Urteil des BVerwG vom 17.08.2010

Aufschiebende Wirkung, Bundesamt, Verzicht, Einstellung des Verfahrens

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 18.09
OVG 1 LB 39/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten werden der Beschluss des
Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom
8. Juni 2009 und der Gerichtsbescheid des Schleswig-
Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 15. September
2008 dahingehend geändert, dass der Maßgabeaus-
spruch in dem Gerichtsbescheid aufgehoben wird.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich nur noch gegen die ihm mit der Abschiebungsandro-
hung gesetzte Frist zur Ausreise innerhalb einer Woche.
Der im Juli 2006 in Deutschland geborene Kläger ist das Kind abgelehnter
Asylbewerber. Im September 2006 zeigte die Ausländerbehörde dem Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gemäß § 14a Abs. 2 AslyVfG
die Geburt des Klägers an. Daraufhin erklärten seine Eltern als gesetzliche Ver-
treter, dass dem Kläger keine politische Verfolgung drohe und auf die Durch-
führung eines Asylverfahrens verzichtet werde.
Mit Bescheid vom 22. September 2006 stellte das Bundesamt das Asylverfah-
ren ein (Nr. 1). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Außerdem forderte es - gestützt
auf § 38 Abs. 2 AsylVfG - den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland in-
nerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, und
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drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Re-
publik Armenien oder die Russische Föderation an (Nr. 3).
Im Klageverfahren wandte sich der Kläger gegen Nr. 2 und 3 des Bescheides.
Mit Gerichtsbescheid vom 15. September 2008 hob das Verwaltungsgericht den
Bescheid des Bundesamts auf, soweit dem Kläger eine Frist zur Ausreise von
einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides gesetzt worden ist. Im Übrigen
wies es die Klage mit der Maßgabe ab, dass die Ausreisefrist einen Monat nach
dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Dabei ging es davon
aus, dass sich die Ausreisefrist bei einem Verzicht auf die Durchführung eines
Asylverfahrens nach § 38 Abs. 1 AsylVfG richte. Einer erneuten Fristsetzung
durch das Bundesamt bedürfe es nicht. Die richtige Ausreisefrist ergebe sich
aus der im Tenor ausgesprochenen Maßgabe. Dies sei möglich, weil sich die
Frist zwingend aus dem Gesetz ergebe und kein Spielraum der Beklagten
bestehe.
Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hat das Oberverwal-
tungsgericht mit Beschluss vom 8. Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung
ist ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe die Fristbestimmung in der ange-
fochtenen Verfügung zu Recht aufgehoben. § 38 Abs. 2 AsylVfG sei hier nicht
anwendbar. Denn im Gegensatz zu anderen Bestimmungen enthalte diese
Vorschrift keine Gleichstellung von Rücknahme und Verzicht. Nach dem Ver-
zicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens betrage die Ausreisefrist viel-
mehr gemäß § 38 Abs. 1 AsylVfG einen Monat. Dem stehe der Regelungs-
zweck des § 14a AsylVfG nicht entgegen. Die Vorschrift solle lediglich sukzes-
sive Antragstellungen einzelner Familienmitglieder verhindern.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Revision.
Sie trägt vor, für den Fall des Verzichts auf die Durchführung eines Asylverfah-
rens fehle eine ausdrückliche Regelung der Ausreisefrist. § 38 Abs. 1 AsylVfG
setze, wie die amtliche Überschrift zeige, die Ablehnung des Asylantrags vor-
aus. Da es daran bei einem Verzicht fehle, sei die Vorschrift nicht einschlägig.
Auch § 38 Abs. 2 AsylVfG sei nicht unmittelbar anwendbar, da der Gesetzgeber
zwischen Verzicht und Rücknahme unterscheide. Diese Regelungslücke sei
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über eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG zu schließen. Eine
analoge Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG würde dem Beschleunigungsge-
danken zuwiderlaufen. Die dortige Monatsfrist mit der gesetzlichen Folge, dass
der Klage aufschiebende Wirkung zukomme, gelte nur, wenn eine Asyl- oder
Flüchtlingsanerkennung nicht von vornherein ausgeschlossen sei. Es sei kein
Grund ersichtlich, Personen, die auf einen Schutzanspruch ausdrücklich ver-
zichteten, möglicherweise schutzbedürftigen Antragstellern gleichzustellen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Berufungsentscheidung. Er ist der Auf-
fassung, dass die Wochenfrist nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelte,
wenn dem Asylbewerber ein rechtsmissbräuchliches oder sonst unredliches
Verhalten vorgeworfen oder ein unbegründetes Verfahren durch Rücknahme
beendet werde. In den Fällen des § 14a AsylVfG werde hingegen erwartet,
dass von der Möglichkeit des Verzichts Gebrauch gemacht werde.
II
Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die
Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m.
§ 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist teilweise begründet. Das Be-
rufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht die Entscheidung des Ver-
waltungsgerichts bestätigt, soweit dieses der Klage stattgegeben und den Be-
scheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom
22. September 2006 aufgehoben hat. Zu Unrecht hat es die Berufung der Be-
klagten aber in vollem Umfang zurückgewiesen und damit im Ergebnis auch
den Maßgabeausspruch des Verwaltungsgerichts bestätigt.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur (noch) die dem Kläger gesetzte
Frist zur freiwilligen Ausreise. Die Revision der Beklagten ist - wie schon die
Berufung - darauf gerichtet, dass die Klage auch hinsichtlich der dem Kläger im
Bescheid vom 22. September 2006 gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab
Bekanntgabe abgewiesen wird. Diesen Teil des Bescheids hat das Verwal-
tungsgericht aufgehoben. Zugleich hat es im Tenor seiner Entscheidung die
„Maßgabe“ ausgesprochen, dass die Ausreisefrist - ohne dass es einer erneu-
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ten Fristsetzung durch das Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unan-
fechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Indem das Berufungsgericht
die Berufung der Beklagten in vollem Umfang zurückgewiesen hat, hat es die-
sen Teil der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ebenfalls bestätigt. Damit
umfasst die Revision auch den in die Kompetenzen des Bundesamts eingrei-
fenden gerichtlichen Maßgabeausspruch. In der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts ist im Übrigen geklärt, dass jedenfalls in Asylverfahren die
Ausreisefrist unabhängig von der Abschiebungsandrohung zum Gegenstand
einer gerichtlichen Nachprüfung und damit auch eines Revisionsverfahrens
gemacht werden kann (Urteil vom 3. April 2001 - BVerwG 9 C 22.00 -
BVerwGE 114, 122 <124 f.>).
2. Der Kläger hat weiterhin ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der
- vom Bundesamt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG gestützten - einwöchigen Ausreise-
frist. Von dieser Festsetzung gehen für den Kläger auch nach Ablauf der Frist
noch nachteilige Rechtswirkungen aus, da von ihrem Bestand die gegenwärtige
Vollziehbarkeit der Abschiebung abhängt (Urteil vom 3. April 2001 a.a.O.
<125>).
3. Zu Recht ist das Berufungsgericht in der Sache davon ausgegangen, dass
der Bescheid des Bundesamts hinsichtlich der dem Kläger gesetzten Ausreise-
frist von einer Woche ab Bekanntgabe rechtswidrig und deshalb insoweit auf-
zuheben ist.
Bei einer nach § 14a Abs. 1 oder 2 AsylVfG fingierten Asylantragstellung kann
nach § 14a Abs. 3 AsylVfG jederzeit auf die Durchführung des Asylverfahrens
verzichtet werden. In diesem Fall hat das Bundesamt festzustellen, dass das
Verfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG vorliegt (§ 32 AsylVfG). Zugleich hat es dem Ausländer bei Vorliegen
der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung nach
§§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG anzudrohen (vgl. Urteil des Senats vom
17. Dezember 2009 - BVerwG 10 C 27.08 - InfAuslR 2010, 263). Dabei soll
gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG die Abschiebung schriftlich unter Bestimmung
einer Ausreisefrist angedroht werden. Hinsichtlich der im Fall des Verzichts zu
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setzenden Ausreisefrist gehen Rechtsprechung und Literatur inzwischen über-
wiegend von der Monatsfrist des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aus (vgl. u.a. OVG
Münster, Urteil vom 11. August 2006 - 1 A 1437/06.A - ZAR 2006, 418; OVG
Greifswald, Urteil vom 17. Juni 2008 - 3 L 224/06 - NordÖR 2008, 415;
Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2009, § 14a AsylVfG Rn. 24; inzwischen auch
Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Oktober 2009, § 38 Rn. 13 unter Aufgabe
Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens - wie von der Beklagten
angenommen - die Ausreisefrist in entsprechender Anwendung des § 38 Abs. 2
AsylVfG auf eine Woche festzusetzen ist (vgl. VG Wiesbaden, Urteil vom
30. Juni 2005 - 1 E 714/05.A - juris; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 32 AsylVfG
Rn. 6). Insoweit schließt sich der Senat der herrschenden Auffassung an, wo-
nach sich beim Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens gemäß
§ 14a Abs. 3 AsylVfG die dem Ausländer vom Bundesamt mit der Abschie-
bungsandrohung zu setzende Ausreisefrist nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
richtet.
Einer unmittelbaren Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG steht schon der Wort-
laut der Vorschrift entgegen. Danach setzt die Anwendung der Wochenfrist die
Rücknahme des Asylantrags voraus; der Verzicht auf die Durchführung eines
Asylverfahrens wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Da die Rück-
nahme eines Asylantrags und der Verzicht auf die Durchführung eines Asylver-
fahrens nach einer fingierten Asylantragstellung selbständige Verfahrenshand-
lungen darstellen, sprechen auch systematische Gründe dafür, dass sie einzel-
ne Rechtsfolgen nur dann miteinander teilen, wenn das Gesetz dies ausdrück-
lich vorsieht. Der Gesetzgeber hat mit § 14a Abs. 3 AsylVfG den Verzicht in das
Asylverfahrensgesetz eingeführt und andere Vorschriften (z.B. §§ 32, 71 Abs. 1
und § 72 Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG) hieran angepasst, indem er die Folgen eines
Verzichts insoweit denen der Antragsrücknahme ausdrücklich gleichgestellt hat.
Bei § 38 Abs. 2 AsylVfG wurde hingegen - ebenso wie bei § 67 Abs. 1 AsylVfG
(Erlöschen der Aufenthaltsgestattung) und bei § 10 Abs. 3 AufenthG (Sperrwir-
kung bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels) - auf eine Gleichstellung verzich-
tet. An dieser Differenzierung hat der Gesetzgeber festgehalten, obwohl er
2007 im Rahmen des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
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Richtlinien der Europäischen Union (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungs-
gesetz - unter anderem auch § 14a AsylVfG zum Teil geändert hat und ihm zu
diesem Zeitpunkt die vorliegende Problematik bereits bekannt war.
Es besteht auch kein Bedürfnis für eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2
AsylVfG, da die Fälle des Verzichts auf die Durchführung eines Asylverfahrens
von der Auffangregelung in § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfasst werden. Danach
beträgt die Ausreisefrist in den sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den
Ausländer nicht als Asylberechtigten anerkennt, einen Monat. Die Formulierung
„in den sonstigen Fällen“ bezieht sich systematisch auf die vorangestellten Re-
gelungen in §§ 36 und 37 AsylVfG, die die Ausreisefrist bei unbeachtlichen und
offensichtlich unbegründeten Asylanträgen betreffen. Wird ein Asylantrag vom
Bundesamt weder als unbeachtlich noch als offensichtlich unbegründet abge-
lehnt, gilt folglich § 38 Abs. 1 AsylVfG, solange nicht ausnahmsweise eine an-
dere Regelung greift, wie etwa die kurze Ausreisefrist des § 38 Abs. 2 AsylVfG
im Falle der Rücknahme des Asylantrags vor der Entscheidung des Bundes-
amts.
Der unmittelbaren Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG steht die amtliche
Überschrift des § 38 AsylVfG („Ausreisefrist bei sonstiger Ablehnung und bei
Rücknahme des Asylantrags“) nicht entgegen. Der Anwendungsbereich der
Vorschrift ist dadurch nicht auf Fälle beschränkt, in denen eine ablehnende Ent-
scheidung über den Asylantrag ergeht. Die Überschrift stammt aus einer Zeit
als das Gesetz die fiktive Antragstellung nach § 14a Abs. 1 und 2 AsylVfG und
den in diesen Fällen möglichen Verzicht nach § 14a Abs. 3 AsylVfG noch nicht
kannte. Dass § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als Auffangnorm nicht nur bei der Ab-
lehnung eines Asylantrags gilt, sondern grundsätzlich alle Entscheidungen des
Bundesamts im Sinne des Dritten Unterabschnitts des Zweiten Abschnitts des
Asylverfahrensgesetzes erfasst, durch die der Ausländer nicht als Asylberech-
tigter oder Flüchtling anerkannt worden ist, zeigt sich auch daran, dass der Ge-
setzgeber hier eine entsprechende Formulierung verwendet wie in § 34 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG in Bezug auf die Zuständigkeit des Bundesamts zum Erlass der
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu Urteil vom 17. Dezember 2009 a.a.O. - juris
Rn. 11).
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Auch der Gesetzeszweck der Regelungen über das familieneinheitliche Asyl-
verfahren in § 14a AsylVfG erfordert es nicht, dass den von der fiktiven Asylan-
tragstellung betroffenen Kindern von Ausländern nach dem Verzicht auf die
Durchführung eines Asylverfahrens mit der Einstellung des Verfahrens und der
Entscheidung über Abschiebungsverbote (§ 32 AsylVfG) sowie der Androhung
der Abschiebung (§ 34 Abs. 1 AsylVfG) eine Ausreisefrist von lediglich einer
Woche gesetzt wird. § 14a AsylVfG wurde 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz
in das Asylverfahrensgesetz eingefügt. Mit der fingierten Asylantragstellung soll
verhindert werden, dass durch sukzessive Antragstellungen überlange Aufent-
haltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Be-
troffenen entstehen (BTDrucks 15/420 S. 108, vgl. hierzu auch Urteil vom
21. November 2006 - BVerwG 1 C 10.06 - BVerwGE 127, 161 Rn. 30). Dieses
Ziel wird nicht vereitelt, wenn beim Verzicht auf die Durchführung eines Asylver-
fahrens hinsichtlich der vom Bundesamt zu setzenden Ausreisefrist § 38 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG Anwendung findet. In diesem Fall kommt der Klage gegen die
Entscheidung des Bundesamts zwar nach § 75 Satz 1 AsylVfG aufschiebende
Wirkung zu. Die darin liegende zeitliche Verzögerung ist aufgrund der vom Ge-
setzgeber getroffenen Regelung über die Rechtsfolgen des Verzichts aber hin-
zunehmen. Etwas anderes lässt sich - entgegen der Ansicht der Beklagten -
auch nicht aus der übergeordneten allgemeinen Zwecksetzung des Zuwande-
rungsgesetzes entnehmen. Zwar verfolgte der Gesetzgeber mit diesem Gesetz
auch das Ziel, die Durchführung des Asylverfahrens zu straffen und zu be-
schleunigen sowie dem Missbrauch von Asylverfahren entgegenzuwirken
(BTDrucks 15/420 S. 1). Die Regelung in § 14a Abs. 3 AsylVfG wäre aber nicht
erforderlich gewesen, wenn die Rechtsfolgen des Verzichts in jeder Hinsicht
denen der Antragsrücknahme hätten gleichgestellt werden sollen. Zur Errei-
chung dieses Ziels hätte es genügt, dass der fingierte Asylantrag jederzeit zu-
rückgenommen werden kann. Stattdessen hat der Gesetzgeber den Verzicht
als neue Verfahrenshandlung geschaffen und ihn der Rücknahme lediglich hin-
sichtlich einzelner asylverfahrensrechtlicher Folgen gleichgestellt (vgl. §§ 32, 71
Abs. 1 und § 72 Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG); bei den einschneidenden aufenthalts-
rechtlichen Folgen einer Antragsrücknahme (vgl. § 38 Abs. 2, § 67 Abs. 1
AsylVfG und § 10 Abs. 3 AufenthG) hat er hingegen von einer Angleichung ab-
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gesehen. Dies zeigt, dass der Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfah-
rens die aufenthaltsrechtliche Situation des Betroffenen nicht in gleichem Maße
wie eine Rücknahme verschlechtern soll, auch um einen gewissen Anreiz zu
schaffen, dass der Betroffene ein von ihm nicht eingeleitetes und in vielen Fäl-
len von vornherein aussichtsloses Asylverfahren alsbald beendet. Ob dies auch
dann gilt, wenn das Bundesamt den Asylantrag bereits vor Abgabe der Ver-
zichtserklärung mit der Rechtsfolge des § 36 Abs. 1 AsylVfG als offensichtlich
unbegründet oder unbeachtlich abgelehnt hat, bedarf hier keiner Entscheidung.
4. Die gerichtliche Aufhebung der vom Bundesamt gesetzten Wochenfrist hat
entgegen dem - vom Berufungsgericht bestätigten - Maßgabeausspruch im Te-
nor des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts aber nicht zur Folge, dass
die Ausreisefrist nunmehr - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das
Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des
Asylverfahrens endet. Mit dieser Feststellung ist das Verwaltungsgericht nicht
nur über das - nur auf Aufhebung der gesetzten Ausreisefrist gerichtete - Kla-
gebegehren des Klägers hinausgegangen (§ 88 VwGO), seine Auffassung zur
Entbehrlichkeit einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt ist auch in
der Sache unzutreffend.
Die Ausreisefrist soll es dem Ausländer ermöglichen, seine beruflichen und
persönlichen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet abzuwickeln und einer Ab-
schiebung durch freiwillige Ausreise zuvorzukommen. Darüber hinaus gewähr-
leistet sie im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1
GG, dass der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (Urteil vom
22. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 14.96 - Buchholz 402.240 § 50 AuslG 1990
Nr. 3). Auch wenn für Asylverfahren die Dauer der mit der Abschiebungsan-
drohung zu setzenden Ausreisefrist zwingend vorgegeben ist (vgl. § 36 Abs. 1,
§§ 38, 39 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), ist es Sache des Bundesamts, diese Frist
festzusetzen. In Fällen, in denen das Bundesamt - wie hier - in Verkennung der
Rechtslage rechtswidrig eine zu kurze Ausreisefrist gesetzt hat und diese
deshalb im gerichtlichen Verfahren aufgehoben wird, bedarf es einer (erneu-
ten) Fristsetzung durch das Bundesamt mit der Folge, dass der Ausländer erst
nach Ablauf dieser Frist abgeschoben werden kann.
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Soweit nach § 37 Abs. 2 AsylVfG in Fällen, in denen das Bundesamt den
Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt und gemäß §§ 34, 36
Abs. 1 AsylVfG eine Abschiebungsandrohung mit einwöchiger Ausreisefrist
erlassen hat, die Ausreisefrist kraft Gesetzes einen Monat nach dem unan-
fechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet, wenn das Verwaltungsgericht
zuvor einem Antrag des Asylbewerbers nach § 80 Abs. 5 VwGO stattgegeben
hat, handelt es sich um eine Sonderregelung, die die erforderlichen Konse-
quenzen aus der Änderung des Aufenthaltsstatus eines Ausländers zieht, die
dieser mit einem erfolgreichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erstritten
hat (Urteil vom 3. April 2001 a.a.O. S. 129). § 37 Abs. 2 AsylVfG ist auf den
Fall, dass das Bundesamt nach dem Verzicht auf die Durchführung eines
Asylverfahrens in Verkennung der Rechtslage eine zu kurze Ausreisefrist setzt,
weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden. Wird ein Asylverfahren auf
einen fingierten Asylantrag hin eingeleitet und nach einer Verzichtserklärung
eingestellt, trifft das Bundesamt - anders als im Falle der Ablehnung eines
Asylantrags als offensichtlich unbegründet oder unbeachtlich - keine Entschei-
dung über das Asylbegehren in der Sache. Damit fehlt es auch an einer die
Anwendung des § 37 Abs. 2 AsylVfG rechtfertigenden nachträglichen Ände-
rung der aufenthaltsrechtlichen Stellung des Klägers im Hinblick auf sein asyl-
rechtlich begründetes vorläufiges Bleiberecht durch eine vom Bundesamt ab-
weichende Beurteilung der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylbegeh-
rens oder der Erheblichkeit des Folgeantrags durch das Verwaltungsgericht in
einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren.
Auch § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG, demzufolge die Ausreisefrist im Falle der
Klageerhebung einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asyl-
verfahrens endet, hilft hier nicht weiter. Diese Vorschrift bezieht sich auf die in
§ 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG geregelten Fälle, in denen das Bundesamt dem
Ausländer eine Ausreisefrist von einem Monat gesetzt hat und der Klage damit
nach § 75 AsylVfG aufschiebende Wirkung zukommt. Hierdurch ist die Voll-
ziehbarkeit der Ausreisepflicht für die Dauer des Rechtsstreits ausgesetzt und
entsteht erst wieder mit dem unanfechtbaren, für den Ausländer negativen Ab-
schluss des Asylverfahrens. Auf diesen Zeitpunkt verschiebt § 38 Abs. 1 Satz 2
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AsylVfG den Beginn der vom Bundesamt nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
gesetzten einmonatigen Ausreisefrist und zieht damit die notwendige Folge-
rung aus der Tatsache, dass in den Fällen des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die
Abschiebungsandrohung samt Ausreisepflicht während des gerichtlichen Ver-
fahrens nicht vollziehbar ist (Urteil vom 3. April 2001 a.a.O. S. 130). Die Vor-
schrift greift dagegen nicht, wenn das Bundesamt dem Kläger keine oder - wie
hier - eine zu kurze und deshalb im gerichtlichen Verfahren aufzuhebende
Ausreisefrist gesetzt hat.
5. Das Bundesamt muss dem Kläger folglich in einem neuen Bescheid erneut
eine Ausreisefrist setzen. Dem steht der vom Gesetzgeber in Asylverfahren
verfolgte Beschleunigungs- und Konzentrationsgedanke nicht entgegen. Es
handelt sich hier um ein Übergangsproblem, das allein darauf beruht, dass das
Bundesamt in Verkennung der Rechtslage rechtswidrig eine zu kurze Ausrei-
sefrist gesetzt hat. Hinsichtlich der vom Bundesamt nachzuholenden Fristset-
zung weist der Senat allerdings klarstellend darauf hin, dass in diesem beson-
deren Fall der nachträglichen Fristsetzung als Rechtsgrundlage für die vom
Bundesamt zu setzende Ausreisefrist von einem Monat nicht § 38 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG, sondern § 39 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG anzusehen ist.
§ 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG betrifft ersichtlich nicht die Fälle, in denen das
Bundesamt nur noch über die Ausreisefrist entscheidet, das Asylverfahren aber
einschließlich der Abschiebungsandrohung bereits unanfechtbar abge-
schlossen ist. In diesen Fällen ist es nicht gerechtfertigt, dass der Klage über
§ 75 AsylVfG aufschiebende Wirkung zukommt und der Beginn der Frist über
§ 38 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG bis zum unanfechtbaren Abschluss des Verfahrens
hinausgeschoben wird. Den Fall einer vom Bundesamt entgegen der zwingen-
den gesetzlichen Vorgaben zu kurz bemessenen und deshalb im gerichtlichen
Verfahren aufzuhebenden Ausreisefrist hatte der Gesetzgeber bei diesen Vor-
schriften nicht vor Augen. Eine Anwendung des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
würde hier zudem zu einem Wertungswiderspruch mit § 39 Abs. 1 AsylVfG
führen, wonach bei einer erfolgreichen Beanstandungsklage des Bundesbe-
auftragten für Asylangelegenheiten die dem Ausländer vom Bundesamt (nach-
träglich) mit der Abschiebungsandrohung zu setzende Ausreisefrist zwar eben-
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falls einen Monat beträgt, eine Klage hiergegen nach § 75 AsylVfG aber keine
aufschiebende Wirkung hat. Die bestehende Regelungslücke bei der nachträg-
lichen Fristsetzung ist hier daher nicht über § 38 Abs. 1 AsylVfG, sondern im
Wege einer analogen Anwendung des § 39 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG zu schlie-
ßen, mit der Folge, dass das Bundesamt dem Kläger nachträglich eine einmo-
natige Frist zur Ausreise zu setzen hat, einer etwaigen hiergegen erhobenen
Klage nach § 75 AsylVfG aber keine aufschiebende Wirkung zukommt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Da die Revision
der Beklagten nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, sind ihr die Kosten des
Revisionsverfahrens in vollem Umfang aufzuerlegen und verbleibt es bei den
Kostenentscheidungen der Vorinstanzen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b
AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig RiBVerwG Richter
ist wegen Urlaubs an der
Unterschrift gehindert.
Dr. Mallmann
Beck Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Asylrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§§ 14a, 32, 34 Abs. 1, §§ 36, 37 Abs. 2, §§ 38, 39 Abs. 1,
§ 67 Abs. 1, § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 75
AufenthG
§ 10 Abs. 3, § 59 Abs. 1, § 60 Abs. 2 bis 7
VwGO
§ 80 Abs. 5
GG
Art. 19 Abs. 4
Stichworte:
Fingierter Asylantrag; Verzicht auf Durchführung eines Asylverfahrens; Rück-
nahme; Einstellung; Abschiebungsandrohung; Ausreisefrist; Festsetzung;
Wochenfrist; Monatsfrist; aufschiebende Wirkung.
Leitsätze:
1. Nach dem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens für ein Kind
gemäß § 14a Abs. 3 AsylVfG beträgt die vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge zu setzende Ausreisefrist gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG einen
Monat.
2. Setzt das Bundesamt nach dem Verzicht auf die Durchführung eines Asyl-
verfahrens in Verkennung der Rechtslage eine kürzere Ausreisefrist und wird
diese deshalb im gerichtlichen Verfahren aufgehoben, bedarf es einer erneuten
Fristsetzung durch das Bundesamt.
Urteil des 10. Senats vom 17. August 2010 - BVerwG 10 C 18.09
I. VG Schleswig vom 15.09.2008 - Az.: VG 4 A 1883/06 -
II. OVG Schleswig vom 08.06.2009 - Az.: OVG 1 LB 39/08 -