Urteil des BVerwG vom 07.02.2008

Genfer Flüchtlingskonvention, Widerruf, Bundesamt, Irak

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 C 23.07
OVG 16 A 4348/05.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
beschlossen:
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG
eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäi-
schen Gemeinschaften zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Ist Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG
des Rates vom 29. April 2004 dahin auszulegen, dass
- abgesehen von Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951
(Genfer Flüchtlingskonvention) - die Flüchtlingseigen-
schaft bereits dann erlischt, wenn die begründete Furcht
des Flüchtlings vor Verfolgung im Sinne des Art. 2
Buchst. c der Richtlinie, aufgrund derer die Anerkennung
erfolgte, entfallen ist und er auch nicht aus anderen Grün-
den Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c
der Richtlinie haben muss?
2. Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist: Setzt das
Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1
Buchst. e der Richtlinie darüber hinaus voraus, dass in
dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling be-
sitzt,
a) ein Schutz bietender Akteur im Sinne des Art. 7 Abs. 1
der Richtlinie vorhanden ist und reicht es hierbei aus, dass
die Schutzgewährung nur mit Hilfe multinationaler Trup-
pen möglich ist,
b) dem Flüchtling kein ernsthafter Schaden im Sinne des
Art. 15 der Richtlinie droht, der zur Zuerkennung subsidiä-
ren Schutzes nach Art. 18 der Richtlinie führt, und/oder
c) die Sicherheitslage stabil ist und die allgemeinen Le-
bensbedingungen das Existenzminimum gewährleisten?
3. Sind in einer Situation, in der die bisherigen Umstände,
aufgrund derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt
worden ist, entfallen sind, neue andersartige verfolgungs-
begründende Umstände
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a) an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen, der
für die Anerkennung von Flüchtlingen gilt, oder findet zu-
gunsten des Betreffenden ein anderer Maßstab Anwen-
dung,
b) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu beurteilen?
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.
Der 1974 in Basra (Zentralirak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöri-
ger arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste im Mai
1999 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung gab er an,
ein Cousin habe bei ihnen zu Hause Unterlagen einer verbotenen Oppositions-
partei und eine Pistole versteckt, die bei einer Hausdurchsuchung gefunden
worden seien. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte den
Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das
Bundesamt, den Kläger als Flüchtling nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1
AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) anzuerkennen. Im Juli 2005 leitete das
Bundesamt wegen der veränderten Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren
ein und widerrief nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 31. August
2005 die aufgrund der gerichtlichen Verpflichtung ausgesprochene Flüchtlings-
anerkennung. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.
Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 6. Oktober 2005
den Widerrufsbescheid des Bundesamtes aufgehoben. Angesichts der hoch-
gradig instabilen Lage im Irak könne von einer dauerhaften und stabilen, einen
Widerruf rechtfertigenden Änderung der politischen Verhältnisse nicht ausge-
gangen werden.
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Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom
11. Juli 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abge-
wiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei
rechtmäßig. Es könne auf sich beruhen, ob der Kläger den Irak unter dem
Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das Baath-
Regime Saddam Husseins verlassen habe. Denn er sei vor einer solchen Ver-
folgung jetzt hinreichend sicher. Das Regime Saddam Husseins habe seine
politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die im März 2003 be-
gonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren. Eine Rückkehr
des Regimes sei nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlos-
sen wie die Herausbildung einer Struktur, die vom früheren Regime als Gegner
angesehene Personen erneut (wiederholend) verfolge. Dem Kläger drohe auch
nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine
- wie auch immer geartete - Verfolgung. Greifbare Anhaltspunkte für asylerheb-
liche Übergriffe von Seiten der neu gebildeten irakischen Regierung oder dem
irakischen Staat sonst zurechenbarer Kräfte einschließlich der multinationalen
Streitkräfte und der kurdischen Parteien im Nordirak ließen sich den aktuellen
Erkenntnissen nicht entnehmen. Dabei könne auf sich beruhen, ob mit der neu-
en Regierung ein zu politischer Verfolgung fähiges Machtgebilde in dem Sinne
entstanden sei, dass es eine gewisse Stabilität aufweise und die Fähigkeit zur
Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden Friedensordnung besit-
ze. Auch für eine nichtstaatliche Verfolgung gebe das Vorbringen des Klägers
nichts Tragfähiges her. Soweit es nach wie vor insbesondere zu terroristischen
Anschlägen und fortgesetzten offenen Kampfhandlungen zwischen militanter
Opposition sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften kom-
me, sei nicht erkennbar, dass dieses Geschehen bezogen auf den Kläger an
asylerhebliche Merkmale anknüpfe. Die Widerrufsentscheidung begegne auch
nicht mit Blick auf die Richtlinie 2004/83/EG rechtlichen Bedenken, da diese vor
Ablauf der Umsetzungsfrist keine unmittelbare Wirkung entfalte und § 60 Abs. 1
AufenthG in seinem Kerngehalt nicht ändere. Der Kläger könne auch nicht die
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG
beanspruchen.
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Mit der vom Senat beschränkt auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung
zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstin-
stanzlichen Urteils. Er macht u.a. geltend, der Widerruf verstoße gegen die zwi-
schenzeitlich umgesetzte Richtlinie 2004/83/EG und gegen Art. 1 C der Genfer
Flüchtlingskonvention - GFK -. Deren Schutzbereich erschöpfe sich nach ein-
helliger Staatenpraxis nicht im Schutz vor politischer Verfolgung. Ein Entzug
des Flüchtlingsstatus setze voraus, dass im Herkunftsland auch die Mindestbe-
dingungen einer staatlichen Friedensordnung und einer menschenwürdigen
Existenz vorgefunden werden könnten. Erforderlich sei eine wertende Gesamt-
schau unter Einbeziehung der allgemeinen Verhältnisse. Hierzu fehlten ausrei-
chende Tatsachenfeststellungen. Auch der vom Berufungsgericht angewandte
Wahrscheinlichkeitsmaßstab sei völker- und europarechtswidrig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 11. Juli 2006 zu ändern, soweit
es den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung betrifft, und
die Berufung der Beklagten insoweit zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinte-
resses am Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
II
Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Ge-
richtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Aner-
kennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benöti-
gen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304
S. 12 ; ber. ABl EG Nr. L 204 S. 24) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68
Abs. 1 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Ge-
richtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung der Richtlinie sind
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entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. In-
soweit wird zur weiteren Begründung auf den Vorlagebeschluss vom heutigen
Tag im Verfahren BVerwG 10 C 33.07 verwiesen.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Richter
Ri’inBVerwG Beck
Fricke
ist wegen Erkrankung
verhindert zu unterschreiben.
Dr. Mallmann