Urteil des BVerwG vom 01.06.2011

Flüchtlingseigenschaft, Eugh, Anerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 10.10
OVG 4 LB 9/09
Verkündet
am 1. Juni 2011
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und
Prof. Dr. Kraft und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des
Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom
9. Februar 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein 1981 geborener türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks-
zugehörigkeit, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.
Er reiste im September 1996 in das Bundesgebiet ein und begründete seinen
Asylantrag damit, dass er gezwungen werden sollte, in seinem Heimatdorf nahe
der türkisch-syrischen Grenze Dorfschützer zu werden. Mit Bescheid vom
30. Januar 1997 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den
Asylantrag ab. Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte zu der Fest-
stellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Zwar ha-
be der Kläger die Türkei unverfolgt verlassen, aber ihm drohe bei Rückkehr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aufgrund seiner in
Deutschland entfalteten Aktivitäten für eine Unterorganisation der PKK. Darauf-
hin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 15. April 2002 beim Kläger das
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Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei
fest.
Angesichts des politischen Reformprozesses in der Türkei leitete das Bundes-
amt im Juni 2008 ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung des Klägers wi-
derrief es mit Bescheid vom 16. Juli 2008 dessen Flüchtlingsanerkennung und
stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorlie-
gen. Mit Urteil vom 7. April 2009 hat das Verwaltungsgericht die dagegen ge-
richtete Klage abgewiesen.
Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 9. Februar 2010 die Entschei-
dung des Verwaltungsgerichts geändert und den Widerrufsbescheid aufgeho-
ben. Es ist davon ausgegangen, dass die Flüchtlingsanerkennung gemäß § 73
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu widerrufen sei, wenn sich die zum Zeitpunkt der An-
erkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur
vorübergehend so verändert hätten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in
seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Ver-
folgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausge-
schlossen sei. Das gelte entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsge-
richts auch, wenn die Flüchtlingsanerkennung nicht auf einer Vorverfolgung im
Heimatland, sondern auf im Ausland entwickelter exilpolitischer Betätigung be-
ruhe. Da der abgesenkte Wahrscheinlichkeitsmaßstab z.B. im Fall einer Grup-
penverfolgung auch auf Gruppenangehörige Anwendung finde, die persönlich
keine Verfolgungsmaßnahmen erlitten hätten, erscheine es unter humanitären
Gesichtspunkten nur billig, den anerkannten Flüchtling ebenfalls davon profitie-
ren zu lassen. Der Kläger wäre aber im Falle der Rückkehr in die Türkei vor
Verfolgung nicht hinreichend sicher. Trotz der Reformen in der Türkei sei es
bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden.
Der Senat ziehe aus der Auskunftslage den Schluss, dass Personen, die von
den türkischen Sicherheitsbehörden als Sympathisanten und Unterstützer der
PKK eingestuft würden, vor Verfolgung nicht hinreichend sicher seien, auch
wenn es sich nicht um exponierte Akteure handele. Der Kläger sei zum Zeit-
punkt seiner Flüchtlingsanerkennung vom Verwaltungsgericht als hervorgeho-
bener Aktivist eingestuft worden. Zwar habe er seine exilpolitische Betätigung
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nicht in gleicher Weise fortgesetzt. Es könne aber nicht mit hinreichender Si-
cherheit ausgeschlossen werden, dass seine Aktivitäten den Behörden bekannt
geworden seien.
Zur Begründung ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt die
Beklagte, das Berufungsgericht habe der Prüfung des Widerrufs zu Unrecht den
abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt. Da die Qualifikati-
onsrichtlinie das Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nicht
übernommen habe, setze der Widerruf nur voraus, dass die ursprüngliche Ver-
folgung nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie könne sich der Kläger mangels Vorverfolgung nicht berufen. Die
ursprünglich zur Flüchtlingsanerkennung führende Gefahr der Folter oder Miss-
handlung wegen exilpolitischer Aktivitäten für der PKK nahestehende Organisa-
tionen habe in der Türkei nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mitt-
lerweile nur noch Ausnahmecharakter; darin liege eine erhebliche Veränderung.
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und macht darüber hinaus geltend,
dass Anerkennungs- und Widerrufsverfahren nur bedingt spiegelbildlich verlie-
fen. Lege man die Vorschrift des § 73 AsylVfG im Einklang mit der Entschei-
dung des EuGH vom 2. März 2010 aus, folge daraus zumindest indirekt, dass
im Widerrufsverfahren - jedenfalls hinsichtlich einer der ursprünglich drohenden
Verfolgung gleichartigen Verfolgung - der herabgestufte Wahrscheinlichkeits-
maßstab zugrunde zu legen sei. Von einer erheblichen und nicht nur vorüber-
gehenden Veränderung der Verhältnisse könne nur ausgegangen werden,
wenn eine der ursprünglich geltend gemachten gleichartige Verfolgung hinrei-
chend sicher auszuschließen sei.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet, denn das Berufungsur-
teil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Das Berufungsgericht hat der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der
Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, ei-
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nen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt. Mangels der
für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen
kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst
entscheiden. Die Sache ist daher an das Oberverwaltungsgericht zur anderwei-
tigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist
§ 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufent-
halts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August
2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007
geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensge-
setzes vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu wider-
rufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß
§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach
Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt
haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu
nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vor-
gaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates
vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status
von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Perso-
nen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des
zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12;
berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der
Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Um-
stände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Be-
stimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und
6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle,
in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttre-
ten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011
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- BVerwG 10 C 3.10 - juris Rn. 9; zur Veröffentlichung in der Entscheidungs-
sammlung BVerwGE vorgesehen).
2. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Widerruf
nicht an einem formellen Mangel leidet. Insbesondere begegnet er im Hinblick
auf die Unverzüglichkeit gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG keinen Bedenken.
Das Gebot der Unverzüglichkeit dient nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein
etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzen
kann (Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 13
m.w.N.). Die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG findet je-
denfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Flüchtlingsanerkennung
innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG widerrufen wird (Urteil
vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28
Rn. 14 ff. m.w.N.). Diese Vorschrift enthält eine bereichsspezifische Sonderre-
gelung, welche die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrens-
gesetz verdrängt und auch für Altanerkennungen gilt.
3. Der angefochtene Bescheid erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig,
weil das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt
hat. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt,
dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die
Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die
Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember
2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für
vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen
und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu
überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Vernei-
nung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Ja-
nuar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermes-
sensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C
53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).
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4. Das Berufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvorausset-
zungen und speziell mit Blick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde ge-
legten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG
zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Nach
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr
Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling
anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in
Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung
dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die
Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass
die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen
werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt
die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der
Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen
Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden
Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende
Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
a) Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der Europäischen
Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. -
NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1
Buchst. e der Richtlinie angesprochene „Schutz des Landes“ sich nur auf den
bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungs-
handlungen bezieht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 67, 76, 78 f.).
Dazu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Beendigung der
Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich
spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie
2004/83/EG sieht - ebenso wie Art. 1 C Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingsei-
genschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde,
weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als
Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 65).
Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter
Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, poli-
tischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
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außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz
dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht
in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden
Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des
Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr begründet, kann
der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in
Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 66), soweit er
auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2
Buchst. c der Richtlinie haben muss (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O.
Rn. 76). Die Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen
der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise
gegenüber (so EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 68).
Mit Blick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausge-
führt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorüberge-
hend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger
als begründet angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O.
Rn. 72). Dafür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flücht-
lings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, be-
seitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann
(EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 73).
aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände
setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick
auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfol-
gungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In
der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsan-
erkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen
Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungs-
erheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neu-
beurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner
Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings
sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahren-
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prognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeit-
spanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit
anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen
Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C
12.00 - BVerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C
7.01 - BVerwGE 115, 118 <124 f.>).
Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen
der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14
Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an
der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten
werden. Danach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass
sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträg-
lich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen
Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfol-
gungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausge-
schlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE
124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 a.a.O. Rn. 18; so auch das Berufungs-
gericht in der angefochtenen Entscheidung). Dieser gegenüber der beachtli-
chen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asyl-
grundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt worden. Er wurde dann auf
den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufs-
voraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige
Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr
mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 26).
Dieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaß-
stäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie ver-
folgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das
Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er
bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsäch-
lichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck
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kommt (Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377
Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - BVerwG 10 C 11.09 - juris Rn. 15). Das
ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der
Entstehungsgeschichte, denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit
ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der be-
achtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzie-
ren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe „Asyl“ vom
25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Demzufolge gilt unions-
rechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher
Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfol-
gung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten
Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahr-
scheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3
EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kam-
mer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330
); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlich-
keit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53
AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR
2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22).
Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschens-
prüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor
Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, er-
gibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Um-
stände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer
Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.).
Die Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurtei-
lung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuer-
kennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es
spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in Widerrufsverfahren nicht
nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können. Denn
die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den Kernregelungen zählen, die
in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie
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2004/83/EG geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteil
vom 9. November 2010 - Rs. C-57/09 und C-101/09, B und D - NVwZ 2011,
285 Rn. 120 zu den Ausschlussgründen). Das kann aber hier dahinstehen, da
keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der deutsche Gesetzgeber mit
dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsan-
erkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeits-
maßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu
eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer
Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweis-
rechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.
bb) Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung
zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG
nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass
die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur
Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen wer-
den können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.). Für den nach
Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine
Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeit-
punkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die
erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den
Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Ver-
änderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfol-
gungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Senat hat in ei-
nem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist (Irak), bereits
entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft ange-
sehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger
Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der
geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende
Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 17). Denn
der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betrof-
fenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu wer-
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den. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungs-
prognose eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung
und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht
eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffe-
nen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs
verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil
vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>; Be-
schluss vom 7. Februar 2008 a.a.O. juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriteri-
um der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nach-
haltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognos-
tiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbe-
stehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft
führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu
stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von
Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der In-
tegrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind,
die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil vom
2. März 2010 a.a.O. Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politi-
scher Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden.
b) Das Berufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den
Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. Damit hat es § 73
Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die Berufungsent-
scheidung. Da das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter
einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das
Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzu-
verweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es ist Aufgabe des Beru-
fungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der
Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die
der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahren-
prognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberver-
waltungsgerichte zu erstellen. Für das neue Berufungsverfahren weist der Se-
nat im Übrigen darauf hin, dass sich das Berufungsgericht von den Prognose-
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grundlagen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewiss-
heit zu verschaffen hat. Wahrscheinlichkeitsaussagen hinsichtlich tatsächlicher
Schlussfolgerungen zu vergangenen oder gegenwärtigen Tatsachen wie dem
Bekanntwerden von Nachfluchtaktivitäten (UA S. 17 f.) reichen nicht aus.
5. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Ge-
richtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstands-
wert ergibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Richter
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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