Urteil des BVerwG vom 05.09.2011

Russische Föderation, Gefahr, Flüchtlingseigenschaft, Hauptsache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 25.11, 10 PKH 17.11
VGH 11 B 09.30200
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. September 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:
Den Klägern wird für das Beschwerdeverfahren Prozess-
kostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt …, …, beigeordnet.
Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. März 2011 aufge-
hoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor
(§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO).
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Er-
folg. Die Kläger rügen zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf
Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Be-
rufungsgericht hat wesentliches Vorbringen der Kläger nicht in der gebotenen
Weise zur Kenntnis genommen und erwogen.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der
Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und
in Erwägung gezogen haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Um-
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stände deutlich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berück-
sichtigt hat (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR
986/91 - BVerfGE 86, 133, 145 f.). Das ist hier der Fall.
Die Beschwerde beruft sich darauf, dass dem Kläger zu 1 bei Rückkehr in die
Russische Föderation eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung drohe. In
der Strafhaft erwarte ihn eine menschenrechtswidrige Behandlung, die ein Ab-
schiebungsverbot begründe. Zum Nachweis habe er in der mündlichen Ver-
handlung vom 28. Februar 2011 dem Vorsitzenden des Senats ausweislich des
Sitzungsprotokolls das „Original einer Ladung zur Beweisaufnahme“ nebst
Übersetzung übergeben. Hierauf sei das Berufungsgericht weder im Tatbestand
noch in den Entscheidungsgründen des Urteils eingegangen.
Damit rügt die Beschwerde zu Recht eine Verletzung der Pflicht zur Kenntnis-
nahme und Erwägung erheblichen Parteivorbringens. Das Berufungsgericht
hätte die Gefahr eines Strafverfahrens gegen den Kläger zu 1 nicht verneinen
dürfen, ohne sich mit der vorgelegten Ladung auseinanderzusetzen. Zwar be-
finden sich weder das Original noch die nach dem Sitzungsprotokoll gleicher-
maßen übergebene beglaubigte Übersetzung aus dem Russischen bei den Ge-
richtsakten. Eine Durchsicht der Akte des Bundesamts für Migration und Flücht-
linge ergab jedoch, dass dort nachträglich ein russisches Dokument mit beglau-
bigter Übersetzung eingeheftet wurde. Hierbei handelt es sich offenkundig um
die in der mündlichen Verhandlung vom 28. Februar 2011 überreichten Doku-
mente. Sie finden sich in dem unpaginierten Bereich zwischen Deckblatt und
Beginn der paginierten Bundesamtsakte. Danach soll der Kläger zu 1 auf der
Grundlage eines Befehls der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föde-
ration für den 13. April 2004 zur Vernehmung als verdächtige Person geladen
worden sein. Nach Angaben der Beschwerde erfolgte die Ladung, weil sich der
Kläger zu 1 durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzogen habe. Die vom Be-
rufungsgericht nicht zur Kenntnis genommenen Dokumente beziehen sich - wie
die Beschwerde zutreffend darlegt - unter Zugrundelegung der Rechtsauffas-
sung des Berufungsgerichts auf entscheidungserhebliche Tatsachen. Das gilt
zunächst für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 ff.
AufenthG. Denn das Berufungsgericht stützt seine Ablehnung eines Abschie-
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bungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG darauf, dass keine Anhaltspunkte da-
für bestünden, dass die Kläger einem Strafverfahren unterzogen und in dessen
Rahmen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren würden
(UA Rn. 33). Träfe es zu, dass der Kläger zu 1 von den russischen Strafverfol-
gungsbehörden einer Straftat verdächtigt wird, hätte sich das Berufungsgericht
bei den von ihm getroffenen Feststellungen zum Vorliegen von Abschiebungs-
verboten nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG mit dieser Tatsache auseinandersetzen
müssen. Daran ändert auch das Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom
31. August 2011 nichts.
Die unterlassene Kenntnisnahme wirkt sich - wie der Beschwerde der Sache
nach zu entnehmen ist - auch auf die Feststellungen des Berufungsgerichts zur
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus. Denn das Berufungsgericht hat
offen gelassen, ob den Klägern Verfolgung in Tschetschenien droht und ent-
scheidungserheblich darauf abgestellt, dass von ihnen unter Zugrundelegung
der Maßstäbe des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vernünftigerweise verlangt
werden könne, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation aufzuhalten
(Rn. 24). Dort bestehe für sie weder eine begründete Furcht vor Verfolgung
noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Bei der für
das Berufungsgericht entscheidungserheblichen Frage, ob dem Kläger zu 1 in
der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens die Gefahr eines ernst-
haften Schadens droht, hätte es sich mit den in der mündlichen Verhandlung
überreichten Dokumenten auseinandersetzen müssen.
Die Gehörsverletzung erstreckt sich auch auf den Anspruch der Klägerin zu 2,
da sie im Falle einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger
zu 1 jedenfalls Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 4 AsylVfG beanspru-
chen könnte.
Auf die weiter erhobenen Rügen kommt es nicht mehr entscheidungserheblich
an. Allerdings bemerkt der Senat, dass diese voraussichtlich ohne Erfolg
geblieben wären. Hinsichtlich der Divergenzrüge weist der Senat darauf hin,
dass das Berufungsgericht die von der Beschwerde als unterlassen gerügte
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Gesamtwürdigung der verfolgungsrelevanten Umstände sehr wohl vorgenom-
men und seiner Würdigung der Einzeltatbestände vorangestellt hat (UA Rn. 21).
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglich-
keit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungs-
gericht zurückzuverweisen.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Beck
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