Urteil des BVerwG vom 01.03.2012

Änderung der Verhältnisse, Genfer Flüchtlingskonvention, Bundesamt, Togo

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 11.11
OVG 2 L 223/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom
9. März 2011 aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zur an-
derweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.
Die 1976 geborene Klägerin ist togoische Staatsangehörige. Sie reiste 2002
nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 20. Februar 2003
lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Antrag der Kläge-
rin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte jedoch fest, dass der Vo-
raussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs.
1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen.
Anfang 2008 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich einge-
tretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung
widerrief es mit Bescheid vom 4. April 2008 die Flüchtlingsanerkennung der
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Klägerin. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat
das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 9. September 2008 abgewie-
sen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-
Vorpommern mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entschei-
dung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begrün-
dung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des
§ 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in Togo
hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Wiederholung der
für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.
Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzli-
chen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe
seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu-
grunde gelegt.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne münd-
liche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125
Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Beru-
fungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für ei-
nen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die
mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (1.). Die Beru-
fungsentscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als
richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.). Mangels der für eine abschließende Ent-
scheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sa-
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che nicht selbst abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weite-
ren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverwei-
sen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (3.).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch der im Bescheid des Bun-
desamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 4. April 2008 ausge-
sprochene Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Soweit das Bundesamt zu-
gleich festgestellt hat, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG nicht vorliegen, ist das abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts in
Rechtskraft erwachsen. Obwohl das Berufungsgericht die Berufung in vollem
Umfang zugelassen hat, hat sich die Klägerin im Berufungsverfahren - bei
sachdienlicher Auslegung ihres Vorbringens - ausschließlich gegen den Wider-
ruf ihrer Flüchtlingsanerkennung gewandt.
1. Bei dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, der im vorliegenden Fall for-
mell nicht zu beanstanden ist (s.a. Urteil vom 29. September 2011 - BVerwG
10 C 24.10 - juris Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab
der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Beru-
fungsgericht verfehlt hat.
1.1 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigen-
schaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr
vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall,
wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz
des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit
dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom
29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu ge-
währenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berich-
tigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flücht-
lingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände
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umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG
sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen
der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer
Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011
- BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 9 und vom 1. Juni 2011
- BVerwG 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408 Rn. 15, zur Veröffentlichung in der
Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Die unionsrechtlichen Vorga-
ben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e
der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ
2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände
erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings
vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung
einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrenn-
bar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach
Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. dazu im Einzelnen: Urteil des Senats vom
heutigen Tage im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 Rn. 12 f. m.w.N.).
1.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte
Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehler-
haften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose
nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern
den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies
bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr
2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahr-
scheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).
1.3 Die Berufungsentscheidung beruht auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG. Mit den vom Bundesamt zum Anlass für eine Überprü-
fung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in Togo
(hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten Eyadema im Februar
2005 und der von seinem Sohn im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog
mit der Opposition) ist nach der Anerkennung der Klägerin eine Änderung der
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tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland eingetreten. Das Berufungsge-
richt hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche
und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der
Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungser-
heblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so
dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil
vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen
Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesentlich verän-
dert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein
rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur
Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Progno-
semaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen
Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in
Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundla-
ge des zutreffenden Prognosemaßstabes. Insoweit wird zur weiteren Begrün-
dung Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heuti-
gen Tag im Verfahren BVerwG 10 C. 7.11 (Rn. 16). In diesem Verfahren hat
das Berufungsgericht mit gleichlautender Begründung den Widerruf einer
Flüchtlingsanerkennung aufgehoben.
3. Das Berufungsgericht wird in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen,
ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorüber-
gehend geändert haben, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr keine beacht-
liche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Auch insoweit wird Be-
zug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heutigen Tag
im Verfahren BVerwG 10 C. 7.11 (Rn. 18). Dabei wird das Berufungsgericht
auch der Behauptung der Beklagten im Beschwerdeverfahren nachzugehen
haben, dass es sich bei der ATLMC, für die die Klägerin sich in Togo nach ei-
genen Angaben u.a. politisch betätigt hat, nicht um eine Partei, sondern um ei-
ne lokale Organisation handele, die der CDPA nahestehe. Diese gehöre zwar
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der radikalen Opposition an, ihr Vorsitzender habe aber bereits mehrfach wich-
tige Ministerposten in der „Regierung der nationalen Einheit“ innegehabt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert er-
gibt sich aus § 30 RVG.
VRiBVerwG Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Beck
ist wegen Urlaubs gehindert
zu unterschreiben.
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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