Urteil des BVerwG vom 19.04.2006

Rechtliches Gehör, Unterzeichnung, Kontrolle, Organisation

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 83.05
OVG 4 L 168/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. April 2006
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hien
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und Domgörgen
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungs-
gerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 23. September
2005 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 6 661,23 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Sie misst der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) mit der Begründung bei, dass der angefochtene Beschluss in mehrfa-
cher Hinsicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wiederein-
setzung in den vorigen Stand abweiche. Da Entscheidungen des Bundesge-
richtshofs nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufgeführten divergenzfähi-
gen Entscheidungen gehören, kommt insoweit in der Tat nur eine Zulassung
nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom
22. Juni 1984 - BVerwG 8 B 121.83 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 225
S. 15 f.). Unter keinem der in dieser Hinsicht gerügten Gesichtspunkte hat die
Sache indessen grundsätzliche Bedeutung.
Die Rechtsfrage, ob die Frist zur Begründung einer verwaltungsgerichtlichen
Berufung zu den Fristen gehört, deren Berechnung und Kontrolle ein Rechts-
anwalt seinem Büropersonal überlassen darf, wäre in einem Revisionsverfahren
nicht klärungsfähig. Denn die Vorinstanz hat diese - in dem herangezogenen
Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. März 1995 (VIII ZB 2/95 - NJW
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1995, 1682) im Übrigen gar nicht behandelte - Frage ausdrücklich offen gelas-
sen.
Gleiches gilt für die von der Beschwerde unter Hinweis auf das Urteil des Bun-
desgerichtshofs vom 6. Oktober 1987 (VI ZR 43/87 - NJW 1988, 1853 f.) auf-
geworfene Frage, ob sich ein Rechtsanwalt auf die Befolgung auch mündlicher
Weisungen durch eine sonst zuverlässige Bürokraft verlassen darf. Diese Frage
stellte sich für das Oberverwaltungsgericht von vornherein nicht, weil es davon
ausgegangen ist, dass der betreffende Vortrag des Beklagten in seinem Schrift-
satz vom 9. August 2005 verfristet sei.
Inwiefern das Oberverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs zur gesonderten Kontrolle von Rechtsmittelfristen (BGH, Beschluss
vom 21. Juni 2000 - XII ZB 93/00 - VersR 2001, 607 <608>; der in der Be-
schwerdebegründung außerdem zitierte Beschluss des BGH vom 7. März 2002
- IX ZB 11/02 - NJW 2002, 1577 betrifft eine andere Problematik) abgewichen
sein sollte, hat die Beschwerde nicht ansatzweise dargelegt und ist auch sonst
nicht erkennbar. Ein Klärungsbedarf besteht in dieser Hinsicht umso weniger,
als das Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesgerichtshof hierzu vertretene
Auffassung teilt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1984 - BVerwG 9 B
3209.82 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 140).
2. Soweit der Beklagte seine Grundsatzrüge auf eine Abweichung des ange-
fochtenen Beschlusses von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts zu den Anforderungen stützt, die an die Darlegung und Glaubhaftma-
chung eines Wiedereinsetzungsgrundes zu stellen sind, ist sein Begehren an
§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu messen. Es genügt jedoch nicht den an die Darle-
gung des Zulassungsgrundes der Divergenz zu stellenden Anforderungen
(§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Beschwerde hat nämlich versäumt, einander
widersprechende abstrakte Rechtssätze zu benennen, die in der angefochtenen
Entscheidung einerseits und in den herangezogenen Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts andererseits aufgestellt sein sollen (vgl. zu diesem
Erfordernis BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
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Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 26 S. 14); vielmehr erschöpft sie sich in-
soweit in dem Vorwurf fehlerhafter Rechtsanwendung.
3. Die ohne nähere eingrenzende Angaben auf § 108 VwGO gestützte Verfah-
rensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) dürfte dahin zu verstehen sein, dass die
Beschwerde einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108
Abs. 2 VwGO) durch rechtswidrige Verweigerung der begehrten Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand geltend machen will. Das impliziert zugleich die Rüge
eines Verstoßes gegen § 60 VwGO. Beide Rügen greifen nicht durch. Das
Berufungsgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, es könne
nicht davon ausgegangen werden, dass der Prozessbevollmächtigte des Be-
klagten durch geeignete organisatorische Maßnahmen für eine korrekte Frist-
notierung in Rechtsmittelsachen gesorgt habe.
Die Vorinstanz vertritt hierzu im Anschluss an eine Entscheidung des Bundes-
verwaltungsgerichts (Beschluss vom 3. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 429.02 -
Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 24 S. 27) die Auffassung, zu einer ordnungs-
gemäßen Organisation der Fristenkontrolle gehöre es, dass das Empfangsbe-
kenntnis über die Zustellung eines Urteils vom Rechtsanwalt erst dann unter-
zeichnet und zurückgesandt werden dürfe, wenn in den Handakten die Rechts-
mittelfrist festgehalten und vermerkt sei, dass die Frist im Fristenkalender no-
tiert worden sei (ebenso BGH, Beschluss vom 26. März 1996 - VI ZB 1 und
2/96 - NJW 1996, 1900 <1901> m.w.N.; BSG, Beschluss vom 26. November
1996 - 6 RKa 61/96 - juris Rn. 6); diesen Anforderungen habe der Prozessbe-
vollmächtigte des Beklagten nicht genügt, denn aus seinen Darlegungen gehe
jedenfalls nicht hervor, dass eine Eintragung der Berufungsbegründungsfrist im
Fristenkalender in den Handakten vermerkt worden sei. Ob an diesen strikten,
die denkbaren Möglichkeiten der Büroorganisation stark einschränkenden Vor-
gaben ohne Abstriche festgehalten werden kann, erscheint allerdings zweifel-
haft. So hat das Bundesverwaltungsgericht in zwei späteren Entscheidungen
eine Fristnotierung unmittelbar nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnis-
ses für ausreichend gehalten (Beschlüsse vom 26. November 2004 - BVerwG
5 B 33.04 - juris Rn. 4 und vom 29. November 2004 - BVerwG 5 B 105.04 -
Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 255 S. 58). Der Bundesgerichtshof hat seiner-
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seits mit Beschluss vom 13. Februar 2003 (V ZR 422/02 - NJW 2003, 1528
<1529>) es nicht für unabdingbar gehalten, dass das Empfangsbekenntnis erst
nach vollständiger Fristensicherung in den allgemeinen Geschäftsbetrieb des
Rechtsanwalts und von dort an das zustellende Gericht zurückgegeben wird; es
reiche vielmehr aus, wenn bei Unterzeichnung und Rückgabe des Empfangs-
bekenntnisses sichergestellt sei, dass Zustellungsdatum und Fristende in den
Fristenkalender und die Handakte eingetragen würden. Insoweit treffe den
Rechtsanwalt freilich eine besondere Sorgfaltspflicht, der er grundsätzlich nicht
schon mit allgemeinen Weisungen an sein Personal gerecht werde.
Letztlich bedürfen diese Einzelheiten der Anforderungen an die Organisation
der Fristenkontrolle hier aber keiner Klärung. Das Wiedereinsetzungsbegehren
des Beklagten konnte nämlich schon deshalb keinen Erfolg haben, weil er nicht
dem Erfordernis entsprochen hat, seine Darlegungen zur Büroorganisation,
soweit sie fristgerecht erfolgt sind, glaubhaft zu machen. Die Tatsachen zur
Begründung des Wiedereinsetzungsantrags sind innerhalb der Antragsfrist des
§ 60 Abs. 2 VwGO vorzutragen, sofern sie nicht offenkundig sind (vgl. BVerwG,
Beschluss vom 28. Februar 2002 - BVerwG 6 C 23.01 - Buchholz 310 § 60
VwGO Nr. 243 S. 35). Unvollständige Angaben können nach Fristablauf zwar
noch ergänzt und erläutert werden (BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 1982
- BVerwG 7 B 84.81 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 126 S. 17); mit neuem, den
ursprünglichen Darlegungen widersprechendem Vorbringen ist der Antragsteller
hingegen ausgeschlossen. Die fristgerecht vorgetragenen Tatsachen sind
überdies glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO); dies setzt einen wi-
derspruchsfreien Vortrag voraus, der keinen Anlass zu Zweifeln an der Richtig-
keit der Sachdarstellung gibt. Dem hat der Beklagte nicht Genüge getan.
Er hat mit seinem Wiedereinsetzungsantrag vom 19. Januar 2005 vorgetragen,
Rechtsmittelfristen würden im Büro seines Prozessbevollmächtigten von der
Bürovorsteherin berechnet und dann in einen elektronischen Fristenkalender
eingegeben und gesondert davon in einem schriftlichen Fristenkalender notiert.
Im Rahmen des weiteren Postlaufs werde dem Prozessbevollmächtigten die
Akte vorgelegt und dabei mitgeteilt, welche Frist berechnet und - normalerwei-
se - eingetragen worden sei. Nach einem Gespräch mit seiner Bürovorsteherin,
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in dem sich diese nochmals ausdrücklich bei ihm über die richtige Bemessung
der Frist vergewissert habe, sei der Prozessbevollmächtigte davon ausgegan-
gen, dass auch im Streitfall entsprechend verfahren worden sei. Diese Darstel-
lung des organisatorischen Ablaufs steht in deutlichem Widerspruch zu den
Angaben der Bürovorsteherin in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 3. Au-
gust 2005. Danach nimmt die Bürovorsteherin die Eintragung in die Fristenka-
lender nämlich erst vor, nachdem der Prozessbevollmächtigte ihre Fristberech-
nung im Zuge seiner Postbearbeitung überprüft hat. Aufgrund dieses vom Be-
klagten nicht aufgelösten Widerspruchs kann die mit dem Wiedereinsetzungs-
antrag fristgerecht vorgetragene Sachdarstellung nicht als glaubhaft gemacht
angesehen werden.
Soweit sich der Beklagte mit Schriftsätzen seines Prozessbevollmächtigten vom
9. August und 20. September 2005 der vorgenannten Sachdarstellung in der
Erklärung seiner Bürovorsteherin angeschlossen und darüber hinaus mit
Schriftsätzen vom 9. August, 1. und 20. September 2005 behauptet hat, die
Bürovorsteherin ausdrücklich gesondert zur Fristeintragung angewiesen zu ha-
ben, ist dieser Vortrag erst lange nach Ablauf der Monatsfrist des § 60 Abs. 2
Satz 1 Halbs. 2 VwGO erfolgt. Da er die früheren Angaben nicht vertieft oder
ergänzt, sondern in wesentlichen Punkten von ihnen abweicht, ist er verspätet
und kann deshalb keine Berücksichtigung finden.
Ist demnach eine ordnungsgemäße Büroorganisation nicht glaubhaft gemacht,
so können auch die weiteren vom Beklagten geltend gemachten Gesichtspunk-
te - namentlich der Umstand, dass im Büro seines Prozessbevollmächtigten seit
1995 keine Fristen versäumt worden seien - für sich genommen eine andere
Beurteilung des Wiedereinsetzungsbegehrens nicht rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3, § 72 Nr. 1 GKG.
Hien Dr. Nolte Domgörgen
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