Urteil des BVerwG vom 22.07.2010

Rechtliches Gehör, Verfahrensrechte, Verfahrensmangel, Sicherheit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 20.10
OVG 18 A 3514/07.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juli 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes
für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. April 2010 wird
verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und Verfahrensmängel (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie genügt schon
nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
1. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine Zulassung der Revision wegen
grundsätzlicher Bedeutung.
Mit der von der Beschwerde aufgeworfenen Frage,
„ob in einem Verfahren, wo weder im Widerrufsanhö-
rungsverfahren, noch dem Bescheid der Beklagten, noch
dem Urteil des Verwaltungsgerichts, dem Berufungszulas-
sungsantrag durch die Beklagte und selbst nicht im Be-
schluss, mit dem die Berufung durch das Oberverwal-
tungsgericht zugelassen worden war, über Tatsachen, die
nachträglich entstanden sind (Urteil des Landgerichts Köln
vom 6. Januar 2009 wegen schweren Raubes), das Ober-
verwaltungsgericht diese Tatsachen aus der Verurteilung
in Bezug auf den Tatsachenvortrag als auch dann dessen
rechtliche Einordnung (Vorliegen der Voraussetzungen
des § 60 Abs. 8 AufenthG) in dem Berufungsverfahren
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entscheiden durfte oder ob nicht darin eine Wesensver-
änderung des ursprünglichen Bescheides liegt und der
Betroffene in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar be-
einträchtigt wird und damit keine Ergänzung, Präzisierung
und Vertiefung des bisherigen Sachverhalts erfolgt, son-
dern der alte Verwaltungsakt in seinem Kern verändert
wird,“
und mit dem weiteren diesbezüglichen Beschwerdevorbringen wird ein grund-
sätzlicher Klärungsbedarf nicht dargelegt. Die Beschwerde ist der Auffassung,
dass die Berücksichtigung der während des Berufungsverfahrens ausgespro-
chenen strafrechtlichen Verurteilung - mit Urteil des Landgerichts Paderborn
vom 16. Dezember 2009 wurde der Kläger unter Einbeziehung des von der Be-
schwerde angeführten Urteils des Landgerichts Köln vom 6. Januar 2009 we-
gen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge
zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt - den
angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamts in seinem Wesen verändert
und die Rechtsverteidigung des Klägers unzumutbar beeinträchtigt habe, ohne
dies näher darzulegen. In diesem Zusammenhang geht sie weder darauf ein,
dass nach § 77 AsylVfG bei asylrechtlichen Streitigkeiten im gerichtlichen
Verfahren auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung abzustellen ist, noch setzt sie sich damit auseinander, dass das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG sowohl der
Flüchtlings- (vgl. § 3 Abs. 4, § 26 Abs. 3 und 4 AsylVfG) als auch der Asylaner-
kennung (vgl. § 30 Abs. 4, § 26 Abs. 3 AsylVfG) entgegensteht und das Bun-
desamt nach § 73 AsylVfG zum Widerruf verpflichtet. Bei dieser Sachlage hätte
näherer Darlegung bedurft, warum hier entgegen der Ansicht des Berufungsge-
richts eine Wesensveränderung eingetreten sein sollte. Gleiches gilt für die be-
hauptete Unzumutbarkeit der Rechtsverteidigung, nachdem dem Kläger im Be-
rufungsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, zu den neuen Verurteilungen
und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen Stellung zu nehmen. Insge-
samt zeigt die Beschwerde nach allem nicht auf, dass die Rechtssache eine
grundsätzliche, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht beant-
wortete Rechtsfrage aufwirft.
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Auch die weitere Frage,
„ob bzw. dass das Oberverwaltungsgericht eine Entschei-
dung auf die strafrechtliche Verurteilung des Klägers ge-
stützt hat, in unzulässiger Weise dieser in wesentlichen
Verfahrensrechten wie u.a. das rechtliche Gehör gemäß
Art. 103 Abs. 1 GG beeinträchtigt wird und der Kläger
durch die Berücksichtigung dieser nachgeschobenen
Gründe schlechter gestellt wird, als er gestanden hätte,
wenn sich die Beklagte im Verwaltungsverfahren darauf
gestützt hätte und dann in dem Verfahren hätte eine Stel-
lungnahme der Haftanstalt, des Haftpsychologen oder/und
Sachverständigengutachten eingeholt werden können,
was das Oberverwaltungsgericht weder im Rahmen des
Amtsermittlungsgrundsatzes noch ansonsten angeregt
bzw. selbst veranlasst hat und der Betroffene dann da-
durch in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar im Sinne
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Ur-
teil vom 24. November 1998 - 9 C 53.97 - beeinträchtigt
wurde,“
rechtfertigt keine Zulassung der Revision. Insoweit fehlt es ebenfalls an Darle-
gungen zur Klärungsbedürftigkeit, zumal nicht ersichtlich ist, inwiefern durch die
Berücksichtigung neuer Tatsachen im Berufungsverfahren Verfahrensrechte
des Klägers oder der Amtsermittlungsgrundsatz einschränkt worden sind.
Soweit die Beschwerde schließlich geklärt haben möchte,
„ob bei einem Vorverfolgten, bei dem im Widerrufsverfah-
ren das Vorliegen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG
festgestellt wird, hinsichtlich der Gefahren bei Rückkehr/
Abschiebung der herabgesetzte Prognosemaßstab anzu-
legen ist oder insoweit bei Prüfung des sekundären Ab-
schiebeschutzes gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG
dann trotz der Vorverfolgung der normale Prognosemaß-
stab gilt,“
fehlt es hinsichtlich der unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG an Darlegungen zur Entscheidungserheblich-
keit. Denn das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass deren
Voraussetzungen unabhängig von dem anzulegenden Wahrscheinlichkeits-
maßstab nicht vorliegen (UA S. 16). Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts inzwischen geklärt, dass bei diesen Abschiebungs-
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verboten der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Si-
cherheit keine Anwendung findet, sondern gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG Art. 4
Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG gilt. Diese Vorschrift privilegiert den von ihr
erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch
einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen
asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Danach streitet für den-
jenigen, der bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, die
tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Drohungen bei ei-
ner Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann
aber widerlegt werden. Das kann im Einzelfall selbst dann der Fall sein, wenn
nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des
herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (Urteil vom 27. April
2010 - BVerwG 10 C 5.09 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssamm-
lung BVerwGE vorgesehen Rn. 19 ff.).
Auch für die allein auf nationalem Recht beruhenden Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der anzuwendende Progno-
semaßstab in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Hier ist stets der
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden, unabhängig davon,
ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht (stRspr, etwa Urteil vom
17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> und Beschluss
vom 29. Juni 2009 - BVerwG 10 B 60.08 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff.
AufenthG Nr. 35). Einen erneuten Klärungsbedarf aus Anlass des Falles des
Klägers zeigt die Beschwerde nicht auf.
2. Die Beschwerde rügt weiter eine Abweichung der Berufungsentscheidung
von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 113 Abs. 1
VwGO. Danach sei ein Nachschieben von Tatsachen und rechtlichen Erwä-
gungen während des gerichtlichen Verfahrens nur zulässig, wenn die nachträg-
lich angegebenen Gründe schon bei Erlass des Verwaltungsaktes vorlagen,
dieser durch das Nachschieben nicht in seinem Wesen verändert und der Be-
troffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werde. Unter Zugrun-
delegung dieser Rechtsprechung führe die nachträgliche Einbeziehung der
strafrechtlichen Verurteilung durch das Berufungsgericht hier zu einer Wesens-
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veränderung. Außerdem würden wesentliche Verfahrensrechte des Klägers be-
einträchtigt.
Mit diesem und dem weiteren Vorbringen zeigt die Beschwerde keinen inhaltlich
bestimmten, die Berufungsentscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz auf,
mit dem das Berufungsgericht einem in der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung der-
selben Vorschrift widersprochen hat. Den Darlegungen ist lediglich zu entneh-
men, dass das Berufungsgericht - aus Sicht der Beschwerde - die Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts unzutreffend angewandt hat, nicht aber
- wie für eine Divergenzrüge erforderlich -, dass es einen abstrakten, der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts widersprechenden Rechtssatz
aufgestellt hat. Im Übrigen setzt sich die Beschwerde auch hier nicht damit
auseinander, dass es sich bei der angefochtenen Entscheidung um einen ge-
bundenen Verwaltungsakt handelt und in asylrechtlichen Streitigkeiten hinsicht-
lich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
§ 77 Abs. 1 AsylVfG anzuwenden ist.
3. Die Beschwerde hat auch die von ihr geltend gemachten Verfahrensmängel
nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend darge-
legt. Sie rügt eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör, weil das Beru-
fungsgericht in Bezug auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG eine konkrete
Wiederholungsgefahr in der Person des Klägers bejaht habe, ohne hierzu ein
medizinisch/fachpsychiatrisches oder fachpsychologisches Sachverständigen-
gutachten einzuholen oder sonstige Ermittlungen zur gegenwärtigen Situation
des Klägers durchzuführen. Außerdem habe es in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG nicht berücksichtigt, dass der Kläger zum Personenkreis der „aus den
Dörfern in der Umgebung der Kreisstadt M.“ stammenden Yeziden gehöre, er
aufgrund seines Alters (24 Jahre alt) in der Türkei als wehrdienstpflichtig und -
flüchtig gesucht werde und als „nicht Beschnittener“ nach der zwangsweisen
Zuführung zum Militärdienst sowohl von den Militärs selbst, aber auch von den
Wehrpflichtigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erhebliche konkrete Gefahr
für sein Leib und Leben zu gewärtigen hätte. Mit diesem und dem weiteren
Vorbringen zeigt die Beschwerde einen zur Revisionszulassung führenden
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Verfahrensmangel nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entsprechend auf. Ein Verfahrensmangel ist nur dann hinreichend
bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen
als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird.
Die Beschwerde legt nicht dar, dass der Kläger im Berufungsverfahren in Bezug
auf den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG auf eine
weitere Aufklärung des Sachverhalts hingewirkt hat. Mit Blick auf einen etwai-
gen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) legt sie
auch nicht dar, inwiefern sich dem Berufungsgericht, dem bei seiner Entschei-
dung neben den einschlägigen Straf- und Ausländerakten auch der aktuelle
Vollzugsplan der Justizvollzugsanstalt Köln vom Februar 2010 vorlag, hinsicht-
lich der vom Kläger ausgehenden Gefahren weitere Ermittlungen hätten auf-
drängen müssen.
Ebenso wenig ist der Beschwerde - in Bezug auf das Vorliegen eines Abschie-
bungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - zu entnehmen, dass der Klä-
ger sich bereits vor dem Berufungsgericht auf etwaige Gefahren im Hinblick auf
eine ihm drohende Zuführung zum Militärdienst berufen hat. Im Übrigen ist das
Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die staatlichen Stellen grundsätz-
lich bereit und in der Lage sind, Yeziden Schutz gegen Übergriffe zu gewähren,
wenn dieser gesucht wird (UA S. 22).
Die Beschwerde legt schließlich auch nicht dar, inwiefern das Berufungsgericht
die Herkunft des Klägers „aus den Dörfern in der Umgebung der Kreisstadt M.“
nicht hinreichend berücksichtigt hat und dies zu einer anderen Beurteilung der
Verfolgungsgefahr hätte führen müssen. In diesem Zusammenhang setzt sich
die Beschwerde insbesondere nicht damit auseinander, dass das Berufungsge-
richt davon ausgegangen ist, dass bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur lan-
desweite Gefahren in Betracht kommen (UA S. 18) und hier - anders als in dem
vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 5. Juni 2007 <10 A
11576/06> entschiedenen Fall, das den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung
betraf - nicht der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist (UA
S. 23).
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskos-
ten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt
sich aus § 30 RVG.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Fricke
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