Urteil des BVerwG vom 28.09.2010

Wahrscheinlichkeit, Irak, Überzeugung, Gefahr

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 25.10
VGH A 2 S 2657/09
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. September 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts-
hofs Baden-Württemberg vom 23. Juni 2010 wird verwor-
fen.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, mit der die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, bleibt ohne Erfolg.
Der Kläger wirft als Grundsatzfrage auf, welche Anforderungen an die richterli-
che Überzeugungsbildung in Fällen verfassungskonformer Anwendung von
§ 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG zu stellen sind. Er beruft sich dabei auf den
Beschluss des Senats vom 23. Juni 2010 (BVerwG 10 B 27.09), in dem die Re-
vision zur Klärung dieser Frage zugelassen worden ist. Diese Frage stelle sich
auch im vorliegenden Verfahren, in dem das Berufungsgericht ein solches Ab-
schiebungsverbot für den aus dem Irak stammenden Kläger abgelehnt habe.
Diese und die weiteren Ausführungen der Beschwerde führen nicht zur Zulas-
sung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Denn die aufgeworfene
Grundsatzfrage ist, soweit sie sich in verallgemeinerungsfähiger Weise beant-
worten lässt, mittlerweile geklärt.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 (juris;
LS 4 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen) klarge-
stellt, dass die Verwaltungsgerichte bei der verfassungskonformen Anwendung
von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG gehalten sind, den Anforderungen an
die richterliche Überzeugungsbildung und die gebotene Auseinandersetzung mit
abweichender Tatsachen- und Lagebeurteilung anderer (Ober-)Verwal-
tungsgerichte in besonderer Weise gerecht zu werden. Zur Begründung hat der
Senat darauf abgestellt, dass bei der Geltendmachung allgemeiner Gefahren
die Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwir-
kung nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung möglich ist,
wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlü-
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cke bestünde (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE
131, 198 Rn. 32 m.w.N.). Im Hinblick auf die Lebens- und Existenzbedingungen
kann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beansprucht werden, wenn der
Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahr-
scheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebie-
ten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz
einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m.
§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG zu gewähren. Dazu hat der Senat ausgeführt, die drohenden Gefah-
ren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein,
dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete
Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemei-
nen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit ist des-
halb von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahr-
scheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Zudem müssen sich die allge-
meinen Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Deshalb bedarf es für
die Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwen-
dung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG einer Gesamtwürdigung der den
Ausländer betreffenden Lebensbedingungen in seinem Heimatland dahinge-
hend, dass die befürchteten Schäden bei Berücksichtigung aller maßgeblichen
Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr eintreten
werden. Diese engen materiellrechtlichen Vorgaben zur Feststellung eines Ab-
schiebungsverbots wegen allgemeiner Gefahren gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG unter Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 Auf-
enthG zwingen die Tatsachengerichte, ihre tatrichterliche Überzeugung vom
Vorliegen dementsprechender tatsächlicher Umstände im Herkunftsland des
Asylbewerbers und die darauf aufbauende Prognose von dessen individueller
Betroffenheit in besonders sorgfältiger Weise zu bilden und zu begründen
(§ 108 Abs. 1 VwGO).
Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, in welcher Hinsicht die Anforderungen
an die tatrichterliche Überzeugungsbildung zu dem genannten Abschiebungs-
verbot in dem erstrebten Revisionsverfahren weiter präzisiert werden könnten.
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Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Berufungsgericht auf der Grundla-
ge seiner den Senat in einem Revisionsverfahren bindenden tatsächlichen
Feststellungen im Hinblick auf die vom Kläger als Grundlage seines Begehrens
angeführte Sicherheitslage im Irak nicht einmal eine erhebliche individuelle Ge-
fahr für Leib und Leben des Klägers gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gese-
hen hat. Somit ist das Berufungsgericht auch im Ergebnis nicht von der Recht-
sprechung des Senats zu den Anforderungen an die tatrichterliche Überzeu-
gung i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO abgewichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 Satz 1 RVG.
Dr. Mallmann
Richter
Prof. Dr. Kraft
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