Urteil des BVerwG vom 17.11.2011

Bewaffneter Konflikt, Gefahr, Irak, Bundesamt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 11.10
VGH 13a B 08.30283
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. November 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und
Prof. Dr. Kraft sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Januar 2010 wer-
den zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens zu
je einem Drittel.
G r ü n d e :
I
Die Kläger, eine irakische Staatsangehörige und ihre Kinder, erstreben Ab-
schiebungsschutz wegen ihnen im Irak drohender Gefahren.
Die 1965 in Khanaqin (Zentralirak) geborene Klägerin zu 1 und ihre 1995
und 1998 in Bagdad geborenen Kinder, die Kläger zu 2 und 3, sind arabische
Volkszugehörige schiitischen Glaubens. Zur Begründung des im Novem-
ber 2001 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - gestellten Asylantrags
gab die Klägerin zu 1 an, sie sei nach der Flucht ihres Ehemannes von Sicher-
heitskräften wegen seines Verbleibs verhört und unter Druck gesetzt worden.
Mit Bescheid vom 21. Januar 2002 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der
Kläger ab. Das Verwaltungsgericht verpflichtete das Bundesamt, bei den Klä-
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gern die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach
§ 51 Abs. 1 AuslG 1990 (inzwischen § 60 Abs. 1 AufenthG) festzustellen. Ihnen
drohe wegen ihres illegalen Auslandsaufenthalts Verfolgung. Mit Bescheid vom
2. August 2002 kam das Bundesamt dem nach.
Wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak widerrief das Bundes-
amt am 29. Mai 2006 die Flüchtlingsanerkennungen und stellte zugleich fest,
dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.
Die hiergegen erhobenen Klagen hatten in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Der
Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Februar 2007 im Wesentlichen
ausgeführt, der Widerruf sei rechtmäßig, weil die Kläger im Irak nach dem Sturz
des Regimes von Saddam Hussein keine Verfolgung mehr zu befürchten hät-
ten. Sie könnten auch keine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG bzw. subsidiären Schutz gemäß Art. 15 Buchst. c der
Richtlinie 2004/83/EG beanspruchen. Im Irak liege kein landesweiter innerstaat-
licher bewaffneter Konflikt vor. Zudem hätten die Kläger die Möglichkeit, in Tei-
len des Irak internen Schutz zu finden. Im Übrigen stehe die Erlasslage des
Bayerischen Staatsministeriums des Innern, die bei allgemeinen Gefahren ver-
gleichbaren Abschiebungsschutz biete, der Gewährung richtliniengemäßen
subsidiären Schutzes entgegen.
Während des Revisionsverfahrens haben die Kläger ihre Revision hinsichtlich
des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung zurückgenommen. Der erkennende
Senat hat mit Urteil vom 24. Juni 2008 (Az.: BVerwG 10 C 42.07) das Revisi-
onsverfahren insoweit eingestellt. Im Übrigen hat er, soweit die Verpflichtung
zur Feststellung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes aus § 60 Abs. 2, 3
und 7 Satz 2 AufenthG und hilfsweise nationalen Abschiebungsschutzes aus
§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird, das Berufungsurteil aufgeho-
ben und die Sache zurückverwiesen. Zur Begründung hat er darauf abgestellt,
dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG keinen landesweiten bewaffneten Konflikt
voraussetze. Die zusätzliche Annahme des Berufungsgerichts, die Kläger könn-
ten innerhalb des Irak internen Schutz finden, beruhe auf einer zu schmalen
Tatsachengrundlage. Schließlich verletze der Verweis auf die Aussetzung von
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Abschiebungen durch ministerielle Erlasse revisibles Recht. Denn § 60 Abs. 7
Satz 3 AufenthG sei richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die Sperrwir-
kung nicht greife, wenn die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Richtli-
nie 2004/83/EG erfüllt seien.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Kläger mit Urteil vom 21. Ja-
nuar 2010 zurückgewiesen, soweit sie sich auf das noch anhängige Begehren
zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
bezieht. Mit Blick auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führt das Berufungsgericht
aus, es könne dahinstehen, ob die im Irak seit 2003 andauernden und durch
staatliche Sicherheitskräfte bekämpften terroristischen Handlungen nach Inten-
sität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizie-
ren seien. Jedenfalls seien die Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr
für Leib oder Leben ausgesetzt. An ihrem Herkunftsort in Bagdad bestehe keine
so hohe Gefahrendichte, dass praktisch jede Zivilperson alleine aufgrund ihrer
Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedro-
hung ausgesetzt wäre. Dies ergebe sich aus der Größenordnung der Anschläge
und der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Die Wahr-
scheinlichkeit, durch einen Terroranschlag verletzt oder getötet zu werden, ha-
be 2009 ca. 0,1% oder ca. 1:1000 pro Jahr betragen. Für eine Verschärfung der
Sicherheitslage gebe es keine Anhaltspunkte. Gefahrerhöhende individuelle
Umstände seien bei den Klägern nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des
hilfsweise begehrten nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 7 Satz 1 und
§ 60 Abs. 5 AufenthG) lägen ebenfalls nicht vor.
Mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision wenden sich die
Kläger allein gegen die Ablehnung der Feststellung eines Abschiebungsverbots
nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Sie rügen, der Verwaltungsgerichtshof habe
bei der Ermittlung der Gefahrendichte auf die im Rahmen der Gruppenverfol-
gung entwickelten Kriterien der Verfolgungsdichte abgestellt, ohne zwischen
den Schutzsystemen zu differenzieren und die Besonderheiten des subsidiären
Schutzes zu berücksichtigen. Auch seien die in das Verfahren eingeführten
Quellen zur Häufigkeit von Anschlägen im Irak und zur Zahl der Toten und Ver-
letzten nicht interpretiert und bewertet worden.
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Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
II
Die Revisionen der Kläger, über die der Senat im Einverständnis mit den Betei-
ligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141
Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sind unbegründet. Das Berufungsge-
richt hat die begehrte Verpflichtung zur Gewährung subsidiären unionsrechtli-
chen Abschiebungsschutzes ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO) abgelehnt.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das Verpflichtungsbegehren
auf Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes. Die dar-
über hinausgehende Beschränkung der Revisionsanträge auf das Vorliegen ei-
nes Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erweist sich als
unwirksam. Denn der geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur
Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2
AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in
Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindest-
normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen
Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU
Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach
dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen, in sich nicht
weiter teilbaren Streitgegenstand (Urteile vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C
43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11 und vom 8. September 2011 - BVerwG 10 C
14.10 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 16).
Eine Revision kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchs-
grundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden
(Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 13).
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Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen, nicht mit Verfahrens-
rügen angegriffenen und das Revisionsgericht daher bindenden tatsächlichen
Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) greift keines der genannten Abschie-
bungsverbote.
1. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers
in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevöl-
kerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen
eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.
Diese Bestimmung entspricht nach der Rechtsprechung des Senats trotz ge-
ringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der
Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (Urteil vom 24. Juni
2008 a.a.O. Rn. 17 und 36).
Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die im Irak seit 2003 andauernden
und durch staatliche Sicherheitskräfte bekämpften terroristischen Handlungen
nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
anzusprechen sind, weil die Kläger auch bei Annahme eines derartigen Kon-
flikts keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt
wären. Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.
a) Für seine Prognose, ob die Kläger bei Rückkehr in den Irak einer erheblichen
individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt
sind, hat der Verwaltungsgerichtshof zu Recht auf die tatsächlichen Verhält-
nisse in ihrer Herkunftsregion Bagdad abgestellt. Dort haben sie zuletzt gelebt
und dort sind die Kläger zu 2 und 3 geboren worden, so dass die Annahme ge-
rechtfertigt ist, dass sie nach Bagdad zurückkehren werden (vgl. Urteil vom
14. Juli 2009 - BVerwG 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188 Rn. 17).
b) Das Berufungsgericht hat des Weiteren zutreffend geprüft, ob von dem - zu-
gunsten der Kläger unterstellten - bewaffneten Konflikt in der Region von Bag-
dad für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr ausgeht, die
sich in den Personen der Kläger so verdichtet, dass sie für diese eine erhebli-
che individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt.
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Denn auch eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr
kann sich individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllen
(Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 34).
Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher
Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Per-
son des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Um-
stände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker
betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder
Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich
sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller
als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner
religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen
nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt
(Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33).
Gefahrerhöhende individuelle Umstände hat das Berufungsgericht bei den Klä-
gern nicht festgestellt (UA S. 13); dem sind die Kläger mit ihren Revisionen
auch nicht entgegengetreten.
Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann aber auch dann, wenn in-
dividuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außer-
gewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad ge-
kennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesen-
heit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung aus-
gesetzt wäre (Urteil vom 14. Juli 2009 a.a.O. Rn. 13 und 15 mit Verweis auf
EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07, Elgafaji - Slg. 2009, I-921 =
NVwZ 2009, 705). Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor,
ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (Urteil vom
27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - a.a.O. Rn. 33).
In jedem Fall setzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für die Annahme einer erhebli-
chen individuellen Gefahr voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht. Das
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ergibt sich aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ in Art. 2
Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG. Der darin enthaltene Wahrscheinlichkeits-
maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tat-
sächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom
28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, 1330
ff.>); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil
vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - a.a.O. Rn. 22 zu § 60 Abs. 2
AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG).
Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsver-
bots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG u.a. die Beweisregel des Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller be-
reits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw.
von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war,
ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfol-
gung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften
Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass
der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden
bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen tatsäch-
lichen Vermutung setzt aber auch im Rahmen des subsidiären Schutzes vor-
aus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen
oder damals unmittelbar drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem be-
fürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zugrunde liegen-
de Wiederholungsvermutung beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine
Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssitu-
ation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt (Urteil vom 27. April 2010
- BVerwG 10 C 4.09 - a.a.O. Rn. 31).
Eine für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichende Ge-
fahrendichte hat das Berufungsgericht für den Bereich der Stadt Bagdad ver-
neint. Es hat - in Anlehnung an die Vorgehensweise zur Feststellung einer
Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts (vgl. dazu Urteil vom
18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 20 ff.) - aufgrund
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aktueller Quellen annäherungsweise die Gesamtzahl der in Bagdad lebenden
Zivilpersonen ermittelt und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt
sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung gesetzt. Dabei
hat es festgestellt, dass das Risiko, in Bagdad verletzt oder getötet zu werden,
für das gesamte Jahr 2009 ungefähr 1:1000 betrug. Einen Trend zur Ver-
schlechterung der Sicherheitslage vermochte es nicht festzustellen (UA S. 12).
Seine auf der Grundlage dieser Feststellungen gezogene Schlussfolgerung,
dass die Kläger bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland keiner erheblichen indi-
viduellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt
sind, ist revisionsgerichtlich im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zwar bedarf es - wie die Revisionen im Ansatz zu Recht rügen - neben dieser
quantitativen Ermittlung auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statisti-
schen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schä-
digungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung (Urteil vom
27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - a.a.O. Rn. 33). Zu dieser wertenden Be-
trachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versor-
gungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die
Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern
dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann. Der Mangel in der
Vorgehensweise des Berufungsgerichts bleibt aber im vorliegenden Fall ohne
Folgen. Denn die Höhe des vom Berufungsgericht festgestellten Risikos eines
den Klägern drohenden Schadens ist so weit von der Schwelle der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwir-
ken vermag.
Auch der Umstand, dass der Verwaltungsgerichtshof mit Blick auf die Klägerin
zu 1 nicht auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie
2004/83/EG eingegangen ist, verhilft ihrer Revision nicht zum Erfolg, denn ihr
Vorfluchtschicksal gab dazu keinen Anlass. Dieses lässt keine Beeinträchtigung
erkennen, die auch unter dem Blickwinkel des Art. 15 Buchst. b der Richtlinie
2004/83/EG die Qualität einer Vorschädigung erreichen könnte. Zudem bestün-
de kein sachlicher Zusammenhang mit den nunmehr im Irak drohenden Gefah-
ren.
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2. Das Berufungsgericht hat auch die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2
und 3 AufenthG in den Blick genommen, sie aber nicht als durchgreifend ange-
sehen. Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m.
§ 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Richter
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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