Urteil des BVerwG vom 01.03.2012

Änderung der Verhältnisse, Widerruf, Genfer Flüchtlingskonvention, Bundesamt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 10.11
OVG 2 L 224/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom
9. März 2011 aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zur an-
derweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.
Der 1977 geborene Kläger ist togoischer Staatsangehöriger. Er reiste 1997
nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Das Bundesamt für die Anerken-
nung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
- Bundesamt - lehnte den Antrag ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne
Erfolg. Im August 2004 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag, den er mit exil-
politischen Aktivitäten begründete. Das Bundesamt lehnte die Durchführung
eines weiteren Asylverfahrens ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwal-
tungsgericht das Bundesamt mit Urteil vom 25. November 2004, hinsichtlich
des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m.
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§ 60 Abs. 1 AufenthG) festzustellen. Das Bundesamt kam der - seit 4. Januar
2005 rechtskräftigen - Verpflichtung mit Bescheid vom 13. Januar 2005 nach.
Im November 2007 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich
eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach An-
hörung widerrief es mit Bescheid vom 28. Januar 2008 die Flüchtlingsanerken-
nung des Klägers. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschie-
bungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wurde abgesehen, da der Wi-
derruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid
erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 9. Sep-
tember 2008 abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-
Vorpommern mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entschei-
dung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begrün-
dung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des
§ 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in Togo
hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Verfolgung auf ab-
sehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.
Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzli-
chen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe
seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab
zugrunde gelegt. Außerdem habe sich die Rechtslage nachträglich zu Lasten
des Klägers geändert. Der Gesetzgeber habe mit § 28 Abs. 2 AsylVfG für Asyl-
folgeverfahren einen neuen Regelausschlusstatbestand geschaffen.
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne münd-
liche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125
Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Beru-
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fungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für ei-
nen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die
mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist. Der angefochte-
ne Widerruf hatte nach § 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung zu
ergehen (1.). Hinsichtlich einer Änderung der Sachlage hat das Berufungsge-
richt seiner Verfolgungsprognose aber einen unrichtigen Wahrscheinlichkeits-
maßstab zugrunde gelegt (2.). Die Berufungsentscheidung stellt sich insoweit
auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4
VwGO) (3.). Umgekehrt folgt aus der zwischenzeitlichen Änderung der Rechts-
lage keine Entscheidung zu Lasten des Klägers (4.). Mangels der für eine ab-
schließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen ist das
Verfahren zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsge-
richt zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (5.).
1. Der angefochtene Widerruf ist formell nicht zu beanstanden und hatte nach
§ 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung zu ergehen. Nach § 73
Abs. 2a AsylVfG hat das Bundesamt spätestens nach Ablauf von drei Jahren
nach Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung zu prüfen, ob die Voraus-
setzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme vorliegen und das Ergebnis
der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen (§ 73 Abs. 2a Satz 1 und 2
AsylVfG). Ist nach einer solchen Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme
nicht erfolgt (Negativentscheidung), steht eine spätere Entscheidung nach § 73
Abs. 1 oder 2 AsylVfG im Ermessen der Behörde, es sei denn der Widerruf
oder die Rücknahme ist erfolgt, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8
Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG vorliegen (§ 73 Abs. 2a Satz 4
AsylVfG). Dabei kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, welche Rechts-
folgen sich an eine pflichtwidrige Unterlassung der Prüfung nach § 73 Abs. 2a
Satz 1 AsylVfG knüpfen (vgl. Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 34.06 -
Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 31). Denn der Widerruf ist (jeden-
falls) auch dann zwingend auszusprechen, wenn er - wie hier - innerhalb eines
angemessenen Prüfungszeitraums nach Ablauf der Dreijahresfrist erfolgt (Urteil
vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG
Nr. 28).
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Die gerichtliche Verpflichtung, auf der die Flüchtlingsanerkennung des Klägers
beruht, erwuchs am 4. Januar 2005 in Rechtskraft. Damit endete die Dreijahres-
frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG am 4. Januar 2008. Wegen der anstehen-
den Prüfung nach § 73 Abs. 2a AsylVfG hat das Bundesamt bereits im Novem-
ber 2007 - vor Ablauf der Dreijahresfrist - ein Widerrufsverfahren eingeleitet und
dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ab diesem Zeitpunkt
musste der Kläger mit einem Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung rechnen.
Umgehend nach Eingang der Stellungnahme des Klägers mit Schreiben vom
18. Januar 2008 hat das Bundesamt die Anerkennung noch im Januar 2008
- und damit innerhalb eines angemessenen Prüfungszeitraums nach Ablauf der
Dreijahresfrist - widerrufen.
2. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht die materielle Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Bescheids verneint hat, hält einer revisionsrechtlichen Prü-
fung nicht stand. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen
für sie nicht mehr vorliegen. Beim Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wegen
einer nachträglichen Änderung der Sachlage ist für die Verfolgungsprognose
auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen,
den das Berufungsgericht verfehlt hat.
2.1 Von einem Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen aufgrund einer
nachträglichen Änderung der Sachlage ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG
insbesondere auszugehen, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände,
die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr
ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die
unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Aner-
kennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benöti-
gen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom
30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005
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S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die An-
erkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Voraussetzungen in § 73
Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der ent-
sprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an
Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (vgl.
Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 9
und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 15). Die
unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Eu-
ropäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08
u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die
Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so
dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet ange-
sehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im
Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose
verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des
Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. dazu im Einzel-
nen: Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 10 C 7.11
Rn. 12 f. m.w.N.).
2.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte
Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehler-
haften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose
nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern
den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies
bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr
2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahr-
scheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).
2.3 Die Berufungsentscheidung beruht auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG. Mit den vom Bundesamt zum Anlass für eine Überprü-
fung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in Togo
(hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten Eyadema im Februar
2005 und der von seinem Sohn im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog
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mit der Opposition) ist nach der Anerkennung des Klägers eine Änderung der
tatsächlichen Verhältnisse in seinem Heimatland eingetreten. Das Berufungsge-
richt hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche
und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der
Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungser-
heblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so
dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil
vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen
Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesentlich verän-
dert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein
rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur
Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Progno-
semaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich insoweit auch nicht aus
anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsäch-
lichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnis-
sen in Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der
Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Insoweit wird zur weiteren
Begründung Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom
heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 (Rn. 16). In diesem Verfahren
hat das Berufungsgericht mit gleichlautender Begründung den Widerruf einer
Flüchtlingsanerkennung aufgehoben.
4. Umgekehrt folgt aus der zwischenzeitlichen Änderung der Rechtslage keine
Entscheidung zu Lasten des Klägers. Mit dem zum 1. Januar 2005 in Kraft ge-
tretenen Regelausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG bei selbstgeschaffe-
nen Nachfluchtgründen in einem Folgeverfahren liegt zwar eine nachträgliche
Änderung der Rechtslage vor. Diese berechtigt aber nicht zum Widerruf der
Flüchtlingsanerkennung.
4.1 Beruht die Flüchtlingsanerkennung - wie vorliegend - auf einem gerichtli-
chen Verpflichtungsurteil, ist maßgeblicher Bezugspunkt für eine nachträgliche
Änderung der Verhältnisse der Zeitpunkt des Ergehens des rechtskräftig ge-
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wordenen Urteils (hier: 25. November 2004, Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG
1 C 15.02 - BVerwGE 118, 174 <177 f.>). Seinerzeit waren subjektive Nach-
fluchtgründe nur bei der Asylanerkennung regelmäßig unbeachtlich. Dies hat
sich erst mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geän-
dert. Seitdem stehen in einem Folgeverfahren subjektive Nachfluchtgründe, die
der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines frühe-
ren Asylantrags geschaffen hat, auch einer Flüchtlingsanerkennung in der Re-
gel entgegen.
4.2 Nicht jede Rechtsänderung zu Lasten des Betroffenen führt jedoch dazu,
dass das Bundesamt die Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1
AufenthG widerrufen muss. Für die Ausschlussgründe wegen Asylunwürdigkeit
hat der Senat entschieden, dass Altanerkennungen, die vor Einführung dieser
Ausschlussgründe ausgesprochen wurden, jedenfalls nach Umsetzung der
Richtlinie 2004/83/EG wegen der unionsrechtlich nunmehr zwingend gebotenen
Beachtung dieser Ausschlussgründe zu widerrufen sind (Urteil vom 7. Juli 2011
- BVerwG 10 C 26.10 - BVerwGE 140, 114 Rn. 21). Vergleichbare unionsrecht-
liche Vorgaben fehlen beim Regelausschlussgrund der selbstgeschaffenen
Nachfluchtgründe im Folgeverfahren nach § 28 Abs. 2 AsylVfG. Nach Art. 5
Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten unbeschadet der
Genfer Flüchtlingskonvention festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Fol-
geantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Ver-
folgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des
Herkunftslandes selbst geschaffen hat. Die Richtlinie gebietet daher weder die
Berücksichtigung selbstgeschaffener Nachfluchtgründe im Folgeverfahren noch
steht sie einer einschränkenden nationalen Regelung entgegen.
Auch in Fällen, in denen eine nachträgliche Änderung der Rechtslage - wie
hier - nicht auf zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben beruht, ist die Anwen-
dung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht von vornherein ausgeschlossen.
Dafür spricht der Wortlaut der Vorschrift, der - anders als bei der allgemeinen
Widerrufsregelung in § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 VwVfG - nicht zwischen
nachträglich eingetretenen Tatsachen und geänderten Rechtsvorschriften diffe-
renziert, sondern nur verlangt, dass die „Voraussetzungen“ für die Anerkennung
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nicht mehr vorliegen. Auch den Gesetzesmaterialien zu § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG kann eine Beschränkung auf tatsächliche Änderungen nicht entnom-
men werden.
Wenngleich der Widerruf damit im Grundsatz nicht auf nachträgliche Änderun-
gen der Sachlage beschränkt ist, bedeutet dies aber nicht, dass jede Änderung
der Rechtslage das Bundesamt nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zur Einleitung
eines Widerrufsverfahrens berechtigt und verpflichtet. Ein Widerruf wegen einer
nachträglichen Änderung der Rechtslage setzt vielmehr voraus, dass der Ge-
setzgeber die Rechtslage nicht nur mit Wirkung für die Zukunft neu gestaltet
hat, sondern die Regelung ausnahmsweise auch für bestandskräftig abge-
schlossene Asylverfahren Geltung beansprucht und diese Rückwirkung mit der
Verfassung in Einklang steht. Bezüglich des zum 1. Januar 2005 eingefügten
§ 28 Abs. 2 AsylVfG fehlt es indes an Anhaltspunkten, dass sich diese nach-
trägliche Verschärfung der Anerkennungsvoraussetzungen nach dem Willen
des Gesetzgebers auch auf bestandskräftig abgeschlossene Flüchtlingsaner-
kennungen erstrecken sollte.
Nach der Gesetzesbegründung zum Zuwanderungsgesetz ging es dem Ge-
setzgeber mit der Neuregelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG darum, dass künftig
auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft regelmäßig ausgeschlossen
ist, wenn nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags ein Fol-
geverfahren auf selbst geschaffene Nachfluchtgründe gestützt wird. Hierdurch
sollte der bislang bestehende Anreiz genommen werden, nach unverfolgter
Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener
Nachfluchtgründe ein Asylfolgeverfahren zu betreiben. Zugleich wurde davon
ausgegangen, dass durch diese Maßnahme die hohe Anzahl der beim Bundes-
amt anhängigen (Folge-)Verfahren langfristig reduziert wird (vgl. BTDrucks
15/420 S. 110). Dem ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Ver-
schärfung der Anerkennungsvoraussetzungen beim Flüchtlingsschutz zukunfts-
gerichtet auf das Verhalten der Asylsuchenden einwirken wollte. Es fehlt jeder
Anhalt, dass die Regelung auch auf bestandskräftig anerkannte Flüchtlinge
Anwendung finden und das Bundesamt zur Einleitung von Widerrufsverfahren
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verpflichtet werden sollte. Dies würde im Übrigen auch der vom Gesetzgeber
angestrebten Entlastung des Bundesamts entgegenlaufen.
5. Das Berufungsgericht wird in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen,
ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorüber-
gehend geändert haben, dass für den Kläger bei einer Rückkehr keine beachtli-
che Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Auch insoweit wird Be-
zug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heutigen Tag
im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 (Rn. 18). Dabei wird das Berufungsgericht
auch zu würdigen haben, dass der Kläger sich nach eigenen Angaben vor sei-
ner Ausreise für die UFC politisch betätigt hat, diese nach dem Vorbringen der
Beklagten im Beschwerdeverfahren inzwischen aber an der Regierung in Togo
beteiligt ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert er-
gibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 28 Abs. 2, § 73
GFK
Art. 1 F Buchst. b und c
Richtlinie 2004/83/EG
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e, Art. 5 Abs. 3
Stichworte:
Togo; Flüchtlingsanerkennung; Widerruf; Änderung der Sachlage; Prognose-
maßstab; Änderung der Rechtslage; Folgeantrag; Nachfluchtgründe; selbstge-
schaffene Nachfluchtgründe.
Leitsatz:
Die Pflicht zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG gilt nicht nur bei einer Änderung der Sachlage, sondern auch bei einer
Änderung der Rechtslage, wenn der Gesetzgeber die Rechtslage nicht nur mit
Wirkung für die Zukunft neu gestaltet hat, sondern die Regelung ausnahmswei-
se auch für bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren Geltung bean-
sprucht und diese Rückwirkung mit der Verfassung in Einklang steht (hier: ver-
neint für die Regelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG).
Urteil des 10. Senats vom 1. März 2012 - BVerwG 10 C 10.11
I. VG Schwerin vom 09.09.2008 - Az.: VG 5 A 224/08 As -
II. OVG Greifswald vom 09.03.2011 - Az.: OVG 2 L 224/08 -