Urteil des BVerwG vom 17.08.2010

Bundesamt, Ablauf der Frist, Aufschiebende Wirkung, Politische Verfolgung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 20.09
OVG 1 LB 20/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten werden der Beschluss des
Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom
9. Juni 2009 und der Gerichtsbescheid des Schleswig-
Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 29. Mai 2008
dahingehend geändert, dass der Maßgabeausspruch in
dem Gerichtsbescheid aufgehoben wird.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich nur noch gegen die ihm mit der Abschiebungsandro-
hung gesetzte Frist zur Ausreise innerhalb einer Woche.
Der im Februar 2006 in Deutschland geborene Kläger ist das Kind abgelehnter
Asylbewerber. Im März 2006 zeigte die Ausländerbehörde dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG die Ge-
burt des Klägers an. Daraufhin erklärten seine Eltern als gesetzliche Vertreter,
dass dem Kläger keine politische Verfolgung drohe und auf die Durchführung
eines Asylverfahrens verzichtet werde.
Mit Bescheid vom 3. April 2006 stellte das Bundesamt das Asylverfahren ge-
mäß § 32 AsylVfG ein (Nr. 1). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsver-
bote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Außerdem forderte
es - gestützt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG - den Kläger auf, die Bundesrepublik
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Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu
verlassen, und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Ab-
schiebung in die Republik Armenien an (Nr. 3).
Im Klageverfahren wandte sich der Kläger gegen Nr. 3 des Bescheides. Mit
Gerichtsbescheid vom 29. Mai 2008 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid
des Bundesamts auf, soweit dem Kläger eine Frist zur Ausreise von einer Wo-
che nach Bekanntgabe des Bescheides gesetzt worden ist. Im Übrigen wies es
die Klage mit der Maßgabe ab, dass die Ausreisefrist einen Monat nach dem
unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ende. Dabei ging es davon aus,
dass sich die Ausreisefrist bei einem Verzicht auf die Durchführung eines Asyl-
verfahrens nach § 38 Abs. 1 AsylVfG richte. Einer erneuten Fristsetzung durch
das Bundesamt bedürfe es nicht. Die richtige Ausreisefrist ergebe sich aus der
im Tenor ausgesprochenen Maßgabe. Dies sei möglich, weil sich die Frist zwin-
gend aus dem Gesetz ergebe und kein Spielraum der Beklagten bestehe.
Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hat das Oberverwal-
tungsgericht mit Beschluss vom 9. Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung
ist ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe die Fristbestimmung in der ange-
fochtenen Verfügung zu Recht aufgehoben. § 38 Abs. 2 AsylVfG sei hier nicht
anwendbar. Denn im Gegensatz zu anderen Bestimmungen enthalte diese
Vorschrift keine Gleichstellung von Rücknahme und Verzicht. Nach dem Ver-
zicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens betrage die Ausreisefrist viel-
mehr gemäß § 38 Abs. 1 AsylVfG einen Monat. Dem stehe der Regelungs-
zweck des § 14a AsylVfG nicht entgegen. Die Vorschrift solle lediglich sukzes-
sive Antragstellungen einzelner Familienmitglieder verhindern.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Revision.
Sie trägt vor, für den Fall des Verzichts auf die Durchführung eines Asylverfah-
rens fehle eine ausdrückliche Regelung der Ausreisefrist. § 38 Abs. 1 AsylVfG
setze, wie die amtliche Überschrift zeige, die Ablehnung des Asylantrags vor-
aus. Da es daran bei einem Verzicht fehle, sei die Vorschrift nicht einschlägig.
Auch § 38 Abs. 2 AsylVfG sei nicht unmittelbar anwendbar, da der Gesetzgeber
zwischen Verzicht und Rücknahme unterscheide. Diese Regelungslücke sei
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über eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG zu schließen. Eine
analoge Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG würde dem Beschleunigungsge-
danken zuwiderlaufen. Die dortige Monatsfrist mit der gesetzlichen Folge, dass
der Klage aufschiebende Wirkung zukomme, gelte nur, wenn eine Asyl- oder
Flüchtlingsanerkennung nicht von vornherein ausgeschlossen sei. Es sei kein
Grund ersichtlich, Personen, die auf einen Schutzanspruch ausdrücklich ver-
zichteten, möglicherweise schutzbedürftigen Antragstellern gleichzustellen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Berufungsentscheidung. Er ist der Auf-
fassung, dass die Wochenfrist nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelte,
wenn dem Asylbewerber ein rechtsmissbräuchliches oder sonst unredliches
Verhalten vorgeworfen oder ein unbegründetes Verfahren durch Rücknahme
beendet werde. In den Fällen des § 14a AsylVfG werde hingegen erwartet,
dass von der Möglichkeit des Verzichts Gebrauch gemacht werde.
II
Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die
Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m.
§ 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist teilweise begründet. Das Be-
rufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht die Entscheidung des Ver-
waltungsgerichts bestätigt, soweit dieses der Klage stattgegeben und den Be-
scheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom
3. April 2006 aufgehoben hat. Zu Unrecht hat es die Berufung der Beklagten
aber in vollem Umfang zurückgewiesen und damit im Ergebnis auch den Maß-
gabeausspruch des Verwaltungsgerichts bestätigt.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur (noch) die dem Kläger gesetzte
Frist zur freiwilligen Ausreise. Die Revision der Beklagten ist - wie schon die
Berufung - darauf gerichtet, dass die Klage auch hinsichtlich der dem Kläger im
Bescheid vom 3. April 2006 gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Be-
kanntgabe abgewiesen wird. Diesen Teil des Bescheids hat das Verwaltungs-
gericht aufgehoben. Zugleich hat es im Tenor seiner Entscheidung die „Maß-
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gabe“ ausgesprochen, dass die Ausreisefrist - ohne dass es einer erneuten
Fristsetzung durch das Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unanfecht-
baren Abschluss des Asylverfahrens endet. Indem das Berufungsgericht die
Berufung der Beklagten in vollem Umfang zurückgewiesen hat, hat es diesen
Teil der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ebenfalls bestätigt. Damit um-
fasst die Revision auch den in die Kompetenzen des Bundesamts eingreifenden
gerichtlichen Maßgabeausspruch. In der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts ist im Übrigen geklärt, dass jedenfalls in Asylverfahren die
Ausreisefrist unabhängig von der Abschiebungsandrohung zum Gegenstand
einer gerichtlichen Nachprüfung und damit auch eines Revisionsverfahrens
gemacht werden kann (Urteil vom 3. April 2001 - BVerwG 9 C 22.00 -
BVerwGE 114, 122 <124 f.>).
2. Der Kläger hat weiterhin ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der
- vom Bundesamt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG gestützten - einwöchigen Ausreise-
frist. Von dieser Festsetzung gehen für den Kläger auch nach Ablauf der Frist
noch nachteilige Rechtswirkungen aus, da von ihrem Bestand die gegenwärtige
Vollziehbarkeit der Abschiebung abhängt (Urteil vom 3. April 2001 a.a.O.
<125>).
3. Zu Recht ist das Berufungsgericht in der Sache davon ausgegangen, dass
der Bescheid des Bundesamts hinsichtlich der dem Kläger gesetzten Ausreise-
frist von einer Woche ab Bekanntgabe rechtswidrig und deshalb insoweit auf-
zuheben ist.
Bei einer nach § 14a Abs. 1 oder 2 AsylVfG fingierten Asylantragstellung kann
nach § 14a Abs. 3 AsylVfG jederzeit auf die Durchführung des Asylverfahrens
verzichtet werden. In diesem Fall hat das Bundesamt festzustellen, dass das
Verfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG vorliegt (§ 32 AsylVfG). Zugleich hat es dem Ausländer bei Vorliegen
der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung nach
§§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG anzudrohen (vgl. Urteil des Senats vom
17. Dezember 2009 - BVerwG 10 C 27.08 - InfAuslR 2010, 263). Dabei soll
gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG die Abschiebung schriftlich unter Bestimmung
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einer Ausreisefrist angedroht werden. Hinsichtlich der im Fall des Verzichts zu
setzenden Ausreisefrist schließt sich der Senat der herrschenden Auffassung
an, wonach sich die dem Ausländer vom Bundesamt zu setzende Ausreisefrist
nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG richtet. Die den Senat hierbei leitenden Grün-
de ergeben sich aus dem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C
18.09; hierauf wird Bezug genommen.
4. Die gerichtliche Aufhebung der vom Bundesamt gesetzten Wochenfrist hat
entgegen dem - vom Berufungsgericht bestätigten - Maßgabeausspruch im Te-
nor des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts aber nicht zur Folge, dass
die Ausreisefrist nunmehr - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das
Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des
Asylverfahrens endet. Mit dieser Feststellung ist das Verwaltungsgericht nicht
nur über das - nur auf Aufhebung der gesetzten Ausreisefrist gerichtete - Kla-
gebegehren des Klägers hinausgegangen (§ 88 VwGO), seine Auffassung zur
Entbehrlichkeit einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt ist auch in
der Sache unzutreffend. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausfüh-
rungen im Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 18.09.
5. Das Bundesamt muss dem Kläger folglich in einem neuen Bescheid erneut
eine Ausreisefrist setzen. In diesem besonderen Fall der nachträglichen Frist-
setzung ist als Rechtsgrundlage für die vom Bundesamt zu setzende Ausreise-
frist von einem Monat nicht § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, sondern § 39 Abs. 1
Satz 2 AsylVfG in analoger Anwendung heranzuziehen. Auch insoweit wird
Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil vom heutigen Tag im Ver-
fahren BVerwG 10 C 18.09.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Da die Revision
der Beklagten nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, sind ihr die Kosten des
Revisionsverfahrens in vollem Umfang aufzuerlegen und verbleibt es bei den
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Kostenentscheidungen der Vorinstanzen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b
AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig RiBVerwG Richter
ist wegen Urlaubs an der
Unterschrift gehindert.
Dr. Mallmann
Beck Fricke