Urteil des BVerwG vom 25.11.2008

Politische Verfolgung, Neue Beweismittel, Grobes Verschulden, Genfer Flüchtlingskonvention

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 25.07
OVG 10 A 10665/05
Verkündet
am 25. November 2008
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. November 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und
Prof. Dr. Kraft und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. März 2006
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft.
1
- 3 -
Der Kläger reiste im Februar 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte
Asyl. Zur Begründung seines Antrags gab er an, sich als Schriftsteller und Jour-
nalist für die Verbreitung des Islam einzusetzen. Deswegen habe er bereits eine
15-monatige Gefängnisstrafe verbüßt und sei im Jahr 1980 als Wiederho-
lungstäter unter dem Vorwurf islamistischer Propaganda, des Verstoßes gegen
das Laizismusgebot sowie des Versuchs der Spaltung der Türkei zu einer Ge-
fängnisstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Während des Berufungsverfah-
rens sei er untergetaucht; daraufhin habe man ihn im Juli 1983 ausgebürgert.
Veröffentlicht habe er u.a. in der Zeitschrift S., deren Redakteure ab 1995 straf-
rechtlich verfolgt worden seien. Im Bundesgebiet setze er seine journalistische
Tätigkeit fort und unterhalte deshalb Kontakte zu vielen islamischen Gruppie-
rungen.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte den Antrag mit Be-
scheid vom 7. September 1999 ab. Die dagegen erhobene Klage wies das Ver-
waltungsgericht mit Urteil vom 17. April 2000 ab; den Antrag des Klägers auf
Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom
13. August 2001 ab.
Zur Begründung seines Folgeantrags vom 14. September 2001 legte der Kläger
u.a. eine Anklageschrift sowie einen Trennungsbeschluss der türkischen
Staatsanwaltschaft vom 11. Juli 2000 vor und machte geltend, dass gegen Re-
dakteure der Zeitung S. Anklage wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu
einer Terrororganisation erhoben und mehrfach die Todesstrafe gefordert wor-
den sei. Auch gegen ihn sei ermittelt worden. In der Anklageschrift werde er
beschuldigt, sich als Führungsperson und Kontaktmann dieser Organisation
betätigt zu haben. Er sei nur deshalb nicht mitangeklagt worden, weil man
„seiner nicht habhaft geworden“ sei.
Das Bundesamt hielt die Beweismittel für gefälscht und lehnte mit Bescheid
vom 17. Dezember 2003 die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab.
Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hat das Auswärtige Amt bestätigt,
dass sowohl die Anklageschrift als auch der Trennungsbeschluss echt seien.
2
3
4
5
- 4 -
Der namentlich genannte Kläger sei im Jahr 1983 ausgebürgert und 1992 wie-
der eingebürgert worden; wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Hizbul-
lah und Aktivitäten für diese Organisation sei er in der Türkei zur Fahndung
ausgeschrieben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers abgewie-
sen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des
Klägers verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass auf den Folgean-
trag ein weiteres Asylverfahren durchzuführen sei. Der neue Vortrag sowie die
vorgelegten Beweismittel hätten im ersten Asylverfahren während des Antrags
auf Zulassung der Berufung nicht mehr berücksichtigt werden können. Der Fol-
geantrag sei fristgerecht gestellt worden; denn der Lauf der Dreimonatsfrist des
§ 51 Abs. 3 VwVfG sei bis zum Eintritt der Rechtskraft des verwaltungsgerichtli-
chen Urteils im Erstverfahren gehemmt. Vor Abschluss des ersten Asylverfah-
rens habe der Kläger keinen Folgeantrag stellen können. Das gebotene Wie-
deraufgreifen des Asylverfahrens führe zur Feststellung der Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 AufenthG. Es sei davon auszugehen, dass der zur Fahndung
ausgeschriebene Kläger bei Rückkehr in die Türkei den Strafverfolgungsbehör-
den überstellt würde und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevan-
ten Repressalien ausgesetzt wäre. Trotz der Reformen in der Türkei gehe der
Senat davon aus, dass jedenfalls als exponierte und ernstzunehmende Gegner
des Staates in Erscheinung getretene politische Aktivisten mit schwerwiegen-
den Übergriffen rechnen müssten. Hinsichtlich des Klägers erscheine für die
türkischen Sicherheitskräfte und Strafverfolgungsbehörden die Annahme einer
qualifizierten politischen Gegnerschaft besonders naheliegend. Denn dieser sei
als Schriftsteller und Journalist wiederholt wegen islamistischer Propaganda,
Verstoßes gegen das Laizismusgebot und Versuchs der Spaltung der Türkei zu
Haftstrafen verurteilt worden und habe sich der Verbüßung der zuletzt verhäng-
ten Strafe durch Untertauchen entzogen. Daraufhin sei er im Jahr 1983 vom
türkischen Staat ausgebürgert worden; von der ihm 1993 eingeräumten Mög-
lichkeit der Wiedereinbürgerung habe er keinen Gebrauch gemacht. Die ge-
setzlichen Ausschlussgründe für die Flüchtlingsanerkennung griffen nicht durch.
Den vorliegenden Auskünften des Verfassungsschutzes lasse sich nicht
entnehmen, dass der Kläger sich im Bundesgebiet über seine journalistische
6
- 5 -
Tätigkeit hinaus etwa gewaltbereiten Organisationen angeschlossen habe oder
eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Schwerwiegende Gründe rechtfer-
tigten insbesondere nicht die Annahme, dass er vor seiner Einreise in das Bun-
desgebiet eine schwere nichtpolitische Straftat begangen habe. Die in der türki-
schen Anklageschrift wiedergegebenen Ermittlungsergebnisse könnten nicht als
überzeugende Belege für seine Einbindung in eine terroristische Organisation
angesehen werden; denn die Ermittlungen könnten auch darauf gerichtet sein,
den Kläger als missliebigen Journalisten und Schriftsteller zum Schweigen zu
bringen. In der mündlichen Verhandlung habe der Kläger glaubhaft dargelegt,
dass er aufgrund seiner religiösen Überzeugung jeglichen Terror ablehne. Es
bestünden keine überzeugenden Belege dafür, dass er aufgrund einer aktiven
Einbindung in die terroristische Szene in der Türkei oder seine journalistischen
Betätigung dem Terrorismus unmittelbar Vorschub geleistet habe.
Mit ihrer vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision rügt die Be-
klagte, dem Berufungsurteil fehle jede Begründung dazu, warum der Kläger
nach festgestellter Ausbürgerung als Staatenloser Flüchtling sein könne. Ferner
sei nicht ausreichend dargetan, aufgrund welcher Erkenntnisse dem Kläger bei
einer unterstellten Rückkehr in die Türkei trotz der innenpolitischen Reformen
eine relevante Verfolgung drohe. Schließlich habe das Berufungsgericht an das
Vorliegen des Ausschlussgrundes der Zuwiderhandlung gegen die Ziele und
Grundsätze der Vereinten Nationen zu hohe Anforderungen gestellt.
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.
II
Die Revision der Beklagten ist ungegründet. Das Berufungsgericht hat die Be-
klagte ohne Verstoß gegen revisibles Recht zur Flüchtlingsanerkennung des
Klägers verpflichtet. Auf dessen Folgeantrag war ein weiteres Asylverfahren
durchzuführen (1.). Die aufgrund der neuen Sachlage getroffene Würdigung
des Berufungsgerichts, dem Kläger drohe in der Türkei politische Verfolgung
7
8
9
- 6 -
(2.) und die Voraussetzungen der Ausschlussgründe für die Flüchtlingsaner-
kennung lägen nicht vor (3.), ist nicht zu beanstanden.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asyl-
verfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008
(BGBl I S. 1798) sowie § 60 AufenthG in der Fassung des Richtlinienumset-
zungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970). Das Berufungsgericht
müsste, wenn es jetzt entschiede, gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die nunmehr
geltende Rechtslage abstellen. Deshalb sind die durch das Gesetz zur Umset-
zung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19. August 2007 eingetretenen Rechtsänderungen auch der Entscheidung des
Revisionsgerichts zugrunde zu legen (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG
1 C 21.04 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 15, stRspr).
1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist vom Bundesamt auf einen nach
Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags ge-
stellten Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
vorliegen. Nach dieser Vorschrift setzt ein Antrag auf Wiederaufgreifen des
Verfahrens u.a. voraus, dass eine Änderung der Sach- oder Rechtslage einge-
treten ist oder neue Beweismittel vorliegen und die Geeignetheit dieser Um-
stände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt
wird (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1987 - BVerwG 9 C 285.86 - BVerwGE 78,
332 <336 f.>). Das ist hier der Fall.
In den durch die Anklageschrift und den Trennungsbeschluss vom 11. Juli 2000
dokumentierten Ermittlungen türkischer Strafverfolgungsbehörden gegen den
Kläger liegt eine nachträgliche Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1
VwVfG, die sich mit Blick auf die Flüchtlingsanerkennung zu seinen Gunsten
auswirken kann. Darüber hinaus sind die vom Auswärtigen Amt als echt be-
stätigten Urkunden neue Beweismittel i.S.d. Nr. 2 der Vorschrift, die zu einer
günstigeren Beurteilung seines Begehrens führen können, nachdem das Ver-
waltungsgericht im Erstverfahren die früheren Verurteilungen als nicht mehr
kausal für die Ausreise und eine akute Verfolgungsgefahr als nicht überzeu-
10
11
12
- 7 -
gend angesehen hatte. Damit treffen die neuen Beweismittel einen aus der
Perspektive des Erstverfahrens entscheidungserheblichen Punkt (vgl. dazu Ur-
teil vom 15. Dezember 1987 - BVerwG 9 C 285.86 - a.a.O. S. 337).
Der Kläger war ohne grobes Verschulden außerstande, den Grund für das Wie-
deraufgreifen in dem früheren Verfahren insbesondere durch Rechtsbehelf gel-
tend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Anklageschrift und Trennungsbeschluss
sind erst nach der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht im
Erstverfahren ergangen. In das Zulassungsverfahren konnte der Kläger den
neuen Sachvortrag und die Beweismittel nicht einführen. Angesichts des auf die
in § 78 Abs. 3 AsylVfG genannten Zulassungsgründe beschränkten gericht-
lichen Prüfungsmaßstabs war für die Berücksichtigung neuen Tatsachenvor-
trags kein Raum (vgl. Urteil vom 13. November 1984 - BVerwG 9 C 67.84 -
NVwZ 1985, 899 für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der
Revision).
Der Folgeantrag ist innerhalb der gesetzlichen Dreimonatsfrist gestellt worden,
die mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wie-
deraufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG). Die Frist beginnt in
einer Situation wie der hier vorliegenden, in der während des anhängigen - spä-
ter abschlägig entschiedenen - Antrags auf Zulassung der Berufung eine Ände-
rung der Sachlage eintritt bzw. neue Beweismittel vorliegen, erst dann, wenn
ein Folgeantrag gestellt werden darf. Das ist gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
aber erst nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asyl-
antrags möglich, so dass bis zu diesem Zeitpunkt der Fristbeginn hinausge-
schoben wird (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 18. Februar 2000 - 10 A
11821/98 - NVwZ 2000, Beilage Nr. 7 S. 84, Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG,
II-§ 71 Rn. 230; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2008, § 71 Rn. 318). Die Gegenauffas-
sung (OVG Münster, Beschluss vom 3. August 1989 - 18 B 21644/89 -
NVwZ-RR 1990, 518) berücksichtigt nicht, dass die von ihr bevorzugte Lösung
einer Wiedereinsetzung (§ 32 VwVfG) in die Dreimonatsfrist lediglich Härten
abmildern soll, die infolge tatsächlicher Umstände zu einer unverschuldeten
Fristsäumnis führen. Die Wiedereinsetzung setzt aber prinzipiell die rechtliche
Möglichkeit einer fristwahrenden Antragstellung voraus, die für den Kläger nicht
13
14
- 8 -
bestand, weil er den Folgeantrag erst nach unanfechtbarem Abschluss des
Erstverfahrens stellen durfte.
2. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger sei Flüchtling i.S.d. § 3
Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG, erweist sich jedenfalls im Ergebnis
als mit Bundesrecht vereinbar.
Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, der von der Türkei ausgebürger-
te Kläger sei staatenlos geblieben. Dennoch hat es weder untersucht, ob die
Ausbürgerung auf - im flüchtlingsrechtlichen Kontext - politischen Gründen be-
ruht, noch hat es geprüft, ob die Türkei für den Kläger noch als das Land des
gewöhnlichen Aufenthalts angesehen werden kann. Damit verletzen die Ent-
scheidungsgründe jedenfalls auf der Grundlage bisheriger Rechtsprechung
Bundesrecht, denn nicht jede Ausbürgerung stellt automatisch eine flüchtlings-
rechtlich relevante Rechtsverletzung dar (vgl. dazu Urteil vom 24. Oktober 1995
- BVerwG 9 C 3.95 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 180). Die im Zentrum der
Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG stehende Verfolgungsprognose setzt einen
Staat voraus, in den der Betreffende in rechtlich zulässiger Weise zurückkehren
kann. Das ist entweder der Staat der Staatsangehörigkeit oder bei einem Staa-
tenlosen das Land des (früheren) gewöhnlichen Aufenthalts. Löst dieser Staat
aus im asylrechtlichen Sinne nichtpolitischen Gründen die ihn mit einem Staa-
tenlosen verbindenden Beziehungen, steht er ihm in gleicher Weise gegenüber
wie jeder andere auswärtige Staat, so dass die Frage, ob dem Staatenlosen auf
seinem Territorium politische Verfolgung droht, mit Blick auf die Flüchtlingsan-
erkennung gegenstandslos wird (vgl. Urteile vom 15. Oktober 1985 - BVerwG
9 C 30.85 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 39 S. 122 <124 f.> und vom
22. Februar 2005 - BVerwG 1 C 17.03 - BVerwGE 123, 18 <22 f.>).
Gleichwohl erweist sich die angefochtene Entscheidung jedenfalls im Ergebnis
als richtig. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe von der ihm
1993 eingeräumten Möglichkeit einer Wiedereinbürgerung keinen Gebrauch
gemacht und die damit implizit getroffene Feststellung, der Kläger sei im Zeit-
punkt der mündlichen Verhandlung kein türkischer Staatsangehöriger, ist ak-
tenwidrig. Das Auswärtige Amt hat in einer vom Verwaltungsgericht speziell zu
15
16
17
- 9 -
der Person des Klägers eingeholten Auskunft mitgeteilt, dass dieser türkischer
Staatsbürger sei. Nach seiner Ausbürgerung im Jahr 1983 sei er 1992 wieder
eingebürgert worden und in der Provinz S. unter der Identitätsnummer … regist-
riert. Diese konkret zu den Personalien des Klägers recherchierte Auskunft hat
das Berufungsgericht offensichtlich übersehen; denn es hat sich damit trotz
inhaltlich abweichender Sachverhaltswürdigung auch nicht ansatzweise aus-
einander gesetzt. Ein offensichtlicher Widerspruch zwischen einer tatsächlichen
Feststellung im Urteil des Tatsachengerichts und der Aktenlage darf vom Revi-
sionsgericht jedenfalls auch dann ohne Verfahrensrüge von Amts wegen be-
rücksichtigt werden, wenn er sich z.B. - wie hier - aus der Gerichtsakte ergibt.
Ein solcher Widerspruch macht nicht nur eine Beweiswürdigung unrichtig, son-
dern stellt auch eine Rechtsverletzung dar; Bindungswirkung entfaltet eine of-
fensichtlich aktenwidrige Tatsachenfeststellung jedenfalls nicht (vgl. Urteil vom
29. April 1988 - BVerwG 9 C 54.87 - BVerwGE 79, 291 <297 f.>). Nachdem die
Beteiligten im Revisionsverfahren auf entsprechenden gerichtlichen Hinweis
das Bestehen der türkischen Staatsangehörigkeit des Klägers unstreitig gestellt
haben, kann das Revisionsgericht diesen Sachverhalt seiner Entscheidung
zugrunde legen (vgl. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
§ 137 Rn. 151). Damit kommt es auf die von der Beklagten erhobenen Verfah-
rensrügen hinsichtlich der Ausbürgerung des Klägers nicht mehr an.
Die Verfolgungsprognose des Berufungsgerichts, dem wegen Mitgliedschaft in
der Organisation T.S. zur Fahndung ausgeschriebenen, von den türkischen Si-
cherheitsbehörden als exponierten politischen Gegner und Aktivisten eingestuf-
ten Kläger drohe in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische
Verfolgung, ist als in erster Linie tatrichterliche Würdigung revisionsrechtlich
nicht zu beanstanden. Die Rügen der Revision, die Prognose sei spekulativ und
verkenne den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, greifen nicht
durch. Das Berufungsgericht hat nicht auf zu schmaler Tatsachengrundlage
entschieden, sondern die von ihm gestellte Prognose auf vielfältige Quellen
gestützt und umfangreich begründet.
3. Das angefochtene Urteil ist ferner mit Bundesrecht vereinbar, soweit das Be-
rufungsgericht davon ausgegangen ist, dass die Flüchtlingsanerkennung des
18
19
- 10 -
Klägers nicht gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG (zuvor: § 60 Abs. 8 Satz 2
3. Alt. AufenthG a.F.) ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift ist ein Auslän-
der nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die
Annahme gerechtfertigt ist, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten
Nationen zuwidergehandelt hat. Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe
bei der Prüfung dieses Ausschlussgrundes überzogene Anforderungen an das
erforderliche Beweismaß gestellt. Dem folgt der Senat nicht.
Der Gesetzgeber hat in § 3 Abs. 2 AsylVfG die Flüchtlingseigenschaft bereits
dann ausgeschlossen, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme ge-
rechtfertigt ist, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der Tatbestandsmerk-
male für die Ausschlussgründe vorliegen. Diese Formulierung lehnt sich an
Art. 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - an und unterscheidet sich
nicht substanziell von der inzwischen verbindlichen gemeinschaftsrechtlichen
Vorgabe in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie des Rates vom
29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu
gewährenden Schutzes, ABl EG Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EG 2005 Nr. L 204
S. 24 - sog. Qualifikationsrichtlinie), „… wenn schwerwiegende Gründe zu der
Annahme berechtigen, …“. Sie deutet auf ein gegenüber der von § 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO geforderten Überzeugungsgewissheit (vgl. Urteil vom 16. April
1985 - BVerwG 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180 <181 f.>) abgesenktes Be-
weismaß, das insbesondere keine strafgerichtliche Verurteilung voraussetzt
(vgl. die Begründungen des Terrorismusbekämpfungsgesetzes zu der entspre-
chenden Änderung des § 51 Abs. 3 AuslG 1990 in BTDrucks 14/7386 S. 57 und
des Zuwanderungsgesetzes zu § 60 AufenthG in BTDrucks 15/420 S. 91). Wie
weit die Anforderungen abgesenkt werden können, ist insbesondere bei der
Auslegung des Art. 1 F GFK umstritten (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren
und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979, Nr. 149;
Goodwin-Gill/McAdam, The refugee in International Law, 3. Aufl. Oxford 2007,
S. 165 m.w.N. zur Rechtsprechung im anglo-amerikanischen Raum; Zimmer-
mann, DVBl 2006, 1478 <1481>).
20
- 11 -
Welches Beweismaß von § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG im Einzelnen gefordert wird
(vgl. Hailbronner, in: Ausländerrecht, B 2 § 3 Rn. 8; Funke-Kaiser, in:
GK-AsylVfG, II-§ 2 Rn. 63; strenger demgegenüber Marx, AsylVfG, 7. Aufl.
2008, § 3 Rn. 14 ff.), kann angesichts des vorliegenden Falles offen bleiben.
Denn das Berufungsgericht hat nur eine - aus Sicht der Behörde - niedrige
Schwelle gefordert und für das Vorliegen der Ausschlussgründe bereits die „be-
gründete Vermutung“ genügen lassen, dass der Betroffene entsprechend
schwerwiegende Verstöße begangen hat (BU S. 20). Dem stehen auch nicht
die Ausführungen des Berufungsgerichts an anderer Stelle entgegen, in denen
von „Überzeugung“ (BU S. 21, 24) bzw. „überzeugenden Belege“ (BU S. 23, 27)
die Rede ist, weil der Begriff der „Überzeugung“ hier offensichtlich nicht i.S.d.
§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verstehen ist und nicht auf das Regelbeweismaß
der Überzeugungsgewissheit schließen lässt. In Anwendung dieses weit abge-
senkten Maßstabs hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der nicht mit
Verfahrensrügen angegriffenen und daher den Senat gemäß § 137 Abs. 2
VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen in einer Gesamtschau der Per-
son des Klägers und seiner Aktivitäten keine überzeugenden Belege für das
Vorliegen eines Ausschlussgrundes erkennen können; diese Würdigung ist
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Wenn die Beklagte demgegenüber für eine weitere Absenkung des Beweisma-
ßes eintritt und die belegte journalistische Tätigkeit des Klägers als plausible
Erklärung für dessen Kontakte zu Organisationen, die bei türkischen Sicher-
heitsbehörden inzwischen unter Terrorismusverdacht stehen, unberücksichtigt
lassen will, folgt ihr der Senat nicht. Unabhängig von der noch vorzunehmenden
präzisen Festlegung des Beweismaßes bedarf es bei der Prüfung, ob die
tatsächlichen Voraussetzungen der Ausschlussgründe vorliegen, jedenfalls
einer Gesamtwürdigung aller Umstände einschließlich der Aktivitäten und Ein-
lassungen des Betroffenen. Eine selektive Betrachtung nur der belastenden
Umstände wird den Anforderungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG auch an ein
abgesenktes Beweismaß nicht gerecht; gemeinschaftsrechtlicher Klärungsbe-
darf besteht insoweit nicht.
21
22
- 12 -
Hat das Berufungsgericht demzufolge das für die Annahme von Ausschluss-
gründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG notwendige Beweismaß keinesfalls (zulas-
ten des Bundesamtes) zu streng gehandhabt, ist die Revision der Beklagten
unbegründet, ohne dass abschließend geklärt werden müsste, wann zulasten
des Betroffenen schwerwiegende Gründe die Annahme der tatsächlichen Vor-
aussetzungen eines Ausschlussgrundes rechtfertigen. Die Sache erweist sich
auch mit Blick auf die Vorlagen des Senats an den Gerichtshof der Europäi-
schen Gemeinschaften zur Auslegung des Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der
Richtlinie 2004/83/EG (Beschlüsse vom 14. Oktober 2008 - BVerwG 10 C 48.07
und vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 46.07) als entscheidungsreif, weil
es auf die dort aufgeworfenen gemeinschaftsrechtlichen Zweifelsfragen hier
nicht ankommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Richter
Prof. Dr. Kraft Fricke
23
24
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Asylrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 3 Abs. 1 und Abs. 2, § 71 Abs. 1
AufenthG
§ 60 Abs. 1 Satz 1
VwGO
§ 108 Abs. 1, § 137 Abs. 2
VwVfG
§§ 32, 51 Abs. 1 bis 3
Richtlinie 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2
Stichworte:
Aktenwidrige Tatsachenfeststellung; Ausschlussgrund; Beweismaß; Beweismit-
tel; Bindung; Dreimonatsfrist; Flüchtlingsanerkennung; Folgeantrag; Fristbeginn;
Sachlage; Staatsangehörigkeit; Staatenlosigkeit; Tatsachenfeststellung im
Revisionsverfahren; unstreitige Tatsache; Wiedereinsetzung.
Leitsatz:
Bei einem Asylfolgeantrag beginnt die Dreimonatsfrist für die Geltendmachung
der Wiederaufgreifensgründe (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 3
VwVfG) frühestens nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des frü-
heren Asylantrags.
Urteil des 10. Senats vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 25.07
I. VG Koblenz vom 19.01.2005 - Az.: VG 1 K 64/04.KO -
II. OVG Koblenz vom 10.03.2006 - Az.: OVG 10 A 10665/05.OVG -