Urteil des BVerwG vom 23.11.2011

Verfahrensmangel, Gefährdung, Hauptsache, Gefahr

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 32.11
OVG 3 L 11/07
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. November 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom
13. April 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde
hat Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die
Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beru-
fungsurteils an das Berufungsgericht zurück.
Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begrün-
dungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer fortbestehenden
Verfolgungsgefahr des Klägers in Tschetschenien und dem Fehlen einer zu-
mutbaren internen Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Födera-
1
2
- 3 -
tion nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Hierzu macht sie geltend,
das Berufungsgericht habe sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der ab-
weichenden Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderge-
setzt, auf die sich der am Verfahren beteiligte Bundesbeauftragte für Asylange-
legenheiten ausdrücklich berufen habe. Dieser hat im Berufungsverfahren mit
Schriftsatz vom 6. April 2011 unter Bezugnahme auf im Einzelnen nach Akten-
zeichen und Entscheidungsdatum spezifizierte Entscheidungen anderer Ober-
verwaltungsgerichte darauf hingewiesen, dass Tschetschenen bei einer Rück-
kehr nach Tschetschenien hinreichend sicher seien bzw. im Sinne von Art. 4
Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass
ihnen Verfolgung oder sonstiger ernsthafter Schaden drohe, soweit sie keine
besonderen Gefährdungsfaktoren aufwiesen. Außerdem hat er geltend ge-
macht, dass Tschetschenen nach allgemeiner Spruchpraxis selbst bei Annah-
me einer weiter andauernden Verfolgungsgefahr in Tschetschenien zumindest
eine inländische Ausweichmöglichkeit bzw. im Sinne von Art. 8 der Richtlinie
2004/83/EG interner Schutz in den übrigen Gebieten der Russischen Födera-
tion zustehe.
Mit den in diesen obergerichtlichen Entscheidungen vertretenen Auffassungen
setzt sich das Berufungsgericht inhaltlich nicht auseinander. Es erwähnt in sei-
ner Entscheidung zwar eine der vom Bundesbeauftragten angeführten Ent-
scheidungen als Beleg für eine von seiner eigenen Einschätzung abweichende
Auffassung zur aktuellen Lage in Tschetschenien, ohne jedoch weiter auf das
Vorbringen des Bundesbeauftragten einzugehen und sich mit der abweichen-
den tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsge-
richte zur Lage in Tschetschenien und dem Bestehen einer innerstaatlichen
Fluchtalternative näher zu befassen. Das lässt angesichts der besonderen Um-
stände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen
nicht in Erwägung gezogen hat. Das Berufungsgericht führt zur Begründung
seiner Entscheidung zwar auch neuere Erkenntnismittel an, die den vom Bun-
desbeauftragten angeführten Entscheidungen der anderen Oberverwaltungsge-
richte nicht vorlagen. Diesen entnimmt das Berufungsgericht aber keine grund-
legende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern verweist ausdrück-
lich darauf, dass seine aktuelle Lageeinschätzung älteren - von den anderen
3
- 4 -
Oberverwaltungsgerichten bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigten - Er-
kenntnissen entspreche (UA S. 11) und deshalb „weiterhin“ für die in Tsche-
tschenien lebenden Personen eine tatsächliche Gefahr bestehe (UA S. 12). Bei
dieser Sachlage verletzt das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung den An-
spruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; darin liegt zugleich
ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebote-
ne Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungs-
fähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte
grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und
Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichen-
der obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfah-
rensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann
(stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 - BVerwG 1 B 85.05 - Buchholz
402.25 § 1 AsylVfG Nr. 324 und - BVerwG 1 B 86.05). Etwas anderes muss
jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche
Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu eigen macht
und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen
handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und
lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht
erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genom-
men und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der
Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch
ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom
21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).
Auf diesen Verfahrensmangel kann sich jedenfalls in der vorliegenden prozes-
sualen Konstellation auch die Beklagte berufen. Denn sie ist der Berufung des
Klägers entgegengetreten und hat sich damit das in die gleiche Richtung zie-
lende Vorbringen des Beteiligten zumindest konkludent zu eigen gemacht.
Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerüg-
ten Verfahrensmangel beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass
4
5
6
- 5 -
das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit der gegentei-
ligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Ent-
scheidung hinsichtlich der vom Bundesbeauftragten angesprochenen Frage der
Gefährdung in Tschetschenien und des Bestehens einer innerstaatlichen
Fluchtalternative gelangt wäre. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts
ergeben sich insbesondere keine Anhaltspunkte für ein besonderes Gefähr-
dungspotential des Klägers, bei dessen Vorliegen auch andere Oberverwal-
tungsgerichte eine Gefährdung bzw. das Fehlen einer inländischen Fluchtalter-
native annehmen.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht
auch zu berücksichtigen haben, dass beim Flüchtlingsschutz allein die Gefahr
krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten
Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie
2004/83/EG bedeutet. Auch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung.
Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung
sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlitte-
nen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbe-
haltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden ge-
mäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Fricke
7
8