Urteil des BVerwG vom 17.06.2010

Abschiebung, Gefahr, Beschränkung, Verantwortlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 8.10, 10 PKH 2.10
VGH A 5 S 96/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Juni 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskos-
tenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abge-
lehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 19. Januar 2010 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Dem Kläger kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil
die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine
Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde hält zunächst der Sache nach für grundsätzlich klärungsbe-
dürftig, ob bei zielstaatsbezogenen Gefahren § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch
auf hier geborene und aufgewachsene ausländische Kinder Anwendung findet
oder ob im Hinblick auf die staatliche Verantwortlichkeit für hier geborene
und/oder aufgewachsene Kinder und den Menschenrechtsschutz aus Art. 2
Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) in diesen Fällen
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG direkt anzuwenden ist.
Mit diesem und dem weiteren Vorbringen wird eine klärungsbedürftige Frage
nicht dargelegt. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung
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eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für
diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der
der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind nach § 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksich-
tigen. Danach kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder hu-
manitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepu-
blik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus be-
stimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen
allgemein oder in bestimmte Staaten ausgesetzt wird. In der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass mit dieser Regelung nach dem
Willen des Gesetzgebers erreicht werden soll, dass dann, wenn eine bestimmte
Gefahr einer großen Zahl der im Abschiebezielstaat lebenden Personen glei-
chermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall
durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen
einheitlich durch eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörde
befunden werden soll. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist damit
die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzel-
nen Ausländers gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer
Personen im Abschiebezielstaat droht. Diese Entscheidung des Gesetzgebers
haben die Verwaltungsgerichte zu respektieren; sie dürfen daher im Einzelfall
einem Ausländer, der einer gefährdeten Gruppe angehört, für die kein Ab-
schiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG besteht, nur dann aus-
nahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskon-
former Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusprechen, wenn ein-
fachgesetzlich kein anderes Abschiebungsverbot vorliegt, eine Abschiebung
aber Verfassungsrecht verletzen würde (stRspr, vgl. Urteile vom 17. Oktober
1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <328> und vom 27. April 1998
- BVerwG 9 C 13.97 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 12 zu der in den
Tatbestandsvoraussetzungen übereinstimmenden Vorgängerregelung in § 53
AuslG).
Soweit die Beschwerde der Auffassung ist, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG finde
bei hier geborenen und aufgewachsenen Kindern schon vom Wortlaut her keine
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Anwendung, da sie nicht der „Bevölkerung des Herkunftslands der Eltern“ an-
gehörten, übersieht sie, dass es bei § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht
auf das Herkunftsland des Ausländers, sondern auf den Zielstaat der Abschie-
bung ankommt. Dabei ist zu prüfen, welchen Gefahren der Ausländer dort aus-
gesetzt wäre und ob diese zugleich einer Vielzahl weiterer Personen drohen. In
diesem Zusammenhang ist das Berufungsgericht (UA S. 16) in der Sache zu-
treffend davon ausgegangen, dass der Kläger - unabhängig von seinem bishe-
rigen Aufenthaltsort - im Falle einer Abschiebung in die D.R. Kongo der Bevöl-
kerungsgruppe der (aus Europa stammenden) kongolesischen Kinder angehö-
ren würde.
2. Soweit die Beschwerde der Sache nach weiter für klärungsbedürftig hält, ob
bei verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG der
Abschiebungsschutz trotz der staatlichen Verantwortung für hier geborene und
aufgewachsene Kinder auf das menschenrechtliche Mindestmaß beschränkt ist
und ob diese Beschränkung dem Menschenrechtsschutz aus Art. 1 Abs. 1
bis 3, Art. 2 Abs. 1 und 2 und Art. 3 Abs. 3 GG entspricht, fehlt es ebenfalls an
einer hinreichenden Darlegung.
Wie oben bereits ausgeführt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts geklärt, dass allgemeine Gefahren von § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG auch dann nicht erfasst werden, wenn sie den Ausländer konkret und
in individualisierbarer Weise betreffen. Individuelle Gefährdungen, die sich aus
einer allgemeinen Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ergeben, können
auch dann nicht als Abschiebungsverbot unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder
in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden,
aber gleichwohl insgesamt nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefah-
renlage sind (vgl. Urteil vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 4.98 -
BVerwGE 108, 77 <82>). Nur wenn der Ausländer sich auf kein anderes Ab-
schiebungsverbot berufen kann, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden
darf, weil die Grundrechte die Gewährung von Abschiebungsschutz unabhängig
von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60a AufenthG
gebieten, kann im Einzelfall einem Ausländer, der einer gefährdeten Gruppe
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angehört, für die ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht
besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in ver-
fassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugespro-
chen werden. Dies ist nur gerechtfertigt, wenn dem Ausländer im Falle seiner
Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen (vgl. UA
S. 16 ff.). Die hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts der allgemeinen Gefahr für
den jeweiligen Ausländer markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den
Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint (Urteil vom 12. Juli
2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 <9 f.>). Dieser hohe Wahrschein-
lichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit um-
schrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der
Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. Urteil vom 12. Juli 2001
a.a.O. m.w.N. sowie Beschluss vom 14. November 2007 - BVerwG 10 B 47.07 -
Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 55).
Die Beschwerde zeigt insoweit keinen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf
auf. Sie legt nicht dar, inwiefern diese Rechtsprechung hier keine Anwendung
findet. Der allgemeine Hinweis auf die „Verantwortlichkeit“ des deutschen Staa-
tes für hier geborene und aufgewachsene Kinder und deren - nicht vom Auf-
enthaltsstatus ihrer Eltern abhängende - Grundrechte genügt hierfür nicht. Die
Beschwerde setzt sich in diesem Zusammenhang weder konkret mit der gegen-
teiligen, im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
stehenden Auffassung des Berufungsgerichts auseinander noch legt sie unter
Aufarbeitung einschlägiger Rechtsprechung und Literatur dar, weshalb in die-
sen Fällen eine weitergehende Beschränkung verfassungsrechtlich geboten ist.
Allein der Umstand, dass ihrer Auffassung nach in diesen Fällen dem Kindes-
wohl Vorrang zu gewähren ist, begründet keine grundsätzliche Bedeutung.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 Satz 1 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Fricke
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