Urteil des BVerwG vom 20.02.2014

Eugh, Kommission, Ausweisung, Einfluss

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 21.13
OVG 7 B 24.13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Februar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 15. August 2013 wird zurückge-
wiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerde-
verfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die allein auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde ist nicht begründet.
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO),
wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des
revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen
Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung
oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt
werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn eine von der Be-
schwerde aufgeworfene Rechtsfrage bereits geklärt ist und die Beschwerde
auch keinen neuerlichen oder verbliebenen Klärungsbedarf geltend machen
kann. So liegt der Fall hier.
Die Beschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„ob durch die Bestimmungen des Assoziationsratsbe-
schlusses 1/80 - ARB 1/80 - begünstigte Ausländer für
den Fall ihrer nach dem 30. April 2006 verfügten Auswei-
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sung die Beachtung des Vier-Augen-Prinzips beanspru-
chen dürfen.“
Zur Begründung weist sie darauf hin, dass die Beantwortung dieser Frage da-
von abhänge, ob der verfahrensrechtliche Ausweisungsschutz gemäß Art. 9 der
Richtlinie 64/221/EWG in Anbetracht der Stillhalteklausel gemäß Art. 13
ARB 1/80 auch im Falle einer nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG ver-
fügten Ausweisung eines - hier nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 - assoziationsrecht-
lich begünstigten türkischen Staatsangehörigen zu beachten sei. Insoweit han-
dele es sich - entgegen der vom Bundesverwaltungsgericht in mehreren Ent-
scheidungen geäußerten Rechtsauffassung - um eine unionsrechtliche Zwei-
felsfrage, die dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor-
zulegen sei.
Mit diesem und dem weiteren Vorbringen wird eine fortbestehende grundsätzli-
che Bedeutung der Rechtssache nicht aufgezeigt. Das Bundesverwaltungsge-
richt hat sich - wie die Beschwerde selbst einräumt - bereits mehrfach mit den
Anforderungen an die Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer
Staatsangehöriger nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG befasst und ent-
schieden, dass Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG und die darin vorgesehene
Einschaltung einer unabhängigen Stelle nicht für Ausweisungsverfügungen gilt,
die - wie hier - nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006
erlassen wurden. In diesem Zusammenhang hat es sich sowohl mit der von der
Kommission vertretenen Auffassung, wonach die Aufhebung der Richtlinie
64/221/EWG keinen Einfluss auf die Auslegung des Assoziationsratsbeschlus-
ses habe (vgl. etwa Stellungnahme vom 15. Dezember 2006 in der Rechtssa-
che C-349/06 S. 22), als auch mit den von den seinerzeitigen Prozess-
bevollmächtigten geltend gemachten Gegenargumenten eingehend auseinan-
dergesetzt und dargelegt, dass eine Aufrechterhaltung der früher in Art. 9 der
Richtlinie 64/221/EWG getroffenen Regelung für nach dem ARB 1/80 privi-
legierte türkische Staatsangehörige jedenfalls gegen das Besserstellungsverbot
in Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur
Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemein-
schaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II
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S. 385) - ZP - verstoßen würde, ohne dass es hierzu eines Vorabentschei-
dungsersuchens an den EuGH bedürfe (vgl. Urteile vom 10. Juli 2012 - BVerwG
1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 = Buchholz 402.242 AufenthG Nr. 9 jeweils
Rn. 22 ff., vom 13. Dezember 2012 - BVerwG 1 C 20.11 - Buchholz 402.242
§ 55 AufenthG Nr. 15, vom 15. Januar 2013 - BVerwG 1 C 10.12 - InfAuslR
2013, 435 und vom 14. Mai 2013 - BVerwG 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334;
Beschluss vom 15. April 2013 - BVerwG 1 B 22.12 - InfAuslR 2013, 317). Damit
ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt, dass
die von der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage zu verneinen ist.
Die von der Beschwerde angeführten Stellungnahmen der Kommission verhal-
ten sich im Übrigen nicht speziell zur Fortgeltung der verfahrensrechtlichen Ga-
rantien der Richtlinie 64/221/EWG, sondern gehen allgemein davon aus, dass
die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG auf
die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund des Abkommens
erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne (vgl. Stellungnahme der
Kommission vom 15. Dezember 2006 in der Rechtssache C-349/06
S. 22 und vom 2. Dezember 2008 in der Rechtssache C-371/08 <Örnek>
S. 14). Dieser Rechtsauffassung hat sich der EuGH nicht angeschlossen. Auch
dies hat das Bundesverwaltungsgericht in den zitierten Entscheidungen bereits
dargelegt.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist weiter geklärt, dass
nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG bei
Unionsbürgern keine Verpflichtung zur Beteiligung einer zweiten unabhängigen
Stelle im Verwaltungsverfahren besteht; eine derartige Verpflichtung ergibt sich
insbesondere nicht aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG. Folglich hätte eine
Fortgeltung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG bei Ausweisungen nach
Art. 14 ARB 1/80 eine verfahrensmäßige Besserstellung assoziationsrechtlich
begünstigter türkischer Staatsangehöriger zur Folge, die gegen das Besserstel-
lungsverbot des Art. 59 ZP verstoßen würde. Dem kann mit Blick auf den mate-
riellen Ausweisungsschutz von Unionsbürgern nach der Richtlinie 2004/38/EG
auch nicht entgegengehalten werden, dass es sich nur um eine punktuelle und
im Gesamtvergleich zu vernachlässigende Besserstellung handeln würde. Denn
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der erhöhte Schutz nach der Richtlinie 2004/38/EG beruht nicht auf dem wirt-
schaftlich begründeten Freizügigkeitsrecht von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten, sondern auf der besonderen Rechtsstellung der Unionsbürger,
mit denen Berechtigte nach dem ARB 1/80 nach der Rechtsprechung des
EuGH keine Gleichstellung verlangen können.
Schließlich setzt sich die Beschwerde auch nicht mit dem vom Berufungsgericht
zusätzlich herangezogenen Argument auseinander, dass einer isolierten An-
wendung der Verfahrensgarantien der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG
auch entgegenstehe, dass diese nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil
vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg 2005, I-4759-4804
Rn. 67) untrennbar mit den Rechten verbunden sind, auf die sie sich beziehen,
diese materiellen Rechte infolge Außerkrafttretens der Richtlinie aber erloschen
sind.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung folgt aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Prof. Dr. Berlit
Fricke
Dr. Maidowski
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