Urteil des BVerwG vom 08.09.2011

Afghanistan, Bundesamt, Verfassungskonforme Auslegung, Abschiebung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 20.10
VGH A 11 S 654/08
Verkündet
am 8. September 2011
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Juni 2009
aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
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G r ü n d e :
I
Der Kläger erstrebt Abschiebungsschutz wegen ihm in Afghanistan drohender
Gefahren.
Der 1969 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört zur
Volksgruppe der Tadschiken und stammt aus Kabul. Er reiste im Mai 2002 nach
Deutschland ein und betrieb hier erfolglos ein Asylverfahren. Im März 2006
stellte er einen Folgeschutzantrag. Mit Bescheid vom 27. März 2006 lehnte das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - eine Änderung seiner
Feststellung zum Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen gemäß § 53
Abs. 1 bis 6 AuslG 1990 ab. Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt im
Januar 2008 zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger ein Abschie-
bungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Hiergegen hat nur die Beklagte Berufung eingelegt. Der Verwaltungsgerichtshof
hat die Berufung im Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im We-
sentlichen ausgeführt: Dem Kläger sei in verfassungskonformer Anwendung
des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren. Er
gehöre zu der Gruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen
Staatsangehörigen, die bei einer Abschiebung nach Kabul ohne Rückhalt und
Unterstützung durch Familie oder Bekannte seien und dort weder über Grund-
besitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügten. Angehörige dieser
Gruppe hätten kaum Aussicht, eine Arbeit zu finden und damit ihren eigenen
Lebensunterhalt zu sichern. Unter diesen Umständen würden dem Kläger aus-
schließlich Tee und Brot als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Angesichts
dieser Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere der derzeit vorherr-
schenden katastrophalen Versorgungslage, aber auch der medizinischen Ver-
sorgung und der Sicherheitslage, bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass
der Kläger zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls
mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Insbesondere die durch die
Mangelernährung erhöhte Infektanfälligkeit werde in Verbindung mit dem eben-
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falls ernährungsbedingten Eisenmangel zu schwerwiegenden Infektionen der
Atmungs- und Verdauungsorgane führen.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beanstandet die Be-
klagte vor allem, dass sich das Berufungsgericht im Hinblick auf die vom Kläger
befürchteten allgemeinen Gefahren auf zu schmaler Tatsachengrundlage über
die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinweggesetzt habe.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt in mehr-
facher Hinsicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat mangels
ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache nicht abschlie-
ßend entscheiden kann, ist das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zu-
rückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist zunächst das Verpflichtungsbegehren
des Klägers auf Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschut-
zes. Hierzu zählen in Umsetzung des subsidiären Schutzkonzepts nach Art. 15
und 17 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - sog. Qualifika-
tionsrichtlinie - die in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG aufgeführten Ab-
schiebungsverbote. Dieses Begehren ist mit Inkrafttreten des Gesetzes zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
(BGBl I 2007, 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - im August 2007 Gegen-
stand des gerichtlichen Verfahrens geworden und ist dies nach wie vor. Gegen-
stand des Revisionsverfahrens ist ferner das Verpflichtungsbegehren des Klä-
gers auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5
und 7 Satz 1 und 3 AufenthG einschließlich der Feststellung eines Abschie-
bungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und
3 AufenthG. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Frage einer Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung des Klägers. Eine Abschiebungsandrohung ist eben-
falls nicht Gegenstand des Verfahrens. Denn das Bundesamt hat hierzu in sei-
nem angefochtenen Bescheid keine Entscheidung getroffen.
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Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es den unionsrechtlichen Ab-
schiebungsschutz nicht geprüft hat (1.). Es verletzt ferner Bundesrecht, weil es
beim nationalen Abschiebungsschutz den Anforderungen an die verfassungs-
konforme Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG
im Falle allgemeiner Gefahren nicht hinreichend Rechnung getragen hat (2.).
Schließlich verletzt es Bundesrecht, weil seine Feststellungen zur Gefahrenpro-
gnose bei verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3
AufenthG einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten (3.).
1. Das Berufungsgericht hätte nicht ungeprüft lassen dürfen, ob der Kläger die
Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Ab-
schiebungsverbots erfüllt. Dieser Streitgegenstand ist in allen Übergangsfällen,
in denen das Bundesamt über die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a.F. entschieden hat und hiergegen Klage erhoben
wurde, mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im August 2007 im
gerichtlichen Verfahren angewachsen. Nach der bisherigen Rechtsprechung
des Senats gilt dies jedenfalls dann, wenn das Bundesamt in seinem Ableh-
nungsbescheid über sämtliche zielstaatsbezogenen aufenthaltsrechtlichen Ab-
schiebungsverbote sachlich entschieden und der Kläger die neuen, auf Unions-
recht beruhenden subsidiären Abschiebungsverbote in das anhängige gerichtli-
che Verfahren einbezogen hat (vgl. Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C
4.09 - BVerwGE 136, 360 <364 f.> und vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C
10.09 - BVerwGE 137, 226 <228 f.>). An dieser (vorsorglichen) Einschränkung
für ein Anwachsen des unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes in
Übergangsfällen hält der Senat nicht fest; vielmehr wächst dieser Streitgegen-
stand kraft Gesetzes und unabhängig vom Verfahrenshandeln der Beteiligten
an. Dies leitet der Senat - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts zur gesetzlichen Erweiterung des Streitgegenstands der
Asylklage um die Prüfung der Voraussetzungen des flüchtlingsrechtlichen Ab-
schiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (vgl. u.a. Urteil vom 18. Fe-
bruar 1992 - BVerwG 9 C 59.91 - Buchholz 402.25 § 7 AsylVfG Nr. 1 = DVBl
1992, 843) - aus folgenden verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen
Gründen her:
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Verfahrensrechtlich hat der Senat in ständiger Rechtsprechung die dem Asyl-
verfahrensgesetz zugrunde liegende Konzentrations- und Beschleunigungs-
maxime betont, die dafür streitet, möglichst alle Fragen, die sich typischerweise
in einem Asylverfahren stellen, in einem Prozess abschließend zu klären und
nicht weiteren Verfahren vorzubehalten (vgl. etwa Urteil vom 29. Juni 2010
a.a.O.). Denn das Asylverfahren ist auf eine alle Arten des Schutzes vor ziel-
staatsbezogenen Gefahren umfassende Entscheidung angelegt (vgl. Urteile
vom 20. April 1999 - BVerwG 9 C 29.98 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990
Nr. 18 und vom 20. Oktober 2004 - BVerwG 1 C 15.03 - Buchholz a.a.O.
Nr. 82). Würde man im vorliegenden Zusammenhang ein Anwachsen des uni-
onsrechtlichen Abschiebungsschutzes verneinen, könnte und müsste der Klä-
ger dieses Begehren in einem weiteren Verfahren verfolgen, was in aller Regel
mit (zusätzlichen) Verzögerungen verbunden ist.
Materiellrechtlich ist ein Anwachsen des unionsrechtlichen Abschiebungsschut-
zes zunächst im Hinblick auf den nachrangigen nationalen Abschiebungsschutz
geboten, soweit es die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7
Satz 1 und 3 AufenthG betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats
kann die gesetzlich angeordnete Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG
bei allgemeinen Gefahren nur dann im Wege einer verfassungskonformen Aus-
legung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine
verfassungswidrige Schutzlücke besteht. Eine Schutzlücke besteht für den Klä-
ger indes nicht, falls er die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungs-
verbots beanspruchen kann. Dies bedeutet im Verhältnis von unionsrechtlichem
und nationalem Abschiebungsschutz, dass bei allgemeinen Gefahren ein Ab-
schiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskon-
former Anwendung nicht in Betracht kommt, solange die Zuerkennung von sub-
sidiärem unionsrechtlichen Schutz nicht ausgeschlossen ist (vgl. hierzu zuletzt
Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.O. m.w.N.). Eine bloße Inzidentprüfung des uni-
onsrechtlichen Abschiebungsschutzes im Rahmen der Entscheidung über die
Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG
in verfassungskonformer Anwendung wäre keine geeignete Alternative, weil
das Ergebnis dieser Prüfung keine Bindungswirkung hätte.
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Die gesetzliche Erweiterung des Streitgegenstandes ergibt sich ferner daraus,
dass das Gesetz im Fall der Ablehnung des Schutzantrags in der Regel den
Erlass einer Abschiebungsandrohung vorsieht. Nach § 34 AsylVfG erlässt das
Bundesamt die Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylbe-
rechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird
und er keinen Aufenthaltstitel besitzt. Die Rechtmäßigkeit dieser Abschie-
bungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbezeichnung gemäß § 59 Abs. 2
AufenthG kann im Gerichtsverfahren aber nur dann bestätigt werden, wenn das
Vorliegen sämtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote geprüft und
verneint worden ist. Würden im gerichtlichen Verfahren zielstaatsbezogene Ab-
schiebungsverbote - wie die des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes -
zunächst ungeprüft bleiben, müsste auch die Überprüfung der Zielstaatsbe-
zeichnung einem weiteren Verfahren vorbehalten bleiben.
Diese materiellrechtlichen Gründe überlagern in ihrer verfahrensrechtlichen
Konsequenz das allgemeine Verwaltungsprozessrecht und bewirken, dass in
den Fällen, in denen das Bundesamt vor Inkrafttreten des Richtlinienumset-
zungsgesetzes über das (Nicht-)Vorliegen von nationalen Abschiebungsverbo-
ten entschieden hat und hiergegen Klage erhoben worden ist, in den anhängi-
gen gerichtlichen Verfahren der am 28. August 2007 neu hinzugetretene uni-
onsrechtlich begründete Abschiebungsschutz automatisch anwächst und damit
zwingend zu prüfen ist. Über dieses Prüfprogramm können die Verfahrensbetei-
ligten nicht disponieren und damit in Übergangsfällen das Anwachsen des uni-
onsrechtlichen Abschiebungsschutzes während des gerichtlichen Verfahrens
nicht verhindern. In diesen Fällen bedarf es keiner ausdrücklichen Einbezie-
hung des neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsschut-
zes in das anhängige gerichtliche Verfahren durch einen der Verfahrensbeteilig-
ten (so Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.O.). Ist der unionsrechtliche Abschiebungs-
schutz - wie hier - im erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren an-
gewachsen, scheidet er allerdings dann aus dem gerichtlichen Verfahren aus,
wenn das Verwaltungsgericht darüber ausdrücklich in der Sache entschieden
hat und der unterlegene Beteiligte hiergegen kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Denn dann ist dieser Streitgegenstand durch eine rechtskräftige Entscheidung
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abgeschichtet worden. Entsprechendes gilt bei dem Anwachsen des unions-
rechtlichen Abschiebungsschutzes im Berufungsverfahren im Falle einer unan-
gefochten bleibenden und damit rechtskräftigen Sachentscheidung durch das
Berufungsgericht.
Ein Nichtentscheiden oder irrtümliches Übergehen durch das Verwaltungsge-
richt reicht nicht aus, um den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz aus dem
Verfahren ausscheiden zu lassen, und zwar auch dann nicht, wenn einer der
Beteiligten den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz im Verfahren angespro-
chen hatte. Um Missverständnisse zu vermeiden, weist der Senat auf Folgen-
des hin: Falls eine gerichtliche Entscheidung, in der das Anwachsen des uni-
onsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes in Übergangsfällen nicht be-
rücksichtigt worden ist, rechtskräftig geworden ist, ist damit die Rechtshängig-
keit dieses Teils des Streitgegenstandes entfallen (vgl. Urteil vom 22. März
1994 - BVerwG 9 C 529.93 - BVerwGE 95, 269 <274>). Der Betroffene kann
dieses unbeschieden gebliebene Begehren daher beim Bundesamt geltend
machen (Urteil vom 22. März 1994 a.a.O. S. 275).
Im Entscheidungsfall fehlt es an einer unanfechtbaren Sachentscheidung zum
unionsrechtlichen Abschiebungsschutz. Dass dieser Abschiebungsschutz wäh-
rend des gerichtlichen Verfahrens angewachsen ist, haben das Verwaltungsge-
richt und das Berufungsgericht irrtümlich verkannt.
Vorliegend ist der unionsrechtliche Abschiebungsschutz demnach im Verfahren
vor dem Verwaltungsgericht angewachsen und auch Gegenstand des Beru-
fungsverfahrens geworden. Das Berufungsgericht muss sich daher in dem er-
neuten Berufungsverfahren mit diesem Begehren befassen. Nach der Recht-
sprechung des Senats handelt es sich insoweit um einen einheitlichen und nicht
weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, der eigenständig und vorrangig vor den
sonstigen zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu
prüfen ist (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131,
198 Rn. 11). Das Berufungsgericht muss deshalb alle entsprechenden An-
spruchsgrundlagen in den Blick nehmen, aus denen sich ein Anspruch auf
Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots in Bezug auf Afgha-
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nistan ergeben kann (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG), wobei hier im Hin-
blick auf die allgemeinen Gefahren und den innerstaatlichen bewaffneten Kon-
flikt in Afghanistan § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Vordergrund stehen dürfte.
2. Das Berufungsurteil verletzt auch hinsichtlich des nationalen Abschiebungs-
schutzes Bundesrecht. Das Berufungsgericht wird sich im Falle der Ablehnung
eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots auch mit diesem Begehren
nochmals befassen müssen. Bei dem nationalen Abschiebungsschutz handelt
es sich nach dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes ebenfalls
um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit
mehreren Anspruchsgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 einschließlich
Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung). Eine Ab-
schichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtli-
chen Verfahrens ist daher ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschie-
bungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3
AufenthG nicht möglich. Soweit der Senat im Urteil vom 29. Juni 2010
- BVerwG 10 C 10.09 - (BVerwGE 137, 226 Rn. 6) davon ausgegangen ist,
dass im dortigen Verfahren nur (noch) § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und nicht
(mehr) § 60 Abs. 5 AufenthG Gegenstand des Verfahrens war, handelt es sich
um eine vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes erklärte Rück-
nahme, die nach der früher maßgeblichen Staffelung der Streitgegenstände des
nationalen Abschiebungsschutzes (vgl. zur früheren Rechtslage Urteil vom
15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.96 - BVerwGE 104, 260) noch zulässig und
wirksam war.
Das Berufungsgericht ist an der Feststellung eines Abschiebungsschutzes in
verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG ent-
gegen der Auffassung der Beklagten allerdings nicht schon deshalb gehindert,
weil der Schutzsuchende auch bei Vorliegen einer Extremgefahr auf die An-
fechtung einer Abschiebungsandrohung bzw. der darin enthaltenen Zielstaats-
bezeichnung beschränkt wäre. Bei Gewährung von Abschiebungsschutz in ver-
fassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG ersetzt
die gerichtliche Schutzgewähr nicht im Einzelfall eine Anordnung nach § 60a
Abs. 1 AufenthG; die gerichtliche Prüfung bleibt im System der positiven Fest-
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stellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots (s.a. § 59 Abs. 3 Satz 3
AufenthG). Über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3
AufenthG hat - wie bei anderen aufenthaltsrechtlichen Abschiebungsverboten
auch - die Ausländerbehörde zu entscheiden.
Das Berufungsurteil ist aber insoweit mit Bundesrecht nicht vereinbar, als es
dem Kläger Abschiebungsschutz nach nationalem Recht in verfassungskonfor-
mer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG zugesprochen hat,
ohne das Vorliegen des unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes
(Abschiebungsverbote u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) rechtsfehlerfrei
zu prüfen und auszuschließen. Damit hat es sowohl den Vorrang des unions-
rechtlichen gegenüber dem nationalen Abschiebungsschutz (vgl. Urteil vom
24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 11) als auch die in der Rechtsprechung des Senats
entwickelten Voraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung von
§ 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in Fällen einer allgemeinen Gefahr verfehlt.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers
in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine
erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60
Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung
oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausge-
setzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichti-
gen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus
völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Inte-
ressen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von
Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten
Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs
Monate ausgesetzt wird. Eine derartige Abschiebestopp-Anordnung besteht für
die Personengruppe, der der Kläger angehört, nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts nicht (mehr). Mit seinem Hinweis insbesondere auf die unzu-
reichende Versorgungslage in Afghanistan, die für Rückkehrer ohne Berufsaus-
bildung und familiäre Unterstützung bestehe, macht der Kläger allgemeine Ge-
fahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG
die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
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grundsätzlich nicht rechtfertigen können. Diese Sperrwirkung kann, wie ausge-
führt, nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt
werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige
Schutzlücke besteht. Eine Schutzlücke besteht für den Kläger nicht, falls ihm
unionsrechtlicher Abschiebungsschutz zusteht. Das Berufungsgericht hätte sich
daher auch aus diesem Grund mit der Frage des unionsrechtlichen Abschie-
bungsschutzes befassen müssen, ehe es sich mittels verfassungskonformer
Auslegung über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG hinweg-
setzt.
3. Schließlich ist die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das
Berufungsgericht auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil seine
Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr
des Klägers nach Afghanistan einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhal-
ten. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass eine unmittelbare
Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausscheidet, weil der Kläger kei-
ne individuellen, nur ihm drohenden Gefahren, sondern allgemeine Gefahren
geltend macht. Es ist aber bei der verfassungskonformen Anwendung der Vor-
schrift hinter den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen zurückgeblieben. So
ist es zwar zutreffend von den rechtlichen Maßstäben ausgegangen, die der
Senat zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage entwickelt hat. Es ist in die-
sem Zusammenhang aber den Anforderungen an die richterliche Überzeu-
gungsbildung nicht gerecht geworden und hat seine Entscheidung auf eine zu
schmale Tatsachengrundlage gestützt.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwar-
ten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen
und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungs-
schutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund die-
ser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage
ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung
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nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungs-
schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschie-
bungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab
und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die
drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von
einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für
den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise
ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der
Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Ver-
gleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten
Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher
Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Gren-
ze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzu-
mutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in
der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann
ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehen-
den Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wür-
de“. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr reali-
sieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder
schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung,
eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise
auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldi-
gen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni
2010 a.a.O. Rn. 15 m.w.N.).
Das Berufungsgericht hat sich ausdrücklich auf diesen hohen Wahrscheinlich-
keitsmaßstab bezogen und in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des
Senats zitiert. Es spricht davon, dass der Kläger in Afghanistan mangels jegli-
cher Lebensgrundlage unausweichlich dem baldigen sicheren Hungertod aus-
geliefert wäre (UA S. 9). In einer Gesamtgefahrenschau müsse deshalb in sei-
nem Falle eine extreme Gefahrenlage bejaht werden (UA S. 21). Diese rechtli-
che Schlussfolgerung ist durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen und
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deren Würdigung jedoch nicht gedeckt. Soweit das Berufungsgericht hierfür an
der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom 6. Mai 2008 an-
knüpft, verweist der Senat auf seine dieses Urteil aufhebende Entscheidung
vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - (a.a.O.). Indes tragen auch die wei-
tergehenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, das eine wei-
tere Verschärfung der allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan konsta-
tiert und dies unter anderem mit der inzwischen landesweit schwierigen Sicher-
heitslage begründet (UA S. 19 ff.), die von ihm vorgenommene Gesamtent-
scheidung nicht.
Dies zeigt sich insbesondere im Hinblick auf die vom Berufungsgericht festge-
stellte drohende Mangelernährung und die damit verbundenen gesundheitlichen
Risiken. Das Berufungsgericht geht zwar von einer - gegenüber den vom Ober-
verwaltungsgericht Koblenz beschriebenen Gegebenheiten - weiteren Zuspit-
zung der Versorgungslage in Afghanistan aus, bedingt vor allem durch die wei-
ter verschlechterte Sicherheitslage. Das Gericht belegt dies mit der Feststel-
lung, nur noch 37 % der afghanischen Bevölkerung gebe an, sich notwendige
Lebensmittel leisten zu können. Jedenfalls für die Mehrheit der auf dem Land
lebenden Afghanen gebe es keine Ernährungssicherheit. Die Hälfte aller Kinder
bis zum Alter von fünf Jahren gelte als chronisch unterernährt (jeweils UA
S. 17 f.). Diese Feststellungen tragen indes nicht den Schluss des Berufungs-
gerichts, dass in Afghanistan eine derart extreme Gefahr besteht, dass das Le-
ben jedes alleinstehenden jüngeren arbeitsfähigen Mannes - und damit das des
Klägers - aufgrund der mangelhaften Versorgungslage akut gefährdet ist. Dies
zeigt, dass sich das Berufungsgericht bei der Würdigung dieser zentralen Frage
auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt und den erforderlichen hohen
Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat.
Entsprechendes gilt für die durch Mangelernährung ausgelösten gesundheitli-
chen Risiken. Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger würde bei
einer Ernährung ausschließlich von Tee und Brot alsbald und unausweichlich in
einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen
Folgen geraten (UA S. 9), ist nicht durch hinreichend detaillierte Tatsachen be-
legt. Dies gilt für die Wahrscheinlichkeit des vom Berufungsgericht befürchteten
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Krankheitsverlaufs im Allgemeinen, aber auch für die zeitliche Perspektive der
lebensbedrohlichen Folgen und die Unausweichlichkeit des prognostizierten
Geschehensablaufs.
Bei der Gesamtprognose ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen sich das
Berufungsgericht davon überzeugt hat, dass sich die jeweils hohe Eintrittswahr-
scheinlichkeit bei den Teilkomplexen zu einer entsprechend hohen Eintritts-
wahrscheinlichkeit insgesamt zusammenfügt. Dies hat der Senat bereits bei der
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz beanstandet. Das Beru-
fungsgericht hat ebenfalls im Wesentlichen einzelne Risiken festgestellt und
bewertet, sie aber nicht im Rahmen einer umfassenden Gesamtgefahrenpro-
gnose gewürdigt (vgl. hierzu Beschluss vom 25. Februar 2000 - BVerwG 9 B
77.00 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 31). Dies zeigt sich etwa daran,
dass der Zusammenhang zwischen Versorgungslage und Sicherheitslage nicht
hinreichend deutlich wird. Beide Teilkomplexe stehen weitgehend unvermittelt
nebeneinander.
4. Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache ist das Berufungsgericht gehal-
ten, sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungs-
gerichte auseinanderzusetzen (vgl. etwa Urteil des VGH München vom
3. Februar 2011 - 13 a B 10.30394 - juris, das sich seinerseits allerdings auch
nicht mit der Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. da-
zu auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 22).
Prof. Dr. Berlit
Richter
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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