Urteil des BVerwG vom 25.10.2012

Gerichtshof für Menschenrechte, Emrk, Egmr, Schutz der Menschenwürde

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 16.12
VGH A 11 S 3177/11
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Oktober 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 6. März 2012 wird zurückgewie-
sen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.
1. Die Beschwerde wirft die Grundsatzfrage auf,
„ob eine Abschiebung in eine schlechte Gesamtsituation,
die unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar
sein dürfte, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellt
und damit ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 2
AufenthG auslöst.“
Dazu trägt sie vor, der Verwaltungsgerichtshof habe diese Frage in der ange-
fochtenen Entscheidung verneint. Denn er sei davon ausgegangen, dass eine
Verletzung von Art. 3 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur in extremen Ausnahmefällen in Be-
tracht zu ziehen sei. Eine solche Situation habe das Berufungsgericht nicht
festgestellt und dazu auf seine Ausführungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3
AufenthG verwiesen. Gleichzeitig sei es jedoch im Rahmen der Prüfung dieser
Vorschriften der Auffassung, dass aufgrund der schlechten Gesamtsituation in
Kabul eine Rückkehr für gesunde, alleinstehende Männer unter humanitären
Gesichtspunkten kaum zumutbar sein dürfte. Dies begegne grundsätzlichen
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Bedenken, denn es werde nicht deutlich, welche Konsequenz die zuletzt ge-
nannte Auffassung im Hinblick auf Art. 3 EMRK habe. Einen Menschen sehen-
den Auges einer unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbare Hunger-
situation auszusetzen, könne nur als unmenschlich und erniedrigend betrachtet
werden. Zudem sei es wegen der Selbständigkeit der Abschiebungsverbote
nicht zulässig, das Fehlen einer extremen Ausnahmesituation i.S.v. Art. 3
EMRK mit der Verneinung einer Extremsituation gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 und
3 AufenthG zu begründen. Schließlich bedürfe die Auffassung des Verwal-
tungsgerichtshofs, dass sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland
hinsichtlich Art. 3 EMRK nichts anderes ergebe, revisionsgerichtlicher Überprü-
fung. Dieses und das weitere Vorbringen der Beschwerde rechtfertigt nicht die
Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
1.1 Die Beschwerde knüpft die aufgeworfene Grundsatzfrage an folgende Aus-
führungen des Berufungsgerichts, die sich an dessen Würdigung anschließen,
dass in Kabul keine Lage vorliegt, die eine Extremgefahr begründet (UA S. 25):
„Zwar dürfte aufgrund der schlechten Gesamtsituation oh-
ne schützende Familien- oder Stammesstrukturen in der
Tat eine Rückkehr nach Kabul selbst für gesunde allein-
stehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten
kaum zumutbar sein. Diese Zumutbarkeit ist nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch
kein zentraler Maßstab für die Bestimmung einer extre-
men Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG.“
Diese Wertung trägt das Ergebnis des Berufungsurteils weder hinsichtlich der
Ablehnung des unionsrechtlichen noch des nationalen Abschiebungsschutzes.
Mit ihr bringt das Berufungsgericht vielmehr seine Haltung zum Ausdruck, dass
die „Hürden“ des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer extremen
Gefahrenlage zu hoch seien und lässt in der Sache sein Bedauern erkennen,
dass die oberste Landesbehörde für Afghanistan keinen generellen Abschiebe-
stopp aus humanitären Gründen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ange-
ordnet hat und das Gericht diese politische Entscheidung - unterhalb der hier
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nicht erreichten Grenze verfassungsrechtlich gebotenen Abschiebungsschut-
zes - nicht zu ersetzen vermag. Diese nicht entscheidungserhebliche und zu-
dem eher außerrechtlich-moralische Bewertung des Handelns der Exekutive
führt nicht auf grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO.
1.2 Wollte man dem Vorbringen zu § 60 Abs. 2 AufenthG die - von der Be-
schwerde allerdings nicht explizit formulierte - Frage entnehmen, ob sich der
Maßstab für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3
EMRK bei Abschiebungen in Staaten mit schwierigen Lebensbedingungen seit
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte M.S.S.
gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/06)
nach den darin „für alle Menschen gleich geltenden Mindeststandards einer Be-
handlung“ bestimmt, würde auch diese Frage aus mehreren Gründen nicht die
Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen.
1.2.1 Zum einen lässt sich der die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG prä-
genden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
entnehmen, dass mit dem Urteil der Großen Kammer im Verfahren M.S.S.
gegen Belgien und Griechenland (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011
- Nr. 30696/09, M.S.S. - NVwZ 2011, 413) keine grundlegende, der revisionsge-
richtlichen Klärung bedürftige Änderung der Maßstäbe bei der Ableitung von
Abschiebungsverboten aus Art. 3 EMRK verbunden ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in seiner Rechtspre-
chung davon aus, dass die Staaten - unbeschadet ihrer vertraglichen Verpflich-
tungen einschließlich derer aus der Konvention selbst - das Recht haben, die
Einreise fremder Staatsbürger in ihr Hoheitsgebiet zu regeln (EGMR, Urteile
vom 28. Mai 1985 - Nr. 15/1983/71/107-109, Abdulaziz u. a. - NJW 1986, 3007
Rn. 67; vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279 Rn. 54
und vom 28. Juni 2012 - Nr. 14499/09, A.A. u.a. - Rn. 71). Die Abschiebung
durch einen Konventionsstaat kann aber dessen Verantwortlichkeit nach der
Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt,
dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im
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Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu
werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung,
die Person nicht in dieses Land abzuschieben (stRspr, EGMR, Urteile vom
7. Juli 1989 - Nr. 14038/88, Soering - NJW 1990, 2183 Rn. 90 f. und vom
28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125). Allerdings
können Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Kon-
ventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder ande-
re Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufent-
haltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwar-
tung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein
nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in
besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend
gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008
- Nr. 26565/05, N. - NVwZ 2008, 1334 Rn. 42). So hat der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte ein Abschiebungsverbot aus Art. 3 EMRK zuguns-
ten eines im fortgeschrittenen, tödlichen und unheilbaren Stadiums an Aids Er-
krankten angenommen, weil die Abschiebung seinen Tod beschleunigen würde,
er keine angemessene Behandlung erreichen könne und kein Beweis für
irgendeine mögliche moralische oder soziale Unterstützung im Zielstaat zu er-
bringen sei (EGMR, Urteil vom 2. Mai 1997 - Nr. 146/1996/767/964, D. - NVwZ
1998, 161 Rn. 52 f.). Zusammenfassend führt der Gerichtshof zur Herleitung
eines Abschiebungsverbots aus Art. 3 EMRK aufgrund von Krankheiten aus,
dass angesichts der grundlegenden Bedeutung von Art. 3 EMRK im System der
Konvention zwar eine gewisse Flexibilität notwendig sei, um eine Ausweisung
(expulsion) in besonderen Ausnahmefällen zu verhindern. Doch verpflichte
Art. 3 EMRK die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in
sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versor-
gung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (EGMR, Urteil vom
27. Mai 2008 - Nr. 26565/05, N. - NVwZ 2008, 1334 Rn. 44).
Diese gefestigte Rechtsprechung ist durch das Urteil der Großen Kammer im
Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (EGMR, Urteil vom 21. Ja-
nuar 2011 a.a.O.) nicht grundsätzlich revidiert worden. Das Urteil verhält sich
- entgegen der Auffassung der Beschwerde - erkennbar nicht zu den „für alle
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Menschen gleich geltenden Mindeststandards einer Behandlung“. Zwar hat der
Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als
abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit
seiner Überstellung an Griechenland einer Situation äußerster materieller Armut
ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei
(EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 a.a.O. Rn. 252, 263 f., 366 f.). Jedoch er-
streckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich
nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der Gerichtshof betont vielmehr die
Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (EGMR, Ur-
teil vom 21. Januar 2011 a.a.O. Rn. 249 m.w.N.). Vielmehr betrifft die Entschei-
dung den Schutz der Menschenwürde von Personen, die - in einem ihnen voll-
ständig fremden Umfeld - vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig
sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in
ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21. Januar
2011 a.a.O. Rn. 253). Als eine hier in Betracht zu ziehende Personengruppe
führt das Urteil die Gruppe der Asylsuchenden an, die es als besonders verletz-
lich und schutzbedürftig qualifiziert (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 a.a.O.
Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung dieser Rechtsprechung
auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht,
ergibt sich im Übrigen auch aus nachfolgenden Urteilen des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07,
Sufi u. Elmi - NVwZ 2012, 681 Rn. 282 f. und vom 15. Mai 2012 - Nr. 16567/10,
Nacic u.a. - Rn. 49 u. 54).
1.2.2 Zum anderen war diese Frage für das Berufungsgericht nicht entschei-
dungserheblich. Denn es hat sich der tatsächlichen Einschätzung des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs angeschlossen, dass zu erwarten sei, dass
Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten „ein kümmerliches Einkom-
men erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzie-
ren könnten“ (UA S. 24 f.). Damit ergäbe sich selbst bei Zugrundelegung der in
der Entscheidung M.S.S. für einen anderen Anwendungsfall entwickelten Maß-
stäbe kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
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2. Auch die weitere aufgeworfene Grundsatzfrage,
„ob bei der Prüfung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter
Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor-
liegt, im Rahmen der Gesamtwürdigung nicht nur die me-
dizinische Versorgungslage, sondern auch weitere Um-
stände, wie z.B. die allgemeine Versorgungssituation zu
berücksichtigen ist“,
vermag der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen. Entgegen der von ihr
vertretenen Auffassung ist die erforderliche Gesamtwürdigung u.a. der medizi-
nischen Versorgungslage keine Voraussetzung für das Vorliegen eines inner-
staatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. dazu Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG
10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 19 ff.). Sie ist vielmehr Teil der Prüfung, ob
dem Betroffenen - wenn ein Konflikt dieser Qualität und dieses Ausmaßes be-
steht - mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit ein nach Art. 15
Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG relevanter Schaden droht. Demzufolge er-
weist sich die Frage, welche weiteren Umstände bei der Gesamtwürdigung der
Gefahrbeurteilung zu berücksichtigen sind, nach den tatsächlichen Feststellun-
gen und der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts zur Lage in Ka-
bul schon nicht als entscheidungserheblich.
3. Schließlich legt die Beschwerde nicht dar, dass die von ihr aufgeworfene Fra-
ge,
„ob im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG auch nach Um-
setzung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG alle Ge-
fährdungen grundsätzlich irrelevant sind, die von nicht-
staatlichen Akteuren ausgehen“,
klärungsbedürftig ist. Dazu wäre es erforderlich gewesen darzutun, aus wel-
chen Gründen die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtli-
nie 2004/83/EG im Aufenthaltsgesetz nicht nur für den unionsrechtlichen Ab-
schiebungsschutz (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG), sondern auch für das
Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG als Bestandteil des nationalen
Abschiebungsschutzes von Belang sein könnte. Dazu verhält sich die Be-
schwerde jedoch nicht. Im Übrigen legt die Beschwerde nicht dar, inwieweit
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§ 60 Abs. 5 AufenthG hier einen weitergehenden Schutz gewähren sollte als
§ 60 Abs. 2 AufenthG.
4. Der von der Beschwerde geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz
(§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entsprechend dargelegt. Eine Divergenz i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
liegt vor, wenn das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil einen das
Urteil tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, mit dem es einem
Rechtssatz widerspricht, den eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten
Gerichte in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Es genügt
nicht, wenn das Berufungsgericht einen Rechtssatz im Einzelfall rechtsfehler-
haft anwendet oder daraus nicht die rechtlichen Folgerungen zieht, die etwa für
die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (stRspr, vgl. Beschlüsse
vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 und vom 3. Juli 2007 - BVerwG 2 B 18.07 - Buchholz 235.1 § 69 BDG
Nr. 1).
4.1 Entgegen der Behauptung der Beschwerde hat der Senat in seinem Urteil
vom 17. November 2011 - BVerwG 10 C 13.10 - (a.a.O.) keinen allgemeinen
Rechtssatz aufgestellt,
„dass bei der Prüfung, ob ein bewaffneter innerstaatlicher
Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor-
liegt, eine wertende Gesamtschau vorzunehmen ist, zu
der jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Ver-
sorgungslage gehört (Leitsatz 2).“
Wie bereits unter 2. ausgeführt, bezieht sich die von der Beschwerde ange-
sprochene wertende Gesamtbetrachtung allein auf die Gefahrendichte, also die
Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, und nicht das Vorliegen eines inner-
staatlichen bewaffneten Konflikts. Daher greift auch die insoweit erhobene Ver-
fahrensrüge einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht durch.
4.2 Die behauptete Divergenz des Berufungsgerichts zu dem Urteil des Senats
vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - (BVerwGE 136, 360) ist nicht hinrei-
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chend dargelegt. Der Senat hat in der bezeichneten Entscheidung zwar in der
Tat - wie von der Beschwerde geltend gemacht - entschieden, dass das Vorlie-
gen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie
2004/83/EG nicht zwingend voraussetzt, dass die Konfliktparteien einen so ho-
hen Organisationsgrad erreicht haben müssen, wie er für die Erfüllung der Ver-
pflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des
Internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist. Vielmehr kann es bei einer Ge-
samtwürdigung der Umstände auch genügen, dass die Konfliktparteien in der
Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität
und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischer-
weise in Mitleidenschaft gezogen wird (a.a.O. Rn. 23). Von diesem Rechtssatz
ist das Berufungsgericht aber weder offen noch verdeckt abgewichen, wenn es
bezogen auf Kabul als Heimatregion des Klägers das Vorliegen eines inner-
staatlichen bewaffneten Konflikts aufgrund seiner tatrichterlichen Würdigung
verneint hat, dass die dortige Sicherheitslage - abgesehen von einigen spekta-
kulären, auf prominente Ziele gerichteten Anschlägen - relativ einheitlich als
stabil bewertet worden sei (UA S. 15 f.). Damit kommt es auf die Organisation
der Konfliktparteien nicht an. Denn entgegen der Auffassung der Beschwerde
bilden die Kriterien, die der Senat zur Qualität einer potentiellen Konfliktpartei
entwickelt hat, keine hinreichende Voraussetzung für das Vorliegen eines in-
nerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die Beschwerde versucht im Gewande
der Divergenzrüge, die tatsächliche Würdigung des Berufungsgerichts durch
eine eigene Einschätzung der Lage infrage zu stellen; damit kann sie jedoch die
Zulassung der Revision nicht erreichen.
5. Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsurteil sei nicht hinreichend mit
Gründen versehen (§ 138 Nr. 6 VwGO), da es einerseits eine Verletzung von
Art. 3 EMRK und Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für den Fall einer Ab-
schiebung nach Kabul verneine, andererseits eine solche Abschiebung selbst
für gesunde, alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten für
kaum zumutbar halte. Insoweit liege auch ein Verstoß gegen den Überzeu-
gungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) vor. Diese Verfahrensrügen grei-
fen nicht durch.
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Nach § 138 Nr. 6 VwGO liegt ein absoluter Revisionsgrund - und damit zugleich
ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO - vor, wenn die
Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Nicht mit Gründen versehen im
Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO ist eine Entscheidung nur, wenn die Entschei-
dungsgründe ihre doppelte Funktion nicht mehr zu erfüllen vermögen. Das ist
nach der Rechtsprechung allerdings nicht nur dann der Fall, wenn dem Tenor
der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch
dann, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie
in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung
maßgebend gewesen sind (vgl. Beschluss vom 3. April 1990 - BVerwG 9 CB
5.90 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 31). Der „grobe Formmangel“ (vgl. Be-
schluss vom 13. Juni 1988 - BVerwG 4 C 4.88 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 80) liegt mit anderen Worten immer dann vor, wenn die Entscheidungsgrün-
de rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Grün-
den derart unbrauchbar sind, dass sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt
geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen.
Bei Anwendung dieser Grundsätze liegt der gerügte Verfahrensmangel nicht
vor. Der durch § 138 Nr. 6 VwGO sanktionierte grobe Formmangel greift erst
bei unverständlichen und verworrenen Entscheidungsgründen, nicht aber be-
reits bei inhaltlich grob falschen Ausführungen, die hier im Übrigen nicht zu er-
kennen sind. Die Beschwerde verkennt den Inhalt der von ihr in Bezug genom-
menen Passagen der Entscheidungsgründe. Bei den Zumutbarkeitserwägun-
gen des Verwaltungsgerichtshofs handelt es sich allein um eine rechtlich nicht
verankerte, eher moralische Bewertung einer möglichen Abschiebung (siehe
oben 1.1). Auch der gerügte Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz ist
nicht zu erkennen. Vielmehr rügt die Beschwerde im Gewande dieser Verfah-
rensrüge die inhaltliche Würdigung des Berufungsgerichts; damit vermag sie die
Zulassung der Revision indes nicht zu erreichen.
6. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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