Urteil des BVerwG vom 07.09.2010

Folter, Behandlung, Ausreise, Wahrscheinlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 11.09
OVG 15 A 620/07.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 7. September 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
29. Juli 2008 aufgehoben, soweit es sich auf die Verpflich-
tung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungs-
verbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG be-
zieht.
lnsoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückver-
wiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit,
erstrebt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7
Satz 2 AufenthG.
Der 1976 in der Türkei geborene Kläger reiste im Dezember 1990 nach
Deutschland ein und beantragte Asyl, weil ihm wegen Unterstützung der PKK in
der Türkei politische Verfolgung drohe. Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des
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Verwaltungsgerichts Köln erkannte das Bundesamt für die Anerkennung aus-
ländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
- Bundesamt - den Kläger im Juli 1995 als Asylberechtigten an und stellte das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bezüglich der Tür-
kei fest (Flüchtlingsschutz). In den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es,
der Kläger habe die Türkei wegen drohender politischer Verfolgung verlassen
(Vorfluchtgrund). Er habe glaubhaft dargelegt, dass er in den Verdacht geraten
sei, Sympathisant der PKK zu sein. Als solchem habe ihm jedenfalls ein polizei-
liches Ermittlungsverfahren und asylrechtlich erhebliche Haft und Folter ge-
droht. In der Türkei werde insbesondere im Polizeigewahrsam systematisch
gefoltert.
Nachdem der Kläger im Dezember 2000 wegen gemeinschaftlichen schweren
Raubes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verur-
teilt und zugleich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet
worden war, widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 11. Oktober 2005 die
Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des Klägers, weil er den Ausschlusstatbe-
stand des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt habe, und stellte ferner fest,
dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen.
Eine konkrete Gefahr für den Kläger, bei einer Rückkehr in die Türkei der Folter
oder anderen menschenrechtswidrigen Maßnahmen unterzogen zu werden, sei
nicht ersichtlich. Gegen die Strafverfolgung in der Türkei bestünden inzwischen
- nach der Strafrechtsreform - keine durchgreifenden rechtsstaatlichen
Bedenken. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln seien keine Fälle mehr
bekannt geworden, in denen abgelehnte Asylbewerber in Zusammenhang mit
früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden seien.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen den Widerrufsbescheid stattgege-
ben. Das Oberverwaltungsgericht hat dagegen den Widerrufsbescheid als
rechtmäßig bestätigt und die Klage insgesamt, also auch hinsichtlich des Hilfs-
begehrens auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, abgewiesen. Zur Begründung hat es insoweit aus-
geführt, die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG sei zwar - anders als die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft -
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nicht durch den Ausschlussgrund nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ausge-
schlossen. Die Voraussetzungen dieser Abschiebungsverbote lägen aber nicht
vor. Insoweit komme es nicht darauf an, ob der Kläger vor seiner Ausreise be-
reits von Vorverfolgung betroffen gewesen sei, da allein der Prognosemaßstab
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich sei. Das Verwaltungsgericht
habe seinerzeit bei der Zuerkennung des Asyls und der Flüchtlingsanerkennung
angenommen, dem Kläger drohe im Rahmen des polizeilichen Ermitt-
lungsverfahrens wegen Unterstützung der PKK asylrechtlich erhebliche Haft
und Folter. Hinsichtlich der asylrechtlich erheblichen Haft bestehe jedenfalls
zum jetzigen Zeitpunkt keine Gefährdung mehr, die auf ein Abschiebungsverbot
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG führe. Für die Annahme, dass dem Kläger die
Gefahr der Folter auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe,
bestünden keine Anhaltspunkte. Der Kläger sei bei seiner Ausreise erst
14 Jahre alt gewesen, seine Tätigkeit habe sich damals darauf beschränkt, als
Freiheitskämpfer verkleidete türkische Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen
in der Annahme, es handele sich tatsächlich um Freiheitskämpfer. Mittlerweile
lägen diese Geschehnisse fast 18 Jahre zurück. Zwar würden abgeschobene
Personen von der türkischen Grenzpolizei einer Routinekontrolle unterzogen,
die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten
Umständen und eine eingehende Befragung beinhalte. Nur dann, wenn sich
Anhaltspunkte dafür ergäben, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstüt-
zer der PKK bzw. einer Nachfolgeorganisation nahestehe oder schon vor der
Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden habe, müsse er mit
einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen
auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Nach Lage der Dinge
bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Kläger in der Türkei ge-
fahndet werde. Ebenso wenig sei es beachtlich wahrscheinlich, dass er in der
Türkei heute noch wegen Unterstützung der PKK individuell registriert sei, so
dass erst recht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Folter oder eine men-
schenrechtswidrige Behandlung zu verneinen sei.
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat der
Senat die Revision hinsichtlich des Hilfsbegehrens auf Verpflichtung zur
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2
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AufenthG, die dem subsidiären Schutz nach der Richtlinie 2004/83/EG zuzu-
ordnen sind, zugelassen. Im Übrigen, also hinsichtlich des Widerrufs der Asyl-
und Flüchtlingsanerkennung sowie hinsichtlich des Nichtvorliegens von sonsti-
gen nationalen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5
und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, hat der Senat die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Kläger trägt zur Begründung seiner Revision im Wesentlichen vor, das Be-
rufungsgericht habe bei der Prüfung der unionsrechtlich begründeten Abschie-
bungsverbote - hier: des Verbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG wegen konkreter
Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Bestrafung - zu Unrecht den Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrschein-
lichkeit angewandt. Da er vorverfolgt ausgereist sei, komme ihm gemäß § 60
Abs. 11 AufenthG auch im Rahmen dieser Abschiebungsverbote die Regelung
des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG - sog. Qualifikationsrichtlinie - zugu-
te. Danach indiziere ein einmal erlittener Eingriff, der die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG erfülle, eine weiterhin bestehende Ge-
fährdung des Betroffenen. Diese Indizwirkung entfalle erst, wenn sich zwi-
schenzeitlich die Bedingungen im Heimatland grundsätzlich geändert hätten. Ei-
ne solche Veränderung sei aber nach überwiegender Rechtsprechung in der
Türkei bislang nicht erkennbar. In seinem, des Klägers, Fall sei daher ein Ab-
schiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte ist - ähnlich wie der Kläger - der Auffassung, dass auch bei den
unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverboten, von denen hier allein das
nach § 60 Abs. 2 AufenthG in Betracht komme, die Wiederholungsvermutung
nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu gelten habe, wenn der Auslän-
der vor seiner Ausreise bereits in gleicher Weise verfolgt oder von solcher Ver-
folgung unmittelbar bedroht gewesen sei. Gleichwohl könne die Revision keinen
Erfolg haben, weil eine Vorverfolgung des Klägers, zumal in Gestalt der Folter,
nicht festgestellt worden sei und nach den Ausführungen des Berufungsgerichts
auch mehr als fernliege. Abgesehen davon sprächen angesichts der Tatsache,
dass seit der allenfalls untergeordneten Unterstützung der PKK durch den
damals 14-jährigen Kläger inzwischen 18 Jahre vergangen seien, auch
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stichhaltige Gründe dagegen, dass er heute noch einer ähnlichen Gefahr wie
zur Zeit seiner Ausreise ausgesetzt wäre.
Der Vertreter des Bundesinteresses meint, das Berufungsgericht habe bei der
Gefahrenprognose im Rahmen von § 60 Abs. 2 AufenthG zwar zutreffend den
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt, es habe aber
rechtsfehlerhaft die Nachweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m.
Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie unberücksichtigt gelassen. Seine nur
unter dem Blickwinkel der beachtlichen Wahrscheinlichkeit getroffenen Fest-
stellungen reichten nicht aus, um das Eingreifen der Nachweiserleichterung
abschließend zu beurteilen.
II
Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne
mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und
§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der
Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil es das Vorliegen
eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG verneint hat, ohne zu
prüfen, ob dem Kläger gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG die Beweiserleichterung
nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden
Schutzes (ABl EU vom 30. September 2004 Nr. L 304 S. 12, ber. ABl EU vom
5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) - sog. Qualifikationsrichtlinie - zugutekommt
(1.). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil
selbst nicht abschließend entscheiden kann, ob bei dem Kläger ein solches
Abschiebungsverbot hinsichtlich der Türkei vorliegt (2.), ist die Sache zur an-
derweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht
zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
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1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das Verpflichtungsbegeh-
ren des Klägers auf Feststellung eines der unionsrechtlich begründeten Ab-
schiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend
den Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. a bis c der Richtlinie 2004/83/EG).
Hinsichtlich des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung und hinsicht-
lich der ausländerrechtlichen Abschiebungsverbote nach nationalem Recht
(§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) ist das Berufungsurteil nach Zurückwei-
sung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig geworden. Von den unions-
rechtlich begründeten Abschiebungsverboten kommt vorliegend nur das Ab-
schiebungsverbot wegen drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedri-
gender Behandlung oder Bestrafung nach § 60 Abs. 2 AufenthG (entsprechend
Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG) in Betracht.
Für die rechtliche Beurteilung des Verpflichtungsbegehrens des Klägers, das
auf Feststellung eines solchen Abschiebungsverbots zielt, ist gemäß § 77
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 29. Juli 2008 abzustellen.
Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der
Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) anzuwenden, die
- soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die
Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asyl-
rechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I
S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.
Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abge-
schoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen
zu werden (zur Entstehungsgeschichte und Auslegung dieses durch das Richt-
linienumsetzungsgesetz in Umsetzung von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie
2004/83/EG neu formulierten Abschiebungsverbots vgl. Urteil des Senats vom
27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungs-
sammlung BVerwGE vorgesehen, Rn. 15 ff.).
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a) Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die
Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG nicht des-
halb ausscheidet, weil der Kläger den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1
Alt. 2 AufenthG erfüllt hat. Denn dieser Ausschlussgrund gilt nach dem eindeu-
tigen Wortlaut nur für das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot nach § 60
Abs. 1 AufenthG, nicht hingegen für die sonstigen Abschiebungsverbote nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Auch die Tatsache, dass die Richtlinie 2004/83/EG
für den subsidiären Schutz in Art. 17 Abs. 1 Buchst. d einen vergleichbaren
Ausschlussgrund vorsieht, führt nicht dazu, dass die den Voraussetzungen des
Art. 15 der Richtlinie entsprechenden Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3
und 7 Satz 2 AufenthG dem Kläger nicht zuerkannt werden könnten. Denn der
deutsche Gesetzgeber hat die unionsrechtlichen Vorschriften zum subsidiären
Schutz im Aufenthaltsgesetz insoweit „überschießend“ umgesetzt, als er die in
Art. 15 der Richtlinie enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60
Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestal-
tet und die Ausschlussgründe nach Art. 17 der Richtlinie erst auf nachgelagerter
Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG normiert hat (vgl. das bereits zitierte Urteil
vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - a.a.O. Rn. 16). Die Verwirklichung
von Ausschlussgründen nach Art. 17 der Richtlinie steht deshalb der Feststel-
lung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG
nicht entgegen.
b) Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots
nach § 60 Abs. 2 AufenthG hat das Berufungsgericht bei der Prognose, ob für
den Kläger in der Türkei die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder un-
menschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu
werden, zu Recht den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde
gelegt. Der für den Ausländer günstigere sog. herabgestufte Wahrscheinlich-
keitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit, der in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asyl-
grundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt und auf den Flüchtlingsschutz
übertragen worden ist, war und ist im Rahmen des subsidiären Abschiebungs-
schutzes nicht anzuwenden. Dieser herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab
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hat auch in die Richtlinie 2004/83/EG keinen Eingang gefunden, sondern ist
durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden,
die sowohl für den Flüchtlingsschutz als auch für den subsidiären Schutz nach
der Richtlinie gilt. Diese Nachweiserleichterung ist nach der vom deutschen Ge-
setzgeber getroffenen Regelung in § 60 Abs. 11 AufenthG auch im Rahmen der
unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und
7 Satz 2 AufenthG anzuwenden. Als Prognosemaßstab gilt daher für diese
Abschiebungsverbote - ebenso wie für die sonstigen rein nationalen Abschie-
bungsverbote - allein der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (zum
Vorstehenden insgesamt wiederum Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C
5.09 - a.a.O. Rn. 18 bis 23 m.w.N.). Die Rüge der Revision, das Berufungsge-
richt habe im Rahmen von § 60 Abs. 2 AufenthG den falschen Wahrscheinlich-
keitsmaßstab angewandt, ist daher unbegründet.
c) Zu Recht bemängelt die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht bei
der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG die Rege-
lung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG
nicht berücksichtigt hat. Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung
eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde
oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Ver-
folgung oder einem solchem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter
Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist
bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei
denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von
solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift
begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächli-
che Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem
solchen Schaden bedroht sind. Geht es um die Anwendung des Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie bei der Feststellung eines unionsrechtlich vorgezeichneten subsi-
diären Abschiebungsverbots, greift die Vermutung nach dieser Vorschrift ein,
wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaf-
ten Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie erlitten hat oder unmittelbar von
einem solchen Schaden bedroht war (Vorschädigung; vgl. Urteil vom 27. April
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2010 - BVerwG 10 C 4.09 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssamm-
lung BVerwGE vorgesehen, Rn. 27). Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtli-
chen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären
Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im
Sinne des Art. 15 der Richtlinie liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in
Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung
besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, dass
der Antragsteller „erneut von einem solchen Schaden bedroht wird“, einen inne-
ren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künfti-
gen Schaden voraus (Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - a.a.O. Rn.
31).
Ob die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zugunsten des Klä-
gers eingreift, hat das Berufungsgericht, das weder diese Vorschrift noch § 60
Abs. 11 AufenthG in den Urteilsgründen erwähnt hat, ersichtlich nicht geprüft.
Hierzu hätte aber Anlass bestanden, da das Berufungsgericht selbst ausführt
(UA S. 21), dass das Verwaltungsgericht Köln bei der Zuerkennung von Asyl
und Flüchtlingsschutz an den Kläger im Urteil vom 19. März 1995 einen Vor-
fluchtgrund angenommen habe, weil der Kläger vor seiner Ausreise mit der Ein-
leitung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens zu rechnen gehabt habe und
ihm in diesem Rahmen nicht nur asylerhebliche Haft, sondern auch Folter ge-
droht habe. Dies wird vom Berufungsgericht bei seinen weiteren Ausführungen,
weil aus seiner Sicht rechtlich unerheblich, auch nicht in Frage gestellt. Da in
einer drohenden Folter zugleich auch ein ernsthafter Schaden im Sinne von
Art. 15 Buchst. b der Richtlinie läge, könnte die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie zugunsten des Klägers eingreifen, es sei denn, dass stichhaltige
Gründe dagegen sprechen, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht
ist. Dies hat das Berufungsgericht nicht geprüft und festgestellt. Indem es
gleichwohl das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2
AufenthG verneint hat, hat es deshalb Bundesrecht verletzt.
2. Die Berufungsentscheidung erweist sich entgegen der Ansicht der Beklagten
auch nicht im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Den Feststellungen
des Berufungsgerichts kann nicht entnommen werden, dass es - ungeachtet
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der fehlerhaften Rechtsgrundlage - jedenfalls der Sache nach Umstände fest-
gestellt hat, die ein Eingreifen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie zugunsten des Klägers ausschließen. Dass es, wie die Beklagte
meint, schon an einer Vorverfolgung und damit auch an einer Vorschädigung im
Sinne dieser Vorschrift fehlen würde, lasst sich aus den Feststellungen des
Berufungsgerichts, das eine dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende
Folter zumindest unterstellt, keinesfalls herleiten. Auch für die Annahme, dass
stichhaltige Gründe vorliegen, die die Vermutung der Wiederholung des Scha-
denseintritts widerlegen könnten, fehlt es an ausreichenden tatrichterlichen
Feststellungen. Das Berufungsgericht hat seine gesamten Ausführungen zur
Gefahrenprognose hierzu ersichtlich im Rahmen der Prüfung einer auch heute
noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Folter oder menschen-
rechtswidrigen Behandlung gemacht und diese unter Würdigung der Auskunfts-
lage über die Behandlung abgeschobener türkischer Staatsangehöriger und im
Hinblick darauf verneint, dass der Kläger bei der Ausreise erst 14 Jahre alt ge-
wesen sei, mittlerweile 18 Jahre vergangen seien und die Tätigkeit des Klägers
sich darauf beschränkt habe, vermeintliche Freiheitskämpfer der PKK - in
Wahrheit verkleidete Soldaten - mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese allein
unter dem Blickwinkel der beachtlichen Wahrscheinlichkeit getroffenen Fest-
stellungen können vom Revisionsgericht nicht als Feststellung stichhaltiger,
gegen eine Schadenswiederholung sprechende Gründe unter dem Blickwinkel
von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie uminterpretiert werden. Dies käme allenfalls in
Betracht, wenn das Berufungsgericht die Gefahrenprognose nach dem herab-
gestuften Maßstab der hinreichenden Sicherheit vorgenommen und die Gefahr
einer Folter oder sonstigen menschenrechtswidrigen Behandlung oder Bestra-
fung nach diesem Maßstab verneint hätte, wobei allerdings auch dann zu be-
achten wäre, dass im Einzelfall eine Beurteilung nach dem herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu einem anderen Ergebnis führen kann als die
Anwendung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie (vgl. Urteil vom 27. April 2010
- BVerwG 10 C 5.09 - a.a.O. Rn. 23 und Beschluss vom 22. Juli 2010 - BVerwG
10 B 20.10 - juris Rn. 5).
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Ebenso wenig reichen die bisherigen Feststellungen im Berufungsurteil aus, um
das Vorliegen eines Abschiebungsverbots zugunsten des Klägers zu bejahen.
Es bedarf deshalb in jedem Fall einer neuen tatrichterlichen Prüfung und Wür-
digung im Hinblick auf Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, so dass das Verfahren an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
3. Das Oberverwaltungsgericht wird in dem weiteren Berufungsverfahren unter
Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erneut prüfen müssen, ob für
den Kläger die konkrete Gefahr besteht, dass er in der Türkei der Folter oder
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen
wird. Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass das Oberverwaltungsgericht
bei der Frage, ob der Kläger vor seiner Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie unmittelbar von einem ernsthaften Schaden bedroht war - die Alterna-
tive eines bereits erlittenen ernsthaften Schadens dürfte nach dem eigenen Vor-
bringen des Klägers nicht in Betracht kommen -, nicht an die Feststellungen des
Verwaltungsgerichts, das seinerzeit den Asyl- und Flüchtlingsschutz zuge-
sprochen hat, gebunden ist, sondern es sich auch insoweit eine eigene tatrich-
terliche Überzeugung gemäß § 108 Abs. 1 VwGO bilden muss. Dies schließt es
allerdings nicht aus, dass das Berufungsgericht sich die dortigen Feststellungen
nach entsprechender Prüfung zu eigen macht. Bei der gebotenen Gesamtwür-
digung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Ver-
mutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie widerlegt ist, kann das Berufungsgericht
im Übrigen auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Ab-
schiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl II 1952 S. 685)
- EMRK - ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grund-
sätze zu achten (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - a.a.O.
Leitsatz 2 und Rn. 29).
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Wegen
des Kostenanteils, der auf den bereits abschließend rechtskräftig entschiede-
nen Teil des Verfahrens entfällt, wird auf die Kostenentscheidung und deren
Begründung im Beschluss des Senats über die Nichtzulassungsbeschwerde
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vom 29. Juni 2009 - BVerwG 10 B 60.08 - verwiesen. Gerichtskosten werden
gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Beck
Prof. Dr. Kraft Fricke