Urteil des BVerwG vom 31.03.2008

Änderung der Verhältnisse, Politische Verfolgung, Genfer Flüchtlingskonvention, Irak

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 C 15.07
VGH 13a B 05.30858
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 31. März 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG
eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäi-
schen Gemeinschaften zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Ist Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG
des Rates vom 29. April 2004 dahin auszulegen, dass
- abgesehen von Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951
(Genfer Flüchtlingskonvention) - die Flüchtlingseigenschaft
bereits dann erlischt, wenn die begründete Furcht des
Flüchtlings vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c
der Richtlinie, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte,
entfallen ist und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht
vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie
haben muss?
2. Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist: Setzt das
Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1
Buchst. e der Richtlinie darüber hinaus voraus, dass in
dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling be-
sitzt,
a) ein Schutz bietender Akteur im Sinne des Art. 7 Abs. 1
der Richtlinie vorhanden ist und reicht es hierbei aus, dass
die Schutzgewährung nur mit Hilfe multinationaler Truppen
möglich ist,
b) dem Flüchtling kein ernsthafter Schaden im Sinne des
Art. 15 der Richtlinie droht, der zur Zuerkennung subsidiä-
ren Schutzes nach Art. 18 der Richtlinie führt, und/oder
c) die Sicherheitslage stabil ist und die allgemeinen Le-
bensbedingungen das Existenzminimum gewährleisten?
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3. Sind in einer Situation, in der die bisherigen Umstände,
aufgrund derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt
worden ist, entfallen sind, neue andersartige verfolgungs-
begründende Umstände
a) an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen, der für
die Anerkennung von Flüchtlingen gilt, oder findet zuguns-
ten des Betreffenden ein anderer Maßstab Anwendung,
b) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu beurteilen?
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.
Der 1973 in Kerkuk geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger turkmeni-
scher Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste im Februar 2000
nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung gab er an, er habe
aus Verzweiflung über die Inhaftierung seines Bruders ein Mitglied der Baath-
Partei niedergestochen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehn-
te den Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht
das Bundesamt mit Urteil vom 28. August 2000, den Kläger als Flüchtling nach
§ 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) an-
zuerkennen, weil dieser im Irak schon wegen seiner Asylantragstellung politi-
sche Verfolgung zu befürchten habe. Dieser Verpflichtung kam das Bundesamt
mit Bescheid vom 14. Juli 2004 nach. Im Oktober 2004 leitete es wegen der
veränderten Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren ein und widerrief nach
Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 11. Februar 2005 die Flüchtlingsaner-
kennung. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.
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Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Juli 2005 den
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgehoben. Dem Kläger sei angesichts
der äußerst instabilen Lage im Irak eine Rückkehr nicht zuzumuten. Auf die Be-
rufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom
6. März 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abge-
wiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe
zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft infolge der inzwischen
eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse im Irak keinen An-
spruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Wegen seines Asylan-
trags und seiner illegalen Ausreise drohten ihm keine Verfolgungsmaßnahmen
mehr. Das bisherige Regime Saddam Husseins habe seine militärische und
politische Herrschaft über den Irak endgültig verloren. Weder von den Koaliti-
onstruppen noch von der irakischen Regierung hätten Exiliraker Gefährdungen
zu erwarten. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im
Irak bestehe für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers kein An-
halt. Zwar fänden vermehrt Anschläge statt, die aber an der grundsätzlichen
Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts änderten. Aller-
dings seien im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Die allge-
meine Sicherheitslage sei nach der Beendigung der Hauptkampfhandlungen im
Mai 2003 hochgradig instabil. Ziel der in ihrer Intensität zunehmenden Anschlä-
ge sei es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener
irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land
insgesamt zu destabilisieren. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf ver-
schiedene Bevölkerungsgruppen durch nichtstaatliche Akteure seien die Über-
griffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, etwa auf Rückkehrer, aber nicht
derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in
näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung begründen könnten. Auch die Voraus-
setzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG lägen nicht vor.
Mit der vom Senat beschränkt auf die Anfechtung des Widerrufs der Flücht-
lingsanerkennung zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstel-
lung des erstinstanzlichen Urteils.
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Die Beklagte ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinte-
resses am Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
II
Der Senat hat über die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer
Vorabentscheidung in der gleichen Besetzung zu entscheiden, in der er die
Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefragen erheblich sind (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 15. April 2005 - 1 BvL 6/03 und 8/04 - NVwZ 2005, 801
zum Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG m.w.N.). Diese erginge in der
Besetzung von fünf Richtern (§ 144 Abs. 2 und 3, §§ 141, 125 Abs. 1, §§ 107,
10 Abs. 3 Halbs. 1 VwGO). Wegen der Abhängigkeit des Vorabentscheidungs-
ersuchens von der im ausgesetzten Verfahren zu treffenden Hauptsacheent-
scheidung findet § 10 Abs. 3 Halbs. 2 VwGO, wonach bei Beschlüssen außer-
halb der mündlichen Verhandlung drei Richter mitwirken, keine Anwendung.
Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Ge-
richtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Aner-
kennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benöti-
gen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG L 304 vom
30. September 2004, S. 12 ; ber. ABl EG L 204 vom 5. August 2005, S. 24) ein-
zuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG). Da es um die Auslegung
von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten
Fragen zur Auslegung der Richtlinie sind entscheidungserheblich und bedürfen
einer Klärung durch den Gerichtshof. Insoweit wird zur weiteren Begründung
auf den Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 im Verfahren BVerwG 10 C
33.07 verwiesen.
Ergänzend ist zur Entscheidungserheblichkeit darauf hinzuweisen, dass das
Berufungsgericht auch im vorliegenden Verfahren davon ausgegangen ist, dass
die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die begründete Furcht des Flüchtlings
vor Verfolgung, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und er
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auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung haben muss. Dabei ist
unerheblich, dass das Bundesamt der gerichtlichen Verpflichtung zur Anerken-
nung des Klägers als Flüchtling aus dem Jahr 2000 formell erst im Juli 2004
nachgekommen ist. Denn maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des
Widerrufs einer Flüchtlingsanerkennung, die in Erfüllung eines rechtskräftigen
Verpflichtungsurteils ausgesprochen wird, ist nicht der Zeitpunkt des Ergehens
des Anerkennungsbescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen Verpflich-
tungsurteils (vgl. Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 C 15.02 - BVerwGE 118,
174 <177 f.>). Bei Bejahung der Frage 1 wäre das Berufungsurteil daher nicht
zu beanstanden. Im Gegensatz zu der dem Verfahren BVerwG 10 C 33.07
zugrunde liegenden Entscheidung hat das Berufungsgericht vorliegend das Be-
stehen einer staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Sinne einer prinzipiell
schutzmächtigen Ordnung aber nicht offen gelassen, sondern ist trotz der
schwierigen Sicherheitslage von einer „grundsätzlichen Kontrolle des Staatsge-
biets auch durch alliierte Kräfte“ ausgegangen. Damit kommt es auch im vorlie-
genden Fall in Bezug auf Frage 2 Buchst. a darauf an, ob es - unter der Vor-
aussetzung, dass es für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft des Vorhan-
denseins eines Schutz bietenden Akteurs im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richt-
linie bedarf - ausreicht, dass die Schutzgewährung - wie vom Berufungsgericht
festgestellt - nur mit Hilfe multinationaler Truppen möglich ist. Bei Bejahung von
Frage 2 Buchst. b wäre das Berufungsurteil auch im vorliegenden Verfahren
aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das
Berufungsgericht zurückzuweisen, da bislang noch nicht geprüft worden ist, ob
dem Kläger ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie droht.
Gleiches gilt bei Bejahung der Frage 2 Buchst. c, da das Berufungsgericht da-
von ausgegangen ist, dass es für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung
nicht auf stabile Verhältnisse im Sinne eines effektiven Schutzes durch Polizei
und Justiz sowie auf eine ausreichende Infrastruktur und ein Recht auf eine
Existenzgrundlage im Herkunftsland ankomme, und folgerichtig in dieser Hin-
sicht keine weiteren Feststellungen getroffen hat. Im Übrigen stellt sich auch im
vorliegenden Verfahren die Frage, ob nach Wegfall der Umstände, aufgrund
derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, für neue andersartige
verfolgungsbegründende Umstände zugunsten des Betreffenden ein anderer
Maßstab gilt und ob in dieser Situation, nachdem die Umsetzungsfrist der Richt-
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linie zwischenzeitlich abgelaufen ist, die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie Anwendung findet.
Der Senat weist darauf hin, dass die vorgelegten Fragen Gegenstand mehrerer
gleichlautender Vorabentscheidungsersuchen sind. Da sich in der Vergangen-
heit eine ganze Reihe von Widerrufsfällen während des sich anschließenden
Gerichtsverfahrens (durch Rückkehr, Einbürgerung etc.) erledigt haben, eine
Klärung der vorgelegten Fragen aber für eine Vielzahl weiterer Fälle von Be-
deutung ist, soll durch diese Vorgehensweise sichergestellt werden, dass eine
Entscheidung des Gerichtshofs nicht durch die eher zufällige Erledigung in ei-
nem einzelnen Verfahren hinausgezögert wird.
Prof. Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Beck
Prof. Dr. Kraft Fricke
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