Urteil des BVerwG vom 26.04.2005

Bebauungsplan, Prozess, Widmung, Zusammenwirken

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 BN 1.04
VGH 13a N 03.309
In der Normenkontrollsache
hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. April 2005
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts H i e n und die Richter
am Bundesverwaltungsgericht Dr. N o l t e und D o m g ö r g e n
beschlossen:
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Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 28. Juli 2004 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Rüge, das angefochtene Urteil weiche von dem Revisionsurteil des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 18. November 2002 - BVerwG 9 CN 1.02 - ab, greift nicht
durch. Der Verwaltungsgerichtshof hat keinen abstrakten Rechtssatz aufgestellt, der
in Widerspruch zu dem von der Beschwerde angeführten Rechtssatz in der vorbe-
zeichneten Entscheidung steht. In dem Revisionsurteil sind die Voraussetzungen,
unter denen die Festsetzungen eines Flurbereinigungsplans funktionslos werden,
unter Rückgriff auf die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts für die Funktionslosigkeit von Bebauungsplanfestsetzungen maßgeblichen
Grundsätze formuliert worden. Von diesen Grundsätzen weicht der in der Beschwer-
debegründung benannte Rechtssatz im Urteil der Vorinstanz, allein die technische
Machbarkeit sei kein für das Fehlen der Funktionslosigkeit entscheidendes Merkmal,
inhaltlich nicht ab. Ob eine den planerischen Festsetzungen entsprechende Nutzung
auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheint, ist davon abhängig, wie massiv und
offenkundig sich die tatsächlichen Verhältnisse abweichend vom Planinhalt entwi-
ckelt und in welchem Umfang sie sich verfestigt haben. Entscheidend ist, ob ange-
sichts der veränderten Verhältnisse noch mit einer Rückkehr zur plangemäßen Nut-
zung gerechnet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1995 - BVerwG 4 C
20.94 - BVerwGE 98, 235 <241 f.>; Urteil vom 28. April 2004 - BVerwG 4 C 10.03 -
Buchholz 406.12 § 3 BauNVO Nr. 15 f., S. 5). Ob die genannten Anforderungen er-
füllt sind, lässt sich nur unter Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls be-
antworten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 1997 - BVerwG 4 B 16.97 -
Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 34, S. 5; Beschluss vom 6. Juni 1997 - BVerwG
4 NB 6.97 - Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 37, S. 19). Dass es für diese Würdi-
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gung nur auf die technische Realisierbarkeit der plankonformen Nutzung ankäme
und Gesichtspunkte des dafür erforderlichen wirtschaftlichen Aufwands außer Be-
tracht bleiben müssten, lässt sich dem von der Beschwerde angeführten Revisions-
urteil vom 18. November 2002 nicht entnehmen.
2. Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerde beimisst.
Die von der Antragstellerin als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage,
ob sich die Funktionslosigkeit einer Festsetzung in einem Flurbereinigungsplan
auch daraus ergeben kann, dass der Aufwand für die (Wieder-)Herstellung des
Weges und dessen Verhältnis zur vorgesehenen Bedeutung heranzuziehen ist
oder ob auf die technische Machbarkeit abzustellen ist, mithin ob eine Verhält-
nismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist bei der Prüfung der Frage, ob eine
Nutzung der in Rede stehenden Flächen als Weg auf unabsehbare Zeit ausge-
schlossen erscheint,
lässt sich in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
zum Funktionsloswerden von Bebauungsplanfestsetzungen unschwer beantworten,
ohne dass es eigens der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedürfte. Kommt
es nach dieser Rechtsprechung, wie vorstehend zur Divergenzrüge der Antragstelle-
rin ausgeführt wurde, auf eine umfassende Würdigung der Umstände des Falles an,
so sind neben Problemen der technischen Machbarkeit auch andere Aspekte zu be-
rücksichtigen, die allein oder im Zusammenwirken miteinander eine Verwirklichung
der planerischen Festsetzungen auf absehbare Zeit nicht mehr erwarten lassen.
Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht bereits ausdrücklich klarge-
stellt, dass der Fortbestand der technischen Möglichkeit, eine plankonforme Nutzung
wieder zu verwirklichen, ein Funktionsloswerden der betreffenden Festsetzung eines
Bebauungsplans nicht zwingend ausschließt (BVerwG, Urteil vom 28. April 2004
- BVerwG 4 C 10.03 - a.a.O.). Warum diese Grundsätze auf Festsetzungen eines
Flurbereinigungsplans keine Anwendung finden sollten, wird von der Beschwerde
nicht dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich; die Interessenlage der Planbetrof-
fenen, die von einer planerischen Festsetzung abweichen bzw. an ihr festhalten wol-
len, stellt sich im Falle des Betroffenseins durch einen Flurbereinigungsplan nicht
wesentlich anders als im Falle des Betroffenseins durch einen Bebauungsplan dar.
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Mit dem Hinweis darauf, dass nach den vom Verwaltungsgerichtshof seiner Beurtei-
lung zugrunde gelegten Gesichtspunkten eine rechtswidrige Inanspruchnahme von
Grundstücksflächen zur Funktionslosigkeit der entgegenstehenden Festsetzung im
Flurbereinigungsplan führen kann, zeigt die Antragstellerin keine Besonderheit auf,
die geeignet ist, einen ergänzenden Klärungsbedarf zu begründen. In der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass Tatsachen rechtsbil-
dende Wirkung entfalten und namentlich im Stande sein können, Rechtssätze außer
Kraft zu setzen. Dies gilt in besonderem Maße im Hinblick auf planerische Festset-
zungen, die ungleich stärker wirklichkeitsbezogen sind als abstrakt-generelle Rechts-
sätze im herkömmlichen Sinne. Die Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen beruht
auf eben dieser normativen Kraft des Faktischen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April
1977 - BVerwG 4 C 39.75 - BVerwGE 54, 5 <8 f.>). Die erwähnte rechtsbeeinflus-
sende Wirkung tatsächlicher Verhältnisse ist nicht auf solche Entwicklungen be-
schränkt, die sich im Einklang mit der Rechtsordnung vollziehen. Im Gegenteil entwi-
ckeln sich Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, die einer planerischen
Festsetzung ihre Steuerungsfähigkeit nehmen, typischerweise im Widerspruch zur
- namentlich durch die planerische Festsetzung geprägten - Rechtslage. In aller Re-
gel wird es sich um einen lang währenden, zunächst unschwer korrigierbaren Pro-
zess handeln. Läuft er ungehindert ab, so kann er aber ein Stadium erreichen, in
dem das entgegenstehende Recht seine Steuerungsfähigkeit einbüßt. Dabei macht
es keinen wesentlichen Unterschied, ob die Entwicklung sich "nur" im Widerspruch
zu den Festsetzungen des Plans oder zusätzlich entgegen anderen an diese Fest-
setzungen anknüpfenden Regelungen wie der im vorliegenden Fall ergangenen we-
gerechtlichen Widmung vollzieht, wobei freilich im letzteren Fall besondere Zurück-
haltung angebracht sein mag, eine Rückkehr zu plangemäßen Verhältnissen für
ausgeschlossen zu halten. Ob diese Zurückhaltung bei der Rechtsanwendung sei-
tens der Vorinstanz gewahrt worden ist, ist eine Frage des Einzelfalls und daher für
die Entscheidung über die Zulassung der Revision ohne Belang.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung
auf § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 und 3, § 72 Nr. 1 GKG.
Hien Dr. Nolte Domgörgen