Urteil des BVerwG vom 30.07.2012

Gefahr, Wahrscheinlichkeit, Verweigerung, Einberufung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 27.12
VGH 11 B 11.30469
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juli 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 17. April 2012 wird verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, mit der eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), eine
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie
Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend gemacht werden, ist un-
zulässig, da sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entspricht.
1. Aus dem Vorbringen der Beschwerde ergibt sich nicht die geltend gemachte
Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
Eine Divergenz im Sinne der genannten Vorschrift ist gegeben, wenn das Beru-
fungsgericht in dem angefochtenen Urteil einen das Urteil tragenden abstrakten
Rechtssatz aufgestellt hat, mit dem es einem Rechtssatz widersprochen hat,
den eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte in Anwendung
derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Es genügt nicht, wenn das Beru-
fungsgericht einen Rechtssatz im Einzelfall rechtsfehlerhaft anwendet oder dar-
aus nicht die rechtlichen Folgerungen zieht, die etwa für die Sachverhalts- und
Beweiswürdigung geboten sind (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 und vom
3. Juli 2007 - BVerwG 2 B 18.07 - Buchholz 235.1 § 69 BDG Nr. 1).
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Die Beschwerde bezeichnet bereits keinen vom Berufungsgericht aufgestellten
abstrakten Rechtssatz, der von einem in der angeführten Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C
21.92 - BVerwGE 91, 150) aufgestellten Rechtssatz abgewichen sein soll. Zwar
trifft es zu, dass das Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil den
Rechtssatz aufgestellt hat, dass ein Ausländer keines internationalen Schutzes
als Flüchtling bedarf, wenn er die Gefahr politischer Verfolgung durch eigenes
zumutbares Verhalten abwenden kann. Selbst für den Fall, dass dieser Rechts-
satz auf das entscheidungserhebliche Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2
AufenthG zu erstrecken sein sollte, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen
kein hiervon abweichender Rechtssatz des Berufungsgerichts. Die Beschwerde
räumt vielmehr ein, dass das Gericht auf die Zumutbarkeit einer Antragstellung
auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer abgestellt hat, um den im russi-
schen Militärdienst drohenden Misshandlungsgefahren zu entgehen (Be-
schwerdebegründung S. 2). Damit hat es seiner Entscheidung in der Sache
sogar den Rechtssatz zugrunde gelegt, dessen Nichtbeachtung die Beklagte
rügt. Eine Abweichung ergibt sich auch nicht daraus, dass das Berufungsgericht
bei der Zumutbarkeit nicht auf die eigenen Vorstellungen und Wünsche des Be-
troffenen abstelle, während nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts objektive Zumutbarkeitsgesichtspunkte maßgeblich seien. Denn auch
insoweit legt die Beschwerde keinen von der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts abweichenden Rechtssatz des Berufungsgerichts dar. Viel-
mehr stützt sie ihre Rüge allein darauf, dass das Berufungsgericht die Stellung
eines Antrags auf Kriegsdienstverweigerung unter Vorspiegelung einer nicht
vorhandenen inneren Überzeugung für nicht zumutbar erachte. Daraus ergibt
sich jedoch nicht, dass der Begriff der Zumutbarkeit vom Berufungsgericht nicht
objektiv verstanden, sondern von den eigenen Vorstellungen und Wünschen
des Ausländers abhängig gemacht wird. In der Sache wendet sich die Be-
schwerde in Gestalt einer Divergenzrüge gegen die konkrete Würdigung des
Gerichts, welches Abwendungsverhalten es als zumutbar ansieht. Die Zulas-
sung der Revision vermag sie damit jedoch nicht zu begründen.
2. Aus dem Vorbringen der Beschwerde ergibt sich auch keine grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
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Die Beschwerde sieht als klärungsbedürftig an, ob die Zumutbarkeit des Eigen-
verhaltens, das eine Gefahr nach § 60 Abs. 2 AufenthG abzuwenden vermag,
nach objektiven oder subjektiven Kriterien zu bestimmen ist (Beschwerdebe-
gründung S. 3). Sie legt jedoch nicht - wie erforderlich - die Entscheidungser-
heblichkeit der aufgeworfenen Frage dar. Denn weder aus ihrem Vorbringen
noch aus dem Berufungsurteil selbst ergibt sich, dass das Berufungsgericht die
Zumutbarkeit nach subjektiven Kriterien bestimmt. Es leitet die Unzumutbarkeit
vielmehr aus der (objektiven) Tatsache ab, dass die Stellung eines Antrags auf
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer der - vom Berufungsgericht festge-
stellten - persönlichen Einstellung des Klägers widersprechen würde, unter Vor-
spiegelung einer nicht vorhandenen inneren Überzeugung erfolgen müsste und
möglicherweise die Begehung einer Straftat darstellen würde (UA S. 12).
3. Die Beschwerde legt auch die geltend gemachten Verfahrensmängel der
fehlerhaften richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO)
und der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103
Abs. 1 GG) nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
genügenden Weise dar.
Soweit die Beschwerde mit ihrem Vorbringen eine Verletzung von § 108
Abs. 1 Satz 1 VwGO geltend macht (Beschwerdebegründung S. 4 ff.), greift
sie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Fehler
in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind aber nach ständiger Recht-
sprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern
dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. etwa Beschluss vom 19. Oktober
1999 - BVerwG 9 B 407.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11
m.w.N.). Ein Verfahrensverstoß kann allenfalls ausnahmsweise in Betracht
kommen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denk-
gesetze verstößt oder die allgemeinen Erfahrungssätze missachtet (vgl. etwa
Beschluss vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132
<1135> = Buchholz 303 § 279 ZPO Nr. 1 m.w.N.). Dass die angefochtene Ent-
scheidung derartige Mängel aufweist, legt die Beschwerde jedoch nicht dar.
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Die Rüge der Beklagten, das Gericht habe seiner Prognose, dass der Kläger
bei Rückkehr nach Russland zum Wehrdienst eingezogen werde, nicht den
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt, begründet kei-
ne Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das angefochtene Urteil geht
bei seiner Gefahrenprognose davon aus, dass dem Kläger die Einberufung
„sehr wahrscheinlich“ drohe (UA S. 11). Damit werden die Anforderungen an
den nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde zu
legenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom
27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22) erfüllt, die
prognostizierte Wahrscheinlichkeit liegt sogar höher. Es liegt im Rahmen rich-
terlicher Tatsachenwürdigung, auch ohne Erhalt eines Einberufungsbefehls
und auch bei Einreise außerhalb einer laufenden Rekrutierungsphase die Ge-
fahr einer Einberufung des Klägers zum Wehrdienst für sehr wahrscheinlich zu
halten. Aus der Tatsache, dass im Urteil keine ausdrücklichen Feststellungen
zur Wehrdiensttauglichkeit des Klägers getroffen werden, lässt sich - entgegen
der Auffassung der Beklagten - nicht ableiten, die Prognose des Gerichts sei
rein spekulativ. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Gericht von der
Wehrdiensttauglichkeit des Klägers ausgegangen ist, auch wenn es diesen
Umstand nicht ausdrücklich erwähnt. Aus dem Vorbringen der Beschwerde,
die sich gegen die Würdigung des Berufungsgerichts zur Möglichkeit der
Kriegsdienstverweigerung durch den Kläger wendet, ergibt sich - auf der
Grundlage der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - ebenfalls keine
Überschreitung der Grenzen richterlicher Tatsachen- und Beweiswürdigung.
Auf die von der Beschwerde ebenfalls angegriffenen - möglicherweise defizitä-
ren - Feststellungen des Gerichts zu den Erfolgsaussichten einer Verweige-
rung des Wehrdienstes kommt es für die Beurteilung der Überzeugungsbil-
dung nicht an, da das Gericht seine Entscheidung - selbstständig tragend -
auf die fehlende Zumutbarkeit einer solchen Verweigerung gestützt hat
(UA S. 12).
Aus den vorstehend näher behandelten Rügen lässt sich auch keine Verlet-
zung des rechtlichen Gehörs des Klägers ableiten (§ 138 Nr. 3 VwGO,
Art. 103 Abs. 1 GG). Eine „beharrliche Ignorierung“ oder „selektive Wahrneh-
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mung“ der von der Beklagten vorgebrachten Erkenntnisse und Argumente er-
gibt sich aus der Tatsachen- und Beweiswürdigung des Gerichts nicht.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 Satz 1 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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