Urteil des BVerwG vom 27.01.2014

Wirkung Ex Tunc, Betroffene Person, Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 2.14, 10 PKH 3.14
OVG 1 A 75/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
beschlossen:
Der Antrag der Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe zu bewilli-
gen und Rechtsanwalt Jan L., B., beizuordnen, wird abge-
lehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
der Freien Hansestadt Bremen vom 11. Juni 2013 wird
verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Der Klägerin kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden,
weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
2. Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) gestützte Beschwerde genügt nicht den Darlegungsanforderungen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Wird die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechts-
sache begehrt, setzt die hinreichende Darlegung dieses Zulassungsgrundes
gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Formulierung einer bestimmten, höchst-
richterlich noch nicht geklärten und sowohl für das Berufungsgericht als auch
die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserheblichen Rechtsfrage
des revisiblen Rechts voraus und verlangt außerdem die Angabe, worin die all-
gemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr;
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vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 26). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der
Beschwerde nicht.
Die Beschwerde leitet die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache daraus
ab, dass in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang nicht geklärt sei,
„ob § 48 der Landes-Verwaltungsverfahrensgesetze, ins-
besondere § 48 VwVfG-NRW, eine ausreichende gesetzli-
che Grundlage darstellt, um durch Rücknahme der Nieder-
lassungserlaubnis bzw. der unbefristeten Aufenthalts-
erlaubnis der Eltern eines Deutschen den Verlust der
durch Geburt erlangten deutschen Staatsbürgerschaft zu
bewirken;
insbesondere: ob § 48 der Landes-Verwaltungs-
verfahrensgesetze auch in denjenigen Fällen eine ausrei-
chende gesetzliche Grundlage darstellt, in denen die El-
ternteile des Deutschen die Aufenthaltserlaubnis nicht
aufgrund eigener Täuschungen, sondern aufgrund von
Täuschungen der Großeltern des Deutschen erhalten ha-
ben.“
Diese Fragen rechtfertigen eine Zulassung der Revision schon deshalb nicht,
weil sie sich allein auf § 48 VwVfG beziehen, der Gesetzgeber für die sich aus
der rückwirkenden Aufhebung eines Aufenthaltstitels gegenüber einem Dritten
ergebenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgewirkungen inzwischen aber
eine Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz getroffen hat. Die von der Be-
schwerde konkret aufgeworfenen Rechtsfragen betreffen folglich ausgelaufenes
Recht, ohne dass die Beschwerde darlegt, warum sie dennoch ausnahmsweise
einer grundsätzlichen Klärung bedürfen.
Der Gesetzgeber hat durch das Gesetz zur Änderung des Staatsangehörig-
keitsgesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl I S. 158) - wie auch die Beschwerde
nicht verkennt - die Rücknahme rechtswidriger Einbürgerungen in § 35 StAG
ausdrücklich geregelt, in § 17 Abs. 1 StAG als neuen Grund für den Verlust der
deutschen Staatsangehörigkeit die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwal-
tungsaktes nach § 35 StAG eingefügt, hiervon die Rückwirkungen auf eine kraft
Gesetzes erworbene deutsche Staatsangehörigkeit Dritter ausgenommen, so-
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fern diese das fünfte Lebensjahr vollendet haben (§ 17 Abs. 2 StAG), und die
entsprechende Anwendung des Absatzes 2 angeordnet bei Entscheidungen
„nach anderen Gesetzen, die den rückwirkenden Verlust der deutschen Staats-
angehörigkeit Dritter zur Folge hätten, insbesondere bei der Rücknahme der
Niederlassungserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes, bei
der Rücknahme einer Bescheinigung nach § 15 des Bundesvertriebenengeset-
zes und bei der Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft nach § 1599
des Bürgerlichen Gesetzbuches“ (§ 17 Abs. 3 Satz 1 StAG). Die von der Be-
schwerde aufgeworfenen Fragen verhalten sich nicht zu den durch dieses neue
„Regelungssystem“ in das Staatsangehörigkeitsrecht eingefügten Regelungen.
Rechtsfragen, die sich auf auslaufendes oder ausgelaufenes Recht beziehen,
haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts trotz
anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, da § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO eine richtungweisende Klärung für die Zukunft herbeiführen soll
(stRspr; vgl. Beschlüsse vom 8. Oktober 2007 - BVerwG 3 B 16.07 - juris
Rn. 2 f.; vom 5. Oktober 2009 - BVerwG 6 B 17.09 - Buchholz 442.066 § 24
TKG Nr. 4 und vom 29. Dezember 2010 - BVerwG 5 B 42.10 - juris Rn. 3).
Eine Revisionszulassung kommt wegen solcher Fragen daher nur ausnahms-
weise in Betracht. Ein derartiger Ausnahmefall liegt vor, wenn das in Rede ste-
hende Recht noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht ab-
sehbarer Zukunft von Bedeutung ist. Für das Vorliegen einer solchen Sachlage
ist der Beschwerdeführer darlegungspflichtig; es müssen Anhaltspunkte für eine
erhebliche Zahl von Altfällen dargelegt und ersichtlich sein (Beschlüsse vom
26. Februar 2002 - BVerwG 6 B 63.01 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 36
S. 27 und vom 15. Oktober 2009 - BVerwG 1 B 3.09 - Buchholz 310
§ 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 18). Dieser Darlegungsanforderung wird die Be-
schwerde nicht gerecht.
Eine Revisionszulassung wegen Fragen zu ausgelaufenem Recht kommt aus-
nahmsweise auch dann in Betracht, wenn die Fragen sich zu den Nachfolge-
vorschriften offensichtlich in gleicher Weise stellen; dies ist ebenfalls substan-
tiiert darzulegen (stRspr; vgl. Beschluss vom 21. Mai 2013 - BVerwG 3 B 91.12
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- juris Rn. 5 m.w.N.). Auch diesen Darlegungsanforderungen genügt die Be-
schwerde nicht mit dem pauschalen Hinweis, dass sich die aufgeworfenen
Rechtsfragen immer noch stellten, weil durch die Änderung des § 17 StAG die
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfenen Fragen
nicht ausreichend beantwortet seien, und § 17 Abs. 2 und 3 StAG keine selb-
ständigen Normen seien, welche den Verlust der Staatsangehörigkeit regelten.
Gleiches gilt für den Hinweis auf die - hier nicht einschlägige - Regelung zu den
Fernwirkungen der Rücknahme einer Einbürgerung (§ 35 Abs. 5 StAG).
In diesem Zusammenhang setzt sich die Beschwerde insbesondere nicht damit
auseinander, dass nach der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts die
Folgewirkungen von Rücknahmeentscheidungen auf den gesetzlichen Erwerb
der Staatsangehörigkeit von Dritten keinen Verlustgrund im Sinne des § 17
Abs. 1 StAG darstellen, sondern der Gesetzgeber in Fällen, in denen ein Kind
- wie hier - die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG kraft
Gesetzes von einem Elternteil erworben hat, dessen Aufenthaltserlaubnis nach
der Geburt mit Wirkung ex-tunc nach § 48 VwVfG zurückgenommen wird, da-
von ausgeht, dass damit rückwirkend eine für den Staatsangehörigkeitserwerb
durch Geburt maßgebende gesetzliche Tatbestandsvoraussetzung entfällt. Die
Folgewirkungen von Rücknahmeentscheidungen gegenüber Dritten hat der Ge-
setzgeber allerdings in § 17 Abs. 2 und 3 StAG dahingehend begrenzt, dass sie
- abgesehen von Fällen der erfolgreich angefochtenen Vaterschaft nach § 1600
Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 BGB (§ 17 Abs. 3 Satz 2 StAG) - nicht eintreten, wenn
die betroffene Person das fünfte Lebensjahr vollendet hat. In Bezug auf diese
dem aktuellen Staatsangehörigkeitsrecht zugrundeliegende Gesetzessystema-
tik stellen sich etwa verbliebene Rechtsfragen allenfalls in anderer - vom Beru-
fungsgericht nicht behandelter und von der Beschwerde nicht aufgeworfener -
Art.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. 42.2 des Streitwertkata-
logs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand Juli 2004, abgedruckt in NVwZ
2004, 1327; durch die Neufassung 2013 insoweit unverändert).
Prof. Dr. Berlit
Fricke
Dr. Maidowski
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