Urteil des BVerwG vom 11.10.2005

Aktenwidrige Feststellung, Rechtliches Gehör, Verfahrensmangel, Rüge

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 8.05
OVG 15 KF 2138/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Oktober 2005
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht V a l l e n d a r ,
Prof. Dr. R u b e l und Dr. N o l t e
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungs-
gerichts (Flurbereinigungsgericht) vom 11. November 2004 wird
zurückgewiesen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO (i.V.m. § 138
Abs. 1 Satz 2 FlurbG) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
misst die Beschwerde der Frage zu,
"inwieweit und unter welchen Voraussetzungen es notwendig ist
und auch im Interesse der Teilnehmer der Flurbereinigung eine durch Errich-
tung einer Umgehungsstraße verkehrsberuhigte Ortsdurchfahrt zu verbreitern".
Diese Frage rechtfertigt mangels Entscheidungserheblichkeit die Zulas-
sung der Revision nicht. Denn wie auch die Beschwerde nicht verkennt, war der
Einwand des Klägers, die Verbreiterung der Straße und die dadurch bedingte Ver-
änderung seiner Hofraumgrenze seien nicht erforderlich, wegen der nach Ansicht
des Oberverwaltungsgerichts nicht wirksam zurückgenommenen Zustimmung des
Klägers zu der Hofraumgrenzänderung für die angegriffene Entscheidung nicht von
Bedeutung. Rechtsgrundsätzliche Bedeutung muss aber gerade der vom Vorderrich-
ter entschiedenen Rechtsfrage selbst, nicht erst derjenigen Rechtsfrage zukommen,
die sich stellen würde, wenn die Rechtssache anders entschieden worden wäre
(BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 1992 - BVerwG 3 B 102.91 - Buchholz 418.04
Heilpraktiker Nr. 17).
2. Die Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist ebenfalls nicht be-
gründet. Ein solcher Zulassungsgrund ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten,
die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem
die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufge-
stellten ebensolchen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden
Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG,
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Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 26). Die Beschwerde benennt zwar tragende Rechtssätze aus einer Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25. Oktober 1962 - BVerwG
1 C 212.58 - BVerwGE 15, 72), stellt diesen aber keine abweichenden Rechtssätze
des Oberverwaltungsgerichts entgegen, sondern macht lediglich geltend, dessen
"nicht weiter reflektierte Entscheidung (widerspreche) den Anforderungen, welche
das Bundesverwaltungsgericht … stellt". Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder un-
terbliebenen Anwendung von Rechtssätzen des Bundesverwaltungsgerichts genügt
den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz jedoch nicht (BVerwG, Beschluss
vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - a.a.O.).
Im Übrigen lässt die zitierte Entscheidung auch nicht erkennen, dass das
Bundesverwaltungsgericht eine Vereinbarung, wie sie nach den - wie zu zeigen sein
wird - nicht erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffenen Feststellungen des
Oberverwaltungsgerichts im vorliegenden Fall im Hinblick auf eine Hofraumgrenzän-
derung getroffen worden ist, für unzulässig hielte. Die Entscheidung bezieht sich viel-
mehr ausdrücklich auf (einseitige) Eingriffe in die Rechtsstellung des Betroffenen
(vgl. Urteil vom 25. Oktober 1962 - BVerwG 1 C 212.58 - a.a.O. S. 76) und schließt
(zweiseitige) Vereinbarungen zwischen Hofraumeigentümer und Flurbereinigungs-
behörde nicht aus.
3. Die von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.
a) Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1
Satz 1 VwGO) sieht die Beschwerde darin, dass das Oberverwaltungsgericht die
Notwendigkeit einer weiteren (rückwärtigen) Erschließung des Hofgrundstücks des
Klägers über einen im Wege- und Gewässerplan nur noch für den Fußgängerverkehr
ausgewiesenen Weg nicht näher untersucht hat. Insoweit seien auch das Gebot des
rechtlichen Gehörs und die aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO folgende Pflicht des Ge-
richts, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Ermittlungen zu gewinnen,
verletzt, weil das Gericht sich mit dem Vorbringen des Klägers und gleichlautenden
Erklärungen anderer Personen, dieser Weg sei früher landwirtschaftlich genutzt wor-
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den und auch heute zur hinreichenden Erschließung des Hofgrundstückes erforder-
lich, nicht auseinander gesetzt habe.
Diese Verfahrensrügen greifen nicht durch. Die Frage, ob das angegrif-
fene Urteil an einem Verfahrensmangel leidet, ist nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts vom materiellrechtlichen Standpunkt der Vorinstanz
aus zu beurteilen, auch wenn dieser Standpunkt verfehlt sein sollte (vgl. etwa
BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1998 - BVerwG 11 C 11.96 - Buchholz 451.171 § 7
AtG Nr. 5 S. 58 m.w.N.). Das Oberverwaltungsgericht hat zu der wegemäßigen Er-
schließung des Hofgrundstücks selbständig tragend ausgeführt, dass der Kläger das
bis zu seiner Eintragung im Grundbuch oder bis zur Anmeldung durchgeführte Flur-
bereinigungsverfahren nach § 15 FlurbG gegen sich gelten lassen müsse und mithin
an den zuvor aufgestellten und genehmigten Wege- und Gewässerplan gebunden
sei. Von diesem Rechtsstandpunkt kommt es - unabhängig von seiner von der Be-
schwerde infrage gestellten Richtigkeit - auf die von der Beschwerde für klärungsbe-
dürftig gehaltenen bzw. unberücksichtigt gebliebenen tatsächlichen Umstände nicht
an. Deswegen ist auch der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Denn es ist
nicht zu beanstanden, wenn ein Gericht Ausführungen eines Beteiligten außer Be-
tracht lässt, die nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich sind (vgl. etwa BVerfGE
86, 133 <146>).
b) Als Verstoß gegen § 108 VwGO macht die Beschwerde geltend, das
Oberverwaltungsgericht habe im Zusammenhang mit der Frage einer Vernässung
des als Grünland zugeteilten Flurstücks 27 Flur 12 zugestandene Tatsachen verfah-
rensfehlerhaft als strittig unterstellt und auch gegen allgemeine Erfahrungsgrundsät-
ze verstoßen.
Mit ihrer ersten Rüge vermag die Beschwerde schon deswegen keinen
Verfahrensmangel darzulegen, weil ein Gericht nach § 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO
- anders als im Zivilprozess - an das Vorbringen der Beteiligten und somit auch an
deren übereinstimmendes Vorbringen nicht gebunden ist.
Mit ihrer weiteren Rüge greift die Beschwerde die Sachverhalts- und
Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts an. (Vermeintliche) Fehler in der
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Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind jedoch revisionsrechtlich regelmäßig nicht
dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können des-
wegen einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht be-
gründen. Anhaltspunkte dafür, dass die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch
das Oberverwaltungsgericht in der Frage, ob von einer Vernässung des dem Kläger
zugeteilten Flurstücks 27 Flur 12 auszugehen ist, von objektiver Willkür geprägt wäre
und deswegen ausnahmsweise an einem Verfahrensmangel leiden könnte (vgl. etwa
BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 266 S. 19), sind nicht ersichtlich. Der bloße Hinweis der Beschwer-
de, dass Mauselöcher unter günstigen Bedingungen gerade zur Zeit der Schnee-
schmelze binnen kurzer Zeit in großer Menge entstehen können, zeigt nicht substan-
tiiert auf, dass die Annahme des sachkundig besetzten Oberverwaltungsgerichts, die
Existenz einer Vielzahl von Mauselöchern spreche gegen eine Vernässung der vom
Kläger extensiv genutzten Grünflächen, Denkgesetzen oder allgemeinen Erfah-
rungssätzen widerspräche.
Die im erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 133
Abs. 3 Satz 1 VwGO eingegangenen Schriftsatz vom 10. Mai 2005 enthaltenen Aus-
führungen zur Frage eines Anspruchs auf Dränung des genannten Grundstücks aus
Gründen der Gleichbehandlung betreffen das materielle Recht und zeigen Verfah-
rensmängel nicht auf.
c) Einen weiteren Verstoß gegen die Aufklärungspflicht sieht die Be-
schwerde darin, dass das Oberverwaltungsgericht nicht aufgrund eigener Überzeu-
gungsbildung die Frage überprüft habe, ob auf den Altflurstücken 62 und 63 Flur 1
eine Windkraftanlage hätte errichtet werden können. Auch mit diesem Vorbringen
zeigt die Beschwerde auf der Grundlage der - wie dargelegt - für die Sachaufklärung
allein maßgeblichen materiellrechtlichen Sicht des Oberverwaltungsgerichts keinen
Verfahrensmangel auf. Unter dem für das Oberverwaltungsgericht maßgeblichen
rechtlichen Gesichtspunkt der wertgleichen Abfindung kam es allein darauf an, ob die
Verkürzung der Schlaglänge des zugeteilten Flurstücks 35 Flur 15 in der Lage der
Altgrundstücke ursächlich für die Ablehnung der Genehmigung zur Errichtung einer
Windkraftanlage gewesen ist. Das hat das Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf
die bei den Gerichtsakten befindlichen Bescheide des Landrats des Kreises Lippe
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verneint, weil danach andere Gründe, u.a. entgegenstehende öffentliche Belange im
Sinne des § 35 Abs. 1 BauGB aufgrund der an anderer Stelle ausgewiesenen und
dargestellten Flächen für Windenergieanlagen im Flächennutzungsplan der
Gemeinde Extertal maßgebend gewesen seien. Auf die von der Beschwerde gefor-
derte Sachaufklärung im Zusammenhang mit der Frage, ob die Altflurstücke über-
haupt mit einer Windkraftanlage hätten bebaut werden können, kann es danach nicht
ankommen.
d) Soweit die Beschwerde eine unzureichende Sachaufklärung im Zu-
sammenhang mit der Bewertung des Flurstücks 47 Flur 12 und des Flurstücks 14
Flur 13 rügt, beanstandet sie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Oberver-
waltungsgerichts, was - wie dargelegt - eine Zulassung der Revision wegen eines
Verfahrensmangels nicht rechtfertigt, weil Anhaltspunkte für eine von objektiver Will-
kür geprägte Sachverhalts- und Beweiswürdigung weder erkennbar sind noch vorge-
tragen werden.
Mit dem den angeblichen Erwerb des Flurstücks 47 Flur 12 bzw. die
Nichtberücksichtigung der Beschattung des Flurstücks 14 Flur 13 betreffenden Vor-
bringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung und in seinem nachträglichen
Schriftsatz vom 17. November 2004 hat sich das Oberverwaltungsgericht entgegen
der Behauptung der Beschwerde in seinem Urteil auseinander gesetzt. Dass sich
dem Gericht darüber hinausgehende Sachverhaltsaufklärungen hätten aufdrängen
müssen (vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - a.a.O. m.w.N.), zeigt die Beschwerde nicht auf.
e) Ohne Erfolg bleibt auch die im Zusammenhang mit dem Flurstück
19/9 Flur 6 von der Beschwerde erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung. Soweit
die Beschwerde geltend macht, das Oberverwaltungsgericht habe, ohne den
Sachverhalt näher aufzuklären, festgestellt, dass ein Blockheizkraftwerk auf dem
Grundstück nicht errichtet werden könne, und die Frage, ob es sich im Übrigen um
Bauland handele, sei von ihm nicht mehr weiter erörtert worden, erfüllt dieses Vor-
bringen schon deswegen nicht die Anforderungen, die § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an
die Bezeichnung eines Zulassungsgrundes im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO stellt,
weil nicht substantiiert dargelegt wird, welche für geeignet und erforderlich gehalte-
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nen Aufklärungsmaßnahmen in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen
Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraus-
sichtlich getroffen worden wären (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 19. August
1997 - BVerwG 7 B 261.97 - a.a.O.).
Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang offensichtlich gel-
tend machen will, der Beklagte habe für die Beurteilung der Gleichwertigkeit von Ein-
lagen und Abfindungen den falschen Zeitpunkt für maßgeblich angesehen, rügt sie
angebliche Mängel bei der Anwendung des materiellen Rechts, die eine Zulassung
der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründen können.
Fehl geht schließlich die Rüge der Beschwerde, dem Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts liege eine aktenwidrige Feststellung zugrunde, soweit das Ge-
richt im Hinblick auf das Flurstück 19/9 Flur 6 von 18,51 Werteinheiten ausgehe.
Denn die Plan- und Abfindungsvereinbarung vom 2. Oktober 1997, auf die die Be-
schwerde mit ihrer Behauptung der Aktenwidrigkeit Bezug nimmt, enthält zum Wert
des genannten Flurstücks keine Aussage.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streit-
wertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.
Vallendar Prof. Dr. Rubel Dr. Nolte