Urteil des BVerwG vom 24.09.2009

Gesetzliche Vermutung, Flüchtlingseigenschaft, Überzeugung, Grundrecht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 25.08
VGH 14 B 05.31264
Verkündet
am 24. September 2009
von Förster, Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. September 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend
für erledigt erklärt haben (hinsichtlich der Abschiebungs-
androhung in den Iran in Nr. 3 des Bescheids des Bun-
desamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. April 2003),
wird das Verfahren eingestellt.
Insoweit sind der Beschluss des Bayerischen Verwal-
tungsgerichtshofs vom 14. Juni 2007 und das Urteil des
Verwaltungsgerichts Regensburg vom 9. Dezember 2005
wirkungslos.
Im Übrigen wird auf die Revision der Beklagten der Be-
schluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
14. Juni 2007 aufgehoben, soweit er die Flüchtlingsaner-
kennung betrifft.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
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Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein im April 1984 geborener iranischer Staatsangehöriger, begehrt
die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger kam zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im Au-
gust 1999 nach Deutschland und beantragte Asyl. In diesem Verfahren wurden
von ihm keine eigenen Asylgründe geltend gemacht. Das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge - Bundesamt -) lehnte den Antrag ab. Die Entscheidung ist seit
Mai 2000 bestandskräftig.
Im Dezember 2000 stellte der Kläger erneut einen Asylantrag (Folgeantrag),
den er mit exilpolitischen Aktivitäten für die „Organisation zum Schutz der Rech-
te iranischer Christen“ und die „Konstitutionalistische Partei Irans“ begründete.
Auch dieser Antrag hatte keinen Erfolg. Die Entscheidung ist seit August 2002
bestandskräftig.
Im April 2003 stellte der Kläger einen weiteren Folgeantrag und machte geltend,
er habe Anfang 2003 an einem regimekritischen Theaterstück über die
politische Justiz im Iran mitgewirkt, das über einen Fernsehsender in den Iran
ausgestrahlt worden sei. Mit Bescheid vom 22. April 2003 lehnte das Bundes-
amt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und die Abänderung der
Feststellung zu § 53 AuslG ab (Nr. 1 und 2 des Bescheides) und drohte dem
Kläger die Abschiebung in den Iran an (Nr. 3 des Bescheides).
Nach Rücknahme des Begehrens auf Anerkennung als Asylberechtigter hat das
Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 1 und 3 des Be-
scheides vom 22. April 2003 zu der Feststellung verpflichtet, dass beim Kläger
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die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf den Iran vorlie-
gen. Durch die innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgebrachten neuen
politischen Aktivitäten habe sich die Sachlage geändert. Dem Kläger drohe
nunmehr bei Rückkehr Verfolgung. Hiergegen hat die Beklagte Berufung einge-
legt. Während des Berufungsverfahrens hat das Bundesamt mit Bescheid vom
9. August 2006 zugunsten des Klägers das Vorliegen eines Abschiebungsver-
bots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iran festgestellt. Mit Beschluss
vom 14. Juni 2007 hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung der Beklagten
zurückgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Kläger habe einen An-
spruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Die
Berufung auf die im Folgeverfahren geltend gemachte exilpolitische Betätigung
sei ihm nicht verwehrt. Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Regelaus-
schluss nach § 28 Abs. 2 AsylVfG sei zwar auch auf bereits eingeleitete Folge-
verfahren anwendbar. Er greife aber nicht ein, wenn sich der Ausländer - wie
hier - auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch
keine feste Überzeugung habe bilden können (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Bundesverwaltungsgericht
zugelassenen Revision. Die Auffassung des Berufungsgerichts zur Auslegung
des § 28 Abs. 2 AsylVfG finde weder im Gesetzestext noch in den Materialien
eine Stütze. Die inzwischen geänderte und im Revisionsverfahren zugrunde zu
legende Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG enthalte keine Bezugnahme auf § 28
Abs. 1 AsylVfG. Der Gesetzgeber habe mit § 28 Abs. 2 AsylVfG dem Asyl-
missbrauch durch gefahrlose Verfolgungsprovokation vom sicheren Zufluchts-
land aus entgegenwirken wollen. Aus dem Wortlaut der Neufassung ergebe
sich, dass § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG keine Anwendung finde. Selbst wenn
man unterstelle, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 28 Abs. 1 AsylVfG
sinngemäß auf § 28 Abs. 2 AsylVfG anzuwenden sei, sei der Kläger nicht als
Flüchtling anzuerkennen, da er bei Stellung des zweiten Folgeantrages bereits
volljährig gewesen sei.
Der Kläger tritt der Revision entgegen und verteidigt das Berufungsurteil.
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Der Bundesbeauftragte für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der
Vertreter des Bundesinteresses haben sich am Verfahren beteiligt und sind mit
der Beklagten der Auffassung, dass § 28 Abs. 2 AsylVfG auch auf im jugendli-
chen Alter eingereiste Ausländer Anwendung findet.
In der Revisionsverhandlung hat die Beklagte auf Hinweis des Gerichts klarge-
stellt, dass das im Bescheid des Bundesamts vom 9. August 2006 festgestelltes
Abschiebungsverbot dahin zu verstehen ist, dass es sich nunmehr auf den
subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG bezieht. Da der Kläger inzwi-
schen im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, haben die Beteiligten den
Rechtsstreit hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in den Iran in Nr. 3 des
Bescheides des Bundesamts vom 22. April 2003 übereinstimmend für erledigt
erklärt.
II
Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit teilweise für erledigt erklärt haben, ist
das Verfahren insoweit in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO
i.V.m. §§ 141 Satz 1, 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO einzustellen. Zugleich ist gemäß
§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 ZPO festzustellen, dass die Entscheidungen
der Vorinstanzen insoweit wirkungslos sind.
Hinsichtlich des nur noch anhängigen Begehrens des Klägers auf Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft ist die Revision der Beklagten begründet. Das Beru-
fungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlings-
eigenschaft mit einer Begründung bejaht, die mit Bundesrecht nicht zu verein-
baren ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar liegen die Voraussetzungen des
§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für die Durchführung
eines weiteren Asylverfahrens vor (1.). Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden
ist auch die Feststellung des Berufungsgerichts, dass der Kläger aufgrund der
von ihm nach Abschluss des vorangegangenen Folgeverfahrens geschaffenen
Nachfluchttatbestände im Falle der Rückkehr in den Iran mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit Bedrohungen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG
ausgesetzt wäre (2.) Die Begründung des Berufungsgerichts, warum der Re-
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gelausschlusstatbestand des § 28 Abs. 2 AsylVfG hier ausnahmsweise nicht
eingreift, hält aber revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand (3.). Da der Senat
mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil in der
Sache nicht selbst abschließend entscheiden kann, ob der Kläger einen An-
spruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat (4.), war das angefoch-
tene Urteil insoweit aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der vom Kläger begehrten Zuerken-
nung der Flüchtlingseigenschaft ist das Asylverfahrensgesetz in der Fassung
der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geän-
dert durch Art. 18 FGG-Reform-Gesetz vom 17. Dezember 2008 (BGBl I
S. 2586). Das Berufungsgericht müsste, wenn es jetzt entschiede, gemäß § 77
Abs. 1 AsylVfG auf die nunmehr geltende Rechtslage abstellen. Deshalb ist der
Entscheidung des Revisionsgerichts auch die durch das Gesetz zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu gefasste Vorschrift des § 28 AsylVfG
zugrunde zu legen (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - BVerwG 10 C 27.07 -
BVerwGE 133, 31 Rn. 9).
1. Die in § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG geregelten
Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen
vor. Die Teilnahme an einem regimekritischen Theaterstück, das über das
Fernsehen im Iran zu sehen war, begründet eine nachträgliche Änderung der
Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, die sich mit Blick auf die Flüchtlings-
anerkennung zu Gunsten des Klägers auswirken kann. Die Änderung der Sach-
lage wurde ausweislich der vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Akten
innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG geltend gemacht. Die
Revision erhebt insoweit keine Einwände.
2. Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
hat sich das Berufungsgericht der Auffassung des Verwaltungsgerichts ange-
schlossen, dass dem Kläger wegen der von ihm im jetzigen Folgeverfahren gel-
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tend gemachten Aktivitäten bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit Verfolgung drohe. Auch dagegen erhebt die Revision keine Ein-
wände. Die Verfolgungsprognose ist, gemessen am Prüfungsmaßstab des § 60
Abs. 1 Satz 1 AufenthG, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft aber mit einer Begründung bejaht, die mit § 28 Abs. 2
AsylVfG nicht vereinbar ist. Nach dieser Bestimmung kann in einem Folgever-
fahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn
der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylan-
trags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach
Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst
geschaffen hat.
a) Im Ergebnis zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass
die Vorschrift, die in ihrer ursprünglichen Fassung durch Art. 3 Nr. 18 des Zu-
wanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) am 1. Januar 2005 in
Kraft getreten ist, auch bereits zuvor geschaffene Nachfluchttatbestände er-
fasst. Da eine Übergangsvorschrift fehlt, verbleibt es bei der Regelung des § 77
Abs. 1 AsylVfG. Die tatbestandliche Rückanknüpfung der Vorschrift ist verfas-
sungsrechtlich nicht zu beanstanden. Für ein schutzwürdiges Vertrauen des
Klägers ist weder etwas vorgetragen noch ersichtlich. Zudem genießt der Klä-
ger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG, so dass die Erstreckung
des Regelausschlusses auf bereits verwirklichte Nachfluchttatbestände nicht
unverhältnismäßig erscheint (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - BVerwG
10 C 27.07 - a.a.O. Rn. 12 m.w.N.).
b) Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AsylVfG liegen vor. Die Vorschrift ist
auf alle nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags vom Aus-
länder selbst geschaffenen Nachfluchttatbestände anzuwenden. Der Kläger be-
findet sich inzwischen im zweiten Folgeantragsverfahren. Die Gründe, auf die er
diesen Folgeantrag stützt, hat er zu einem Zeitpunkt geschaffen, als die
ablehnenden Entscheidungen in den beiden vorangegangenen Asylverfahren
bereits bestandskräftig waren. Damit ist der Tatbestand des § 28 Abs. 2
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AsylVfG erfüllt und es tritt die gesetzliche Rechtsfolge ein, derzufolge die
Flüchtlingseigenschaft in der Regel nicht zuerkannt werden kann.
c) Das Berufungsgericht hat es - allerdings zu § 28 Abs. 2 AsylVfG in der mitt-
lerweile überholten ursprünglichen Fassung der Vorschrift - in Anlehnung an
§ 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG für die Nichtanwendung des Regelausschlusses
ausreichen lassen, dass sich der Kläger auf Grund seines Alters und Entwick-
lungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.
Dem folgt der Senat nicht. § 28 Abs. 1 AsylVfG regelt die Beachtlichkeit selbst
geschaffener Nachfluchttatbestände beim Grundrecht auf Asyl nach Art. 16a
Abs. 1 GG. § 28 Abs. 2 AsylVfG betrifft dagegen die Gewährung von Flücht-
lingsschutz in Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindest-
normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen
Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom
29. April 2004 (ABl EG Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG
Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24 - sog. Qualifikationsrichtlinie). Hier reicht es
- jedenfalls nach der durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August
2007 modifizierten Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG - zur Widerlegung der
gesetzlichen Regelvermutung nicht aus, dass der Ausländer die Vor-
aussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG erfüllt, unter denen bei der Asyl-
anerkennung ein selbstgeschaffener Nachfluchttatbestand ausnahmsweise
beachtlich ist. Denn der Berücksichtigungsfähigkeit selbst geschaffener Nach-
fluchttatbestände liegen beim Grundrecht auf Asyl und bei der Flüchtlingsaner-
kennung unterschiedliche Regelungsmodelle zugrunde. Bei § 28 Abs. 2
AsylVfG sind daher die Maßstäbe für die Abgrenzung des Regelausschlusses
von einem Ausnahmefall, in dem in einem Folgeverfahren bei der Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft subjektive Nachfluchtgründe ausnahmsweise be-
achtlich sind, nicht § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern dem vom Gesetzgeber bei der
Flüchtlingsanerkennung gewählten Regelungsmodell und dem damit verfolgten
Zweck zu entnehmen (vgl. Urteil des Senats vom 18. Dezember 2008 - BVerwG
10 C 27.07 - a.a.O. Rn. 13 ff. zur Nichtanwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG bei § 28 Abs. 2 AsylVfG).
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Mit § 28 Abs. 1 AsylVfG hat der Gesetzgeber beim Grundrecht auf Asyl die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Asylrelevanz von Nach-
fluchtgründen aufgegriffen. Danach setzt das Grundrecht auf Asyl schon von
seinem Tatbestand her grundsätzlich einen kausalen Zusammenhang zwischen
(drohender) Verfolgung und Flucht voraus. Eine Erstreckung auf Nachflucht-
gründe kann deshalb nur insoweit in Betracht kommen, als sie nach dem Sinn
und Zweck der Asylverbürgung, wie sie dem Normierungswillen des Verfas-
sungsgebers entspricht, gefordert ist. Nach Verlassen des Herkunftslands aus
eigenem Willensentschluss geschaffene Verfolgungstatbestände sind daher nur
in Ausnahmefällen als Asylgrund anzuerkennen (vgl. BVerfG, Beschluss vom
26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 - BVerfGE 74, 51). Die maßgebliche Zäsur
tritt beim Grundrecht auf Asyl also schon mit dem Verlassen des Herkunftslands
ein. Folgerichtig stellt sich hier die Frage der Beachtlichkeit selbstgeschaffener
Nachfluchtgründe nicht erst im Folgeverfahren, sondern schon im
Erstverfahren. Entsprechend wird nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ein Auslän-
der in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politi-
scher Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen des Herkunfts-
lands aus eigenem Entschluss geschaffen hat. Dies gilt allerdings nicht, wenn
der Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten
Überzeugung entspricht (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylVfG) oder der Aus-
länder sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland
noch keine feste Überzeugung bilden konnte (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).
Demgegenüber richtet sich die Beachtlichkeit selbst geschaffener Nachflucht-
tatbestände bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den Vorga-
ben der Richtlinie 2004/83/EG und deren Umsetzung durch den deutschen Ge-
setzgeber in § 28 Abs. 1a und 2 AsylVfG. Danach sind hier - anders als beim
Grundrecht auf Asyl - selbst geschaffene Nachfluchttatbestände, die bis zur
Unanfechtbarkeit des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, uneingeschränkt
zu berücksichtigen (vgl. § 28 Abs. 1a AsylVfG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie
2004/83/EG). Mit der Neuregelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG hat der deutsche
Gesetzgeber aber - in Ausübung der den Mitgliedstaaten in Art. 5 Abs. 3 der
Richtlinie 2004/83/EG eingeräumten Regelungsoption - festgelegt, dass einem
Ausländer in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht
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zuerkannt werden darf, wenn der Folgeantrag auf Umstände gestützt ist, die der
Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren
Asylantrags selbst geschaffen hat.
Schafft ein Ausländer in Kenntnis der Erfolglosigkeit eines oder gar mehrerer
Asylverfahren einen Nachfluchtgrund, spricht viel dafür, dass er mit diesem
Verhalten nur die Voraussetzungen herbeiführen will, um in einem (weiteren)
Folgeverfahren seinem Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Der Gesetzgeber hat deshalb mit der - im
Einzelfall widerlegbaren - Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG die Beru-
fung auf Nachfluchttatbestände, die nach negativem Abschluss eines Asylver-
fahrens von dem Betreffenden selbst geschaffen werden, unter Missbrauchs-
verdacht gestellt. Die für das Verständnis der Vorschrift entscheidende zeitliche
Zäsur liegt hier also - anders als beim Grundrecht auf Asyl - nicht in der Ausrei-
se, sondern im erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens. Bei allen vom Aus-
länder nach diesem Zeitpunkt geschaffenen Nachfluchttatbeständen wird re-
gelmäßig ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes ver-
mutet. Damit erübrigt sich ein positiver Nachweis des finalen Zusammenhangs
zwischen dem selbst geschaffenen Nachfluchttatbestand und dem erstrebten
Flüchtlingsstatus im Einzelfall. § 28 Abs. 2 AsylVfG verlagert die Substantiie-
rungs- und die objektive Beweislast auf den Ausländer, der die gesetzliche
Vermutung widerlegen muss, um in den Genuss der Flüchtlingsanerkennung zu
gelangen (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - BVerwG 10 C 27.07 - a.a.O.
Rn. 14).
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann daher bei Ausländern, die
als Jugendliche eingereist sind und sich in einem Folgeverfahren auf neue exil-
politische Aktivitäten berufen, § 28 Abs. 2 AslyVfG nicht bereits dann außer
Betracht bleiben, wenn sie sich bei Verlassen des Herkunftslands auf Grund
ihres Alters und Entwicklungsstands noch keine feste politische Überzeugung
bilden konnten. Die entsprechende, für das Asylgrundrecht geltende Regelung
in § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG findet im Rahmen von § 28 Abs. 2 AsylVfG keine
Anwendung. Die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG gilt vielmehr auch in
Fällen, in denen sich der Ausländer alters- und entwicklungsbedingt im Her-
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kunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte, diesen Entwicklungs-
stand aber - wie hier - vor Abschluss des vorangegangenen Asylverfahrens er-
reicht hat.
Dabei ist davon auszugehen, dass in aller Regel bereits mit Vollendung des
16. Lebensjahrs, spätestens jedoch mit Vollendung des 18. Lebensjahrs die
Herausbildung einer festen politischen Überzeugung möglich ist. Ein Anhalts-
punkt dafür, dass diese Reife regelmäßig schon von einem 16-Jährigen erwar-
tet werden kann, ergibt sich aus § 12 Abs. 1 AsylVfG. Danach ist ein Ausländer
im Asylverfahren, sofern er nicht nach Maßgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs
geschäftsunfähig oder im Falle seiner Volljährigkeit in dieser Angelegenheit zu
betreuen und einem Einwilligungsvorbehalt zu unterstellen wäre, mit Vollendung
des 16. Lebensjahrs handlungsfähig. Geht der Gesetzgeber davon aus, dass
ein Jugendlicher typischerweise bereits mit 16 Jahren in der Lage ist, selbst ein
Asylverfahren durchzuführen und die damit verbundenen Chancen und Risiken
einzuschätzen, spricht dies dafür, dass er in diesem Alter in aller Regel auch
schon die Reife zum Innehaben einer festen politischen Überzeugung besitzt.
Im Übrigen ist spätestens mit Vollendung des 18. Lebensjahrs
„Politikmündigkeit“ anzunehmen. Der Gesetzgeber hat an diese Altersgrenze
nicht nur den Eintritt der Volljährigkeit (vgl. § 2 BGB), sondern auch das aktive
und das (allgemeine) passive Wahlrecht geknüpft (vgl. Art. 38 Abs. 2 GG).
Damit greift hier die - im Einzelfall allerdings widerlegbare - Regelvermutung
des § 28 Abs. 2 AsylVfG ein. Denn der Kläger war bei Abschluss seines ersten
Folgeverfahrens im August 2002 bereits volljährig und damit in der Lage, sich
eine feste politische Überzeugung zu bilden. Dies zeigt sich auch daran, dass
er sich schon damals - wenngleich eher in untergeordneter Weise - politisch
betätigt hat.
4. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts
kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob die Regelvermutung des § 28
Abs. 2 AsylVfG im Fall des Klägers der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
entgegensteht oder ob ein Ausnahmefall vorliegt. Das Verfahren ist deshalb an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen. In dem erneuten Berufungsverfahren
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hat das Berufungsgericht zu klären, ob der Kläger die gesetzliche Regelvermu-
tung des § 28 Abs. 2 AsylVfG zu widerlegen vermag.
Hierfür genügt allerdings nicht, dass der Kläger sich schon vor Abschluss des
dem streitgegenständlichen Folgeverfahren vorausgegangenen (ersten) Folge-
verfahrens exilpolitisch betätigt hat. Wie der Senat bereits mit Urteil vom
18. Dezember 2008 entschieden hat, ist den Vorgaben in Art. 5 Abs. 2 und 3
der Richtlinie 2004/83/EG zu entnehmen, dass das Kriterium der Kontinuität
nach außen betätigter politischer Überzeugung auch gemeinschaftsrechtlich
legitim ist und Indizwirkung besitzen kann, ohne jedoch allein zur Widerlegung
der Vermutung auszureichen. Bleibt das Betätigungsprofil des Betroffenen nach
Abschluss des Asylverfahrens unverändert, liegt die Annahme einer miss-
bräuchlichen Verknüpfung von Nachfluchtaktivitäten und begehrtem Status eher
fern. Wird der Asylbewerber jedoch nach einem erfolglosen Asylverfahren
erstmals exilpolitisch aktiv oder intensiviert er seine bisherigen Aktivitäten, muss
er dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, dies geschehe
in erster Linie, um die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu
schaffen. Dazu hat der Tatrichter die Persönlichkeit des Asylbewerbers und
dessen Motive für seine erstmalig aufgenommenen oder intensivierten Ak-
tivitäten vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens und seines Vor-
fluchtschicksals einer Gesamtwürdigung zu unterziehen (vgl. Urteil vom 18. De-
zember 2008 - BVerwG 10 C 27.07 - a.a.O. Rn. 16).
Bei dieser Gesamtwürdigung wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob
der Kläger gute Gründe dafür hat, warum er seine exilpolitischen Aktivitäten
nach dem erfolglosen Abschluss seines ersten Folgeverfahrens ausgeweitet
und an einem regimekritischen Theaterstück mitgewirkt hat, das über das Fern-
sehen in den Iran ausgestrahlt wurde. Bei der Frage, ob die vom Kläger nun-
mehr geltend gemachten politischen Aktivitäten unter Berücksichtigung seiner
früheren Aktivitäten im Bundesgebiet die erforderliche Kontinuität aufweisen, ist
zu berücksichtigen, dass bei Jugendlichen an die Betätigung ihrer politischen
Überzeugung nur alters- und entwicklungsentsprechende Anforderungen ge-
stellt werden können. Andererseits ist hier aber auch in den Blick zu nehmen,
dass der Kläger - wie auch die anderen Angehörigen seiner Familie - mit seinen
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exilpolitischen Aktivitäten erst nach Abschluss des asylrechtlichen Erstverfah-
rens begonnen hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das 16. Lebensjahr bereits
vollendet. Da von einem Jugendlichen nach den obigen Grundsätzen in aller
Regel bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahrs das Innehaben einer festen
politischen Überzeugung erwartet werden kann, wirft dies die Frage auf, warum
er nicht schon vor, sondern erst nach Abschluss des Erstverfahrens begonnen
hat, seine politische Überzeugung kundzutun.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Se-
nat geht davon aus, dass der im Revisionsverfahren übereinstimmend für erle-
digt erklärte Teil des Rechtsstreits (betreffend die Abschiebungsandrohung in
den Iran) so geringfügig ist, dass er kostenrechtlich nicht ins Gewicht fällt (vgl.
§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1
RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr .Dörig Richter
Beck Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 12 Abs. 1, §§ 28, 71 Abs. 1, § 77 Abs. 1
AufenthG
§ 60 Abs. 1 Satz 1
VwVfG
§ 51
Richtlinie 2004/83/EG Art. 5
Stichworte:
Asyl; Flüchtlingseigenschaft; Asylantrag; Folgeantrag; Erstverfahren; Folgever-
fahren; selbst geschaffener Nachfluchttatbestand; politische Überzeugung;
exilpolitische Betätigung; Regelausschlussgrund; gesetzliche Vermutung; Aus-
nahmefall; Missbrauch; Handlungsfähigkeit; jugendlicher Asylbewerber; Poli-
tikmündigkeit; Altersgrenze.
Leitsätze:
1. Stützt ein Ausländer seinen Asylfolgeantrag auf neue selbst geschaffene
exilpolitische Nachfluchtaktivitäten, greift der Regelausschlussgrund für die Zu-
erkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 28 Abs. 2 AsylVfG auch dann ein,
wenn der Ausländer zwar bei Verlassen des Herkunftslands alters- und ent-
wicklungsbedingt noch nicht in der Lage war, sich eine feste politische Über-
zeugung zu bilden, er diesen Entwicklungsstand aber vor Abschluss des dem
Folgeantrag vorausgegangenen Asylverfahrens erreicht hat. Hiervon ist in aller
Regel mit Vollendung des 16. Lebensjahrs, spätestens jedoch mit Vollendung
des 18. Lebensjahrs auszugehen.
2. Zur Widerlegung der Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG muss der
Ausländer gute Gründe dafür anführen, warum er nach einem erfolglosen Asyl-
verfahren erstmalig exilpolitisch aktiv geworden ist oder seine bisherigen Aktivi-
täten ausgeweitet hat (so schon BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008
- BVerwG 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31).
Urteil des 10. Senats vom 24. September 2009 - BVerwG 10 C 25.08
I. VG Regensburg vom 09.12.2005 - Az.: VG RN 11 K 05.30343 -
II. VGH München
vom 14.06.2007 - Az.: VGH 14 B 05.31264 -