweit sich der Kläger für die DHKP/C engagiert hat und ob seine „Ver-
strickungen in die linksextremistische Szene“, von denen das Berufungsgericht
spricht, in Zusammenhang stehen mit der Beteiligung an einer schweren nicht-
politischen Straftat. Von Bedeutung sind insbesondere die Umstände, die mit
dem Waffenlager in der Wohnung des Klägers zusammenhängen. Das Beru-
fungsgericht hat einerseits eine „Mittäterschaft“ des Klägers hinsichtlich des
Engagements seiner früheren Ehefrau für die DHKP/C nicht ausgeschlossen
(UA S. 12), ist aber andererseits beim Ausschlusstatbestand der schweren
nichtpolitischen Straftat auf das Waffenlager nicht eingegangen (UA S. 14). So
gibt es bisher keine Erklärung dafür, warum der Kläger die Wohnung nicht nur
nach seinem Auszug, sondern auch nach der Scheidung beibehalten und weiter
finanziert hat. Unklar ist auch, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen der
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Kläger die Wohnung nach seinem Auszug aufgesucht hat und deshalb von dem
Waffenlager wissen musste. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat der
Kläger hierzu angegeben, er sei „nicht zu Hause“ gewesen, als die Polizei kam
(S. 6 des Anhörungsprotokolls) und „viele Waffen und auch Bomben bei uns zu
Hause“ fand (S. 7 des Anhörungsprotokolls). Unklar ist ferner, aus welchen
Gründen der Kläger die Wohnung, wie er angegeben hat, weiter für seine Frau
vorhalten wollte, gleichzeitig aber erklärt hat, seine Frau sei schon vor seinem
Auszug „selten nach Hause“ gekommen (S. 5 der Antragsbegründung vom
29. Mai 2007), im letzten Jahr vor der Scheidung hätten sie „nicht richtig zu-
sammengelebt“ (S. 5 des Anhörungsprotokolls). Das Berufungsgericht hat nicht
ausgeschlossen, dass der Kläger von dem Waffenlager wusste und die Woh-
nung gegebenenfalls wegen des Waffenlagers beibehalten hat. All dies bedarf
weiterer Klärung, um beurteilen zu können, ob bzw. inwieweit eine individuelle
Verantwortung des Klägers für terroristische Handlungen besteht, die die
DHKP/C begangen hat. Ob diese Organisation auch schon während der Unter-
stützung des Klägers terroristische Methoden angewandt hat und ob und in
welchem Umfang dem Kläger Verantwortung für terroristische Handlungen der
Organisation zumindest über § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG i.V.m. Art. 12 Abs. 3
der Richtlinie 2004/83/EG zuzurechnen ist, kann ohne weitere tatrichterliche
Feststellungen daher nicht abschließend beurteilt werden.
Im weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht daher den Sachverhalt vor
allem mit Blick auf den Ausschlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat
aufzuklären haben und dabei für die Beurteilung der Schwere der begangenen
Handlungen und der individuellen Verantwortung des Klägers alle Umstände zu
ermitteln und zu berücksichtigen haben, die für diese Handlungen und für die
Beteiligung des Klägers kennzeichnend sind.
Bei der Prüfung des Ausschlussgrundes des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG ist
zu berücksichtigen, dass die vom Gerichtshof geforderte individuelle Verant-
wortlichkeit eine Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne erfordert, wobei
allerdings auch hier das im Vergleich zum Strafrecht abgesenkte Beweismaß
(„wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist“) zu be-
achten ist (zu diesem Beweismaßstab vgl. Urteil vom 31. März 2011 - BVerwG
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10 C 2.10 -, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vor-
gesehen, Rn. 26). Dabei liegt mangels einheitlicher internationaler Kriterien (vgl.
die Länderberichte in: Sieber/Cornils, Nationales Strafrecht in rechtsverglei-
chender Darstellung, Teilband 4 Tatbeteiligung, Berlin 2010) grundsätzlich zu-
nächst eine Orientierung an den Regeln des nationalen Strafrechts zur Täter-
schaft und Teilnahme nahe. Erfasst wird mithin sowohl der Täter als auch der
Anstifter einer schweren nichtpolitischen Straftat. Auch der in sonstiger Weise
Beteiligte ist für eine schwere nichtpolitische Straftat verantwortlich, wenn er
eine strafrechtlich relevante Beihilfe begangen hat. Allerdings muss auch im
Fall der Beihilfe der Tatbeitrag nach seinem Gewicht dem einer schweren
nichtpolitischen Straftat im Sinne dieser Vorschrift entsprechen. Denn durch die
Regelung über die Anstiftung und Beteiligung in sonstiger Weise in Art. 12
Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG und § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG sollte der Aus-
schlussgrund des Art. 1 F GFK, der eine solche Regelung nicht enthält, nicht
erweitert, sondern mit Rücksicht auf das unterschiedliche Verständnis von Tä-
terschaft, Anstiftung und sonstigen Beteiligungsformen in den Strafrechtsord-
nungen der Mitgliedstaaten lediglich präzisiert werden (ebenso UK Supreme
Court, Urteil vom 17. März 2010, [2010] UKSC 15, Rn. 33). Das Berufungsge-
richt wird daher prüfen müssen, ob vorliegend schwerwiegende Gründe für die
Annahme sprechen, dass der Kläger durch seine Unterstützung insbesondere
der DHKP/C in der Türkei zumindest als Teilnehmer eine schwere nichtpoliti-
sche Straftat begangen hat.
Sollte das Berufungsgericht - auch nach erneuter Klärung und Bewertung der
positiven Voraussetzungen - zu dem Ergebnis kommen, dass einer Anerken-
nung des Klägers als Flüchtling ein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylVfG
entgegensteht, wird es den vom Kläger hilfsweise gestellten Anträgen auf Fest-
stellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nachzu-
gehen haben. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu prüfen, ob der
Kläger sich mit Blick auf die ihm drohende Behandlung bei einer Rückkehr nicht
zumindest auf das - keinem Ausschluss unterliegende - Abschiebungsverbot
des Art. 3 EMRK berufen kann.
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- 14 -
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert er-
gibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Richter
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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