Urteil des BVerwG vom 29.09.2011

Widerruf, Verfassungskonforme Auslegung, Afghanistan, Bundesamt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 24.10
VGH 8 A 302/09.A
Verkündet
am 29. September 2011
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. September 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessi-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Januar 2010 auf-
gehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf des ihm zuerkannten Abschie-
bungsschutzes hinsichtlich Afghanistans.
Der 1986 in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger pasch-
tunischer Volkszugehörigkeit. Er reiste Ende 2000 nach Deutschland ein und
beantragte Asyl. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
- Bundesamt - im Juli 2001 ab. Zugleich stellte es fest, dass die Voraussetzun-
gen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2
und 4 AuslG nicht vorliegen. Allerdings stellte es fest, dass zugunsten des Klä-
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gers ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich
Afghanistans vorliegt. Diese Feststellung stützte das Bundesamt auf die dem
damals noch minderjährigen Kläger drohende Gefahr einer Zwangsrekrutierung
durch die Taliban oder die Nordallianz.
Mit Bescheid vom 28. September 2006 widerrief das Bundesamt die Feststel-
lung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (Nr. 1)
und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen aus-
geführt, dass sich die innenpolitische Situation in Afghanistan seit dem Sturz
der Talibanherrschaft im November 2001 grundlegend geändert habe. Es sei
nicht zu erwarten, dass das zerschlagene Talibanregime wieder an die Macht
gelange, so dass von den Taliban wieder eine Verfolgungsgefahr ausgehen
könne. Es bestünden für Rückkehrer aus Deutschland aufgrund der allgemei-
nen Versorgungs- und Sicherheitslage auch keine extremen Gefahren, die bei
verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG zur Feststellung
eines Abschiebungsverbots nach dieser Vorschrift führten.
Das Verwaltungsgericht hat den Widerrufsbescheid im Februar 2008 aufgeho-
ben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat der Hessische Verwal-
tungsgerichtshof im Januar 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im
Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG für
den Widerruf des dem Kläger zugebilligten Abschiebungsverbots lägen nicht
vor. Es bestehe für ihn im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere
nach Kabul, eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts. Diese erfordere die Gewährung eines Abschiebungsverbots
in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der
Kläger habe in Afghanistan keine ordnungsgemäße Schulausbildung erhalten
und könne seine Heimatsprache Dari nur eingeschränkt lesen und schreiben.
Er sei bei seiner Ausreise erst 14 Jahre alt gewesen und habe in Afghanistan
weder eine Ausbildung erhalten noch eine Berufstätigkeit ausgeübt. Nach sei-
nem mehr als neunjährigen Aufenthalt in Deutschland erscheine es kaum
denkbar, dass er sein Überleben in den chaotischen Verhältnissen Kabuls
selbst sichern könne. Auch seine Sicherheit sei dort hochgradig gefährdet. Er
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könne nicht auf eine familiäre Unterstützung zurückgreifen. Selbst wenn er aus
dem Ausland ab und zu finanzielle Hilfen erhielte, wäre dies nicht geeignet, sei-
ne Existenz wirksam zu gewährleisten.
Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage. Sie macht gel-
tend, dass der Widerruf des Abschiebungsverbots rechtmäßig sei. Der Verwal-
tungsgerichtshof verfehle die Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts für die
Annahme einer Extremgefahr. Außerdem verletzte er die Anforderungen des
§ 108 Abs. 1 VwGO an die richterliche Überzeugungsbildung, wenn er es für
die Annahme einer derartigen Gefahr ausreichen lasse, dass bestimmte Tatsa-
chen „plausibel“ erscheinen, ohne sich hierzu eine Überzeugung zu bilden.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteres-
ses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich an dem Verfahren beteiligt und
unterstützt die Revision.
II
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Klägers verhandeln
und entscheiden, da dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102
Abs. 2 VwGO).
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Berufungsentschei-
dung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Das Berufungsgericht hat den auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbe-
scheid deshalb als rechtswidrig angesehen, weil es der Auffassung war, dass
dem Kläger in Bezug auf Afghanistan weiterhin Abschiebungsschutz nach nati-
onalem Recht - nunmehr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG - zusteht. Die
hierfür angeführte Begründung ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Mangels
ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts konnte der Senat nicht
selbst abschließend in der Sache entscheiden. Das Verfahren war daher zur
weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzu-
verweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
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Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Gegenstand des
Verfahrens zunächst das Hauptbegehren des Klägers auf Aufhebung des auf
§ 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheids ist. Dieses - hier in erster
und zweiter Instanz erfolgreiche - Begehren ist begründet, wenn die gesetzli-
chen Voraussetzungen für den Widerruf nicht erfüllt sind. Nach § 73 Abs. 3
AsylVfG setzt der Widerruf des nach nationalem Recht gewährten Abschie-
bungsschutzes voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuer-
kannte Abschiebungsverbot (hier nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990) nachträglich
entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach
nationalem Recht (jetzt nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich
der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3) zu gewähren ist. Da-
bei sind alle Rechtsgrundlagen für den nationalen Abschiebungsschutz, der
jedenfalls seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August
2007 einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet, in die
Prüfung einzubeziehen.
Darüber hinaus ist im Falle des Widerrufs eines Abschiebungsschutzes nach
nationalem Recht seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes grund-
sätzlich auch über den neu hinzugekommenen unionsrechtlich begründeten
Abschiebungsschutz zu entscheiden, der seinerseits einen selbstständigen,
nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008
- BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11). Soweit in Übergangsfällen
- wie hier - der Widerrufsbescheid des Bundesamts vor dem 28. August 2007
ergangen ist und deshalb den unionsrechtlich begründeten Abschiebungs-
schutz noch nicht berücksichtigt, ist das Bestehen eines unionsrechtlich be-
gründeten Abschiebungsschutzes im gerichtlichen Verfahren jedenfalls dann
(erstmals) zu prüfen, wenn der Widerruf des an sich nachrangigen nationalen
Abschiebungsschutzes durchgreift. Denn in diesem Fall ist das Klagebegehren
des Klägers regelmäßig - und so auch hier - sachdienlich dahin auszulegen,
dass er zumindest hilfsweise für den Fall des Wegfalls des nationalen Abschie-
bungsschutzes die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines unions-
rechtlich begründeten Abschiebungsverbots erreichen will. Der vorherigen
Durchführung eines Verwaltungsverfahrens beim Bundesamt bedarf es insoweit
nicht. Weiterhin kann in diesen Übergangsfällen der Anspruch auf unionsrecht-
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lich begründeten Abschiebungsschutz im Rechtsstreit um den Widerruf des na-
tionalen Abschiebungsschutzes auch mit einem weiteren Hauptantrag und da-
mit unabhängig von dem Wegfall oder Fortbestand des nationalen Abschie-
bungsschutzes geltend gemacht werden (zur Zulässigkeit eines solchen An-
trags: Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360
Rn. 16 bis 18). Eine Verpflichtung zur Stellung eines solchen weiteren Hauptan-
trags zur Durchsetzung des grundsätzlich vorrangigen unionsrechtlich begrün-
deten Abschiebungsschutzes besteht allerdings in den in die Übergangszeit
fallenden Widerrufsfällen wie dem vorliegenden nicht, da es Sache des Klägers
ist, ob er sich mit dem Fortbestand des bisher gewährten nationalen Abschie-
bungsschutzes begnügen oder daneben zusätzlich den unionsrechtlichen Ab-
schiebungsschutz erstreiten will. Anders als bei der Verpflichtungsklage auf
erstmalige Feststellung von Abschiebungsverboten bedarf es beim Streit um die
Rechtmäßigkeit des Widerrufs eines nach nationalem Recht gewährten Ab-
schiebungsschutzes mit Blick auf die dem Asylverfahrensgesetz zugrunde lie-
gende Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime nicht notwendig der Klä-
rung, ob neben dem einmal gewährten nationalen Abschiebungsschutz auch
noch ein unionsrechtlich begründeter besteht (vgl. aber zur Notwendigkeit ge-
stufter Klageanträge in Erst- oder Folgeschutzverfahren: Urteil vom
8. September 2011 - BVerwG 10 C 14.10 - zur Veröffentlichung in der Ent-
scheidungssammlung BVerwGE vorgesehen Rn. 13).
1. Der Widerruf des Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG im Be-
scheid vom 28. September 2006 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.
Maßgeblich ist hierfür die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Wider-
rufsbescheids (Beschluss vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 46.07 -
Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 24 Rn. 15). Nach § 73 Abs. 3
AsylVfG in der auch derzeit noch unverändert geltenden Fassung vom 30. Juli
2004 (BGBl I S. 1950) ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60
Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzun-
gen nicht mehr vorliegen.
Dem Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG steht die einjährige Ausschlussfrist des
§ 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht entgegen.
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Denn diese Frist beginnt erst mit dem Abschluss des Anhörungsverfahrens
- hier eingeleitet im Juni 2006 - zu laufen (vgl. Urteil vom 1. November 2005
- BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <292>), so dass zum Zeitpunkt des
Widerrufs noch kein Jahr verstrichen war. Die einjährige Ausschlussfrist findet
im Übrigen aber für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG auch kei-
ne Anwendung. Das ergibt sich aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck
der in § 73 AsylVfG getroffenen Regelungen.
Die Frage, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG
auch im Rahmen des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach
§ 73 Abs. 1 AsylVfG a.F. galt, hatte das Bundesverwaltungsgericht zunächst
stets offenlassen können, weil es in den zu entscheidenden Fällen nicht darauf
ankam. Nach Einführung der Dreijahresfrist für die von Amts wegen vorzuneh-
mende Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen mit der Folge des gegebenen-
falls zwingenden Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung durch § 73
Abs. 2a AsylVfG zum 1. Januar 2005 hat es allerdings entschieden, dass die
Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung
findet, in denen die Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Dreijahres-
frist nach Unanfechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung widerrufen wird
(Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG
Nr. 28 Rn. 14 f.). Maßgeblich hierfür war die Erwägung, dass der Gesetzgeber
mit der Dreijahresfrist dem Bundesamt einen bestimmten, auf die Besonderhei-
ten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgege-
ben hat, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend
ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen wieder verengt werden sollte.
Ob dies auch für den Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen nach
Ablauf der Dreijahresfrist gilt, hat der Senat offengelassen. Für den Widerruf
der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7
AufenthG, der in § 73 Abs. 3 AsylVfG zwingend und ohne jede Einschränkung
vorgeschrieben ist, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, folgt dar-
aus, dass auch hier von einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung
auszugehen ist, die eine Anwendung der Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2
i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG verbietet. Zwar ist für den Widerruf der Feststellung
von Abschiebungsverboten kein besonderer zeitlicher Rahmen wie in § 73
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Abs. 2a AsylVfG vorgesehen. Es wäre aber ein Wertungswiderspruch, wenn die
Asyl- und Flüchtlingsanerkennung innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrer
Unanfechtbarkeit unter leichteren formellen Vorraussetzungen, nämlich ohne
Beachtung der Jahresfrist, widerrufen werden könnte als eine Gewährung von
sonstigem, nachrangigem Abschiebungsschutz. Dies hat der Gesetzgeber, der
- wie § 73 Abs. 3 AsylVfG zeigt - den Fortbestand von Abschiebungsschutz
nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG besonders eng und unmittelbar an die
materielle Schutzbedürftigkeit binden wollte, erkennbar nicht gewollt. Der Wi-
derruf von Abschiebungsschutz nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist deshalb auch
nach Ablauf eines Jahres nach Kenntnis des Bundesamts von den Widerrufs-
gründen zulässig (so im Ergebnis auch OVG Münster, Beschluss vom
15. Oktober 2010 - 13 A 1639/10.A - juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 26. November 2010 - 3 N 46.09 - juris Rn. 6; OVG Hamburg,
Urteil vom 9. Dezember 2010 - 4 Bf 40/05.AZ - juris).
Dass die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48
Abs. 4 Satz 1 VwVfG für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG kei-
ne Anwendung findet, gilt im Übrigen auch für die Rechtslage nach Inkrafttreten
des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007. Durch das Richtli-
nienumsetzungsgesetz wurden sogar weitere Spezialregelungen zu Widerruf
und Rücknahme nach § 73 AsylVfG getroffen (vgl. etwa § 73 Abs. 2b und c,
Abs. 4 und 7 AsylVfG). Das bestätigt, dass der Gesetzgeber den Widerruf von
Abschiebungsverboten im Asylverfahrensgesetz auch in verfahrensrechtlicher
Hinsicht abschließend regeln wollte.
2a) Ob der Widerruf den materiellen Voraussetzungen entspricht, bestimmt sich
nach § 73 Abs. 3 AsylVfG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom
19. August 2007 (BGBl I S. 1970). Danach ist die Entscheidung, ob die Voraus-
setzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zu
widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der dem Kläger
gewährte nationale Abschiebungsschutz ist somit zu widerrufen, wenn sich die
Sachlage so verändert hat, dass die Voraussetzungen für das vom Bundesamt
im Juli 2001 festgestellte Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1
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AuslG 1990 entfallen sind (1) und auch keine anderen nationalen Abschie-
bungsverbote vorliegen (2).
(1) § 73 Abs. 3 AsylVfG verlangt für den Widerruf eines Abschiebungshinder-
nisses eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Durch
neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose
bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben. Deshalb reicht für den Wider-
ruf eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 in verfas-
sungskonformer Anwendung (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG) allein
der Umstand, dass für den Betroffenen keine verfassungswidrige Schutzlücke
mehr besteht, etwa weil er nunmehr unionsrechtlichen Abschiebungsschutz z.B.
gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann oder die Abschiebung
nachträglich durch Ländererlass gemäß § 60a AufenthG vorübergehend ausge-
setzt wird, nicht aus. Zwar kann das genannte Abschiebungsverbot in verfas-
sungskonformer Anwendung im Wege einer Durchbrechung der in § 60 Abs. 7
Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung für allgemeine Gefahren nur fest-
gestellt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine mit Art. 1
Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbare Schutzlücke bestünde (Urteile vom
29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226 Rn. 12 und vom
24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Die damit einhergehende Subsidiarität
dieses Abschiebungsverbots hat indes im Falle des Widerrufs nicht das gleiche
Gewicht. Die Voraussetzungen für die Feststellung dieses Abschiebungsver-
bots einerseits und den Widerruf andererseits sind deshalb insoweit nicht vol-
lends deckungsgleich.
(2) Sind die tatsächlichen Voraussetzungen für das konkret festgestellte Ab-
schiebungsverbot entfallen, ist zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz
aus anderen Gründen besteht (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließ-
lich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3). Des Weiteren
bestimmt sich der Widerruf ausschließlich nach den Vorschriften des nationalen
Rechts. Weder dem Gesetzestext noch den Materialien zum Richtlinienumset-
zungsgesetz vom 19. August 2007 lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber
Vorgaben des Unionsrechts - namentlich Art. 16 der Richtlinie 2004/83/EG vom
29. April 2004 zum Erlöschen des subsidiären Schutzes - über die unionsrecht-
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lich begründeten Tatbestände des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG hinaus
auch auf den nationalen Abschiebungsschutz erstrecken wollte.
b) Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen
im Fall des Klägers mit einer Begründung verneint, die mit Bundesrecht nicht
vereinbar ist. Denn er hat zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot in
verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG we-
gen Vorliegens einer Extremgefahr bejaht, dabei aber die in der Rechtspre-
chung des Senats entwickelten Voraussetzungen für die Annahme eines sol-
chen Abschiebungsverbots verfehlt.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwar-
ten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen
und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungs-
schutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund die-
ser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage
ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung
nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungs-
schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschie-
bungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab
und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die
drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von ei-
nem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den
Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein
Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahr-
scheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich
zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab
auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahr-
scheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab
der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar
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erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sa-
che in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausge-
setzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Au-
ges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“.
Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste
Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten
müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch
dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen
sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010
a.a.O. Rn. 15 m.w.N.).
Der Verwaltungsgerichtshof hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfas-
sungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in wesentlichen
Teilen verkannt. Er bezieht sich zwar ausdrücklich auf den Maßstab der Ex-
tremgefahr und zitiert in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts (UA S. 6). Bei der Rechtsanwendung indes füllt er ihn
mit Merkmalen auf, die weit hinter den vom Bundesverwaltungsgericht entwi-
ckelten Anforderungen zurückbleiben.
Das Vorliegen einer Extremgefahr begründet der Verwaltungsgerichtshof damit,
es erscheine kaum denkbar, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan
sein Überleben „in den chaotischen Verhältnissen Kabuls“ sichern könne (UA
S. 9). Auch eine gelegentliche finanzielle Unterstützung aus dem Ausland sei
„letztlich nicht geeignet, seine Existenz wirksam zu gewährleisten“ (UA S. 10).
Diese im Rahmen der Subsumtion herangezogenen Tatsachen lassen jedoch
nicht den Schluss darauf zu, dass der Kläger dem Tod oder schwersten Verlet-
zungen ausgeliefert würde, wie das den Anforderungen an eine Extremgefahr
im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht. Denn
die fehlende Möglichkeit einer wirksamen Existenzsicherung führt nicht zwangs-
läufig zur Existenzvernichtung oder zu schwersten Gesundheitsschäden. Damit
verfehlt das Berufungsurteil den Begriff der Extremgefahr.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat seiner Entscheidung zudem nicht die weiteren
für eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG er-
forderlichen Voraussetzungen zugrunde gelegt, dass sich die Gefahr mit hoher
Wahrscheinlichkeit und alsbald nach der Rückkehr des Klägers realisieren
muss. Auf diese Voraussetzungen geht das Berufungsurteil überhaupt nicht ein.
Die gewählte Formulierung, eine Sicherung des Überlebens erscheine „kaum
denkbar“ (UA S. 9) entspricht nicht dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass
gleichsam sehenden Auges der sichere Tod oder schwerste Verletzungen dro-
hen müssen. Gegen das Erfordernis der alsbaldigen Realisierung der Gefahr
spricht, dass das Gericht eine wirksame Existenzsicherung für erforderlich hält,
um die Extremgefahr abzuwenden, und damit für die Verneinung der Gefahr auf
eine längerfristige Zeitperspektive abstellt.
3a) Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird das Berufungsgericht
unter Zugrundelegung der für die erneute Entscheidung maßgeblichen Er-
kenntnislage zu prüfen haben, ob die für die ursprüngliche Zubilligung nationa-
len Abschiebungsschutzes durch das Bundesamt ausschlaggebende Gefahr
der Zwangsrekrutierung durch die Taliban bei Rückkehr nach Afghanistan tat-
sächlich entfallen ist (vgl. hierzu etwa den Lagebericht des Auswärtigen Amtes
vom 9. Februar 2011 S. 22 und die Auskunft von Amnesty International an den
Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 21. Dezember 2010).
b) Sollte die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den Kläger entfallen sein, ist
das Berufungsgericht gehalten, sich bei der erneuten Prüfung eines Abschie-
bungsverbots wegen Vorliegens einer Extremgefahr in verfassungskonformer
Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG die vom Bundesverwal-
tungsgericht hierzu entwickelten rechtlichen Maßstäbe zu beachten und seiner
Überzeugungsbildung zugrunde zu legen. Dabei wird es sich auch mit der ge-
genteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzu-
setzen haben (vgl. etwa Urteil des VGH München vom 3. Februar 2011
- 13 a B 10.30394 - juris, das sich seinerseits allerdings auch nicht mit der ge-
genteiligen Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. dazu
auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 22).
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c) Sollte es für das Vorliegen einer Extremgefahr weiterhin entscheidungser-
heblich auf die individuellen Möglichkeiten des Klägers ankommen, sich Nah-
rungsmittel zu beschaffen, wird der Verwaltungsgerichtshof der Frage nachzu-
gehen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Kläger mit finan-
zieller Unterstützung durch seine im Ausland lebenden Eltern und sonstigen
Familienangehörigen rechnen kann, unter anderem durch seine in Deutschland
lebende Schwester. Sofern sich für den Verwaltungsgerichtshof weiterhin die
Frage stellt, ob der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer erhöhten Ge-
fährdung seiner Sicherheit durch eine erfolgte Beschlagnahme eines Hauses
seines Vaters in Kabul durch einen Mudschaheddin-General ausgesetzt wäre
(UA S. 9), wird zu untersuchen sein, aufgrund welcher konkreten Umstände
sich hieraus eine Gefahr für den Kläger auch ohne Geltendmachung eigener
Ansprüche an dem Haus ergeben kann.
d) Sollte der Hauptantrag des Klägers, der auf die Aufhebung des Widerrufs
des nationalen Abschiebungsschutzes gerichtet ist, keinen Erfolg haben, wird
der Verwaltungsgerichtshof über den Hilfsantrag auf Feststellung eines unions-
rechtlichen Abschiebungsverbots zu entscheiden haben. Einen entsprechenden
Antrag hat der Kläger schon in seiner Klageschrift angekündigt. Das Verwal-
tungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof brauchten hierüber bisher nicht
entscheiden, da es dem Kläger vorrangig um den Erhalt des ihm bereits ge-
währten nationalen Abschiebungsschutzes geht, den ihm die Instanzgerichte
zugesprochen haben. Der Kläger durfte sein Begehren auch in dieser Form in
einen Haupt- und Hilfsantrag kleiden (siehe oben Rn. 10).
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Asylrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 73 Abs. 3
AufenthG
§ 60 Abs. 2 bis 7, § 60a
AuslG 1990
§ 53 Abs. 6 Satz 1
Richtlinie 2004/83/EG
Art. 16
VwGO
§ 108 Abs. 1 Satz 1
VwVfG
§ 48 Abs. 4 Satz 1, § 49 Abs. 2 Satz 2
Stichworte:
Widerruf; Widerrufsfrist; Abschiebungsschutz; Abschiebungsverbot; unions-
rechtlich begründeter Abschiebungsschutz; nationaler Abschiebungsschutz;
Hilfsantrag; Afghanistan; allgemeine Gefahren; extreme Gefahr; verfassungs-
konforme Auslegung; Versorgungslage; Zwangsrekrutierung; richterliche Über-
zeugungsbildung.
Leitsätze:
1. Wendet sich ein Kläger vorrangig gegen den Widerruf des ihm zuerkannten
nationalen Abschiebungsschutzes, darf er die Feststellung, dass ihm unions-
rechtlicher Abschiebungsschutz zusteht, einem Hilfsantrag vorbehalten.
2. Die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4
Satz 1 VwVfG findet für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG keine
Anwendung.
3. Ob die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG im Fall des Widerrufs ei-
nes nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes erfüllt sind, be-
stimmt sich ausschließlich nach den Vorschriften des nationalen Rechts.
Urteil des 10. Senats vom 29. September 2011 - BVerwG 10 C 24.10
I. VG Frankfurt am Main vom 28.02.2008 - Az.: VG 7 E 4813/06.A(3) -
II. VGH Kassel vom 21.01.2010 - Az.: VGH 8 A 302/09.A -