Urteil des BVerwG vom 24.03.2006

Anhörung, Mangel, Absendung, Fristablauf

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 55.05
OVG 1 L 304/04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. März 2006
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hien und die
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und Domgörgen
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes
Sachsen-Anhalt vom 15. April 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerde-
verfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 1 449,51 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Verfahrensrüge des Beklagten
greift durch, weil der mit ihr geltend gemachte Gehörsverstoß vorliegt und der
angefochtene Beschluss als auf ihm beruhend anzusehen ist (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses und
zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz (§ 133 Abs. 6
VwGO).
Das Berufungsgericht hat dem in § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3
VwGO geregelten Anhörungsgebot nur unzureichend Rechnung getragen. Die
Anhörung ist nicht ordnungsgemäß erfolgt, weil das Gericht über die Berufung
der Kläger ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden hat, oh-
ne den Ablauf der in der Anhörungsmitteilung vom 5. April 2005 bis zum
22. April 2005 gesetzten Äußerungsfrist abzuwarten. Die Anhörung soll den
Beteiligten Gelegenheit bieten, ihre Sachargumente zu vertiefen und zu ergän-
zen und gegebenenfalls die Gründe darzulegen, aus denen sie eine mündliche
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Verhandlung für sachdienlich halten (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember
1979 - BVerwG 7 C 76.78 - Buchholz 312 EntlG Nr. 12). Dieses Recht wird
nachhaltig beeinträchtigt, wenn das Gericht den Beteiligten - wie hier - die Mög-
lichkeit nimmt, die gesetzte Frist voll auszuschöpfen (vgl. BVerwG, Beschluss
vom 14. März 1994 - BVerwG 11 B 141.93 - juris Rn. 3).
Die Einhaltung der Frist erübrigte sich nicht etwa aufgrund der Berufungserwi-
derung des Beklagten vom 8. April 2005. Das gilt unabhängig davon, ob den
Prozessbevollmächtigten des Beklagten die ihnen am 9. April 2005 zugestellte
Anhörungsmitteilung bei Absendung der Berufungserwiderung bereits bekannt
war. Die Erwiderung enthielt nämlich jedenfalls keinen Hinweis, dass der Be-
klagte auf weiteren Vortrag verzichten wolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Au-
gust 1991 - BVerwG 4 C 11.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 238 S. 87).
Ist demnach eine ordnungsgemäße Anhörung unterblieben, so stellt das einen
Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs dar (vgl. für eine
Entscheidung vor Fristablauf BVerwG, Beschluss vom 14. März 1994 a.a.O.; für
andere Fallgestaltungen BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 1993
- BVerwG 6 B 76.92 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 10 S. 11; Beschluss vom
17. November 1994 - BVerwG 1 B 42.94 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 11
S. 1; Beschluss vom 22. April 1999 - BVerwG 9 B 1037.98 - Buchholz 310
§ 130a VwGO Nr. 38 S. 16). Denn ohne ordnungsgemäße vorherige Anhörung
fehlt es an den Voraussetzungen, unter denen das Berufungsgericht aus-
nahmsweise von einer mündlichen Verhandlung absehen und im Beschlussweg
entscheiden darf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. November 1994 a.a.O. S. 2;
Neumann in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 138 Rn. 176). Da sich ein solcher Man-
gel nicht nur auf einzelne Sachverhaltsumstände, sondern auf den Streitstoff
insgesamt auswirkt, kommt es nicht darauf an, was der Betroffene bei Einhal-
tung der Äußerungsfrist durch das Gericht noch vorgetragen hätte und ob die-
ser Vortrag erheblich gewesen wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juni
2001 - BVerwG 8 B 38.01 - juris Rn. 10). Macht der Betroffene hierzu - wie der
Beklagte des vorliegenden Verfahrens - in seiner Beschwerdebegründung keine
Ausführungen, so stellt dies - jedenfalls wenn es um eine nicht ordnungsgemä-
ße erste Anhörung geht (anders zum Sonderfall einer nach neuem Sachvortrag
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rechtswidrig unterbliebenen zweiten Anhörungsmitteilung BVerwG, Beschluss
vom 18. März 1992 - BVerwG 5 B 36.92 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 4
S. 4; Beschluss vom 18. Juni 1996 - BVerwG 9 B 140.96 - Buchholz 310 § 130a
VwGO Nr. 16 S. 10) - keinen Verstoß gegen das Darlegungserfordernis des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dar.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Hien Dr. Nolte Domgörgen
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