Urteil des BVerwG vom 26.07.2012

Eltern, Emrk, Form, Abhängigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 13.12, 10 PKH 10.12
OVG 3 B 19.10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Juli 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Bundesver-
waltungsgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechts-
anwältin …, …, beigeordnet.
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2012 wird zurückge-
wiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Dem Kläger ist auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor
dem Bundesverwaltungsgericht zu bewilligen und seine Prozessbevollmächtigte
beizuordnen. Er hat nachgewiesen, dass er die Kosten der Prozessführung
nicht aufbringen kann; die Erfolgsaussichten seiner Rechtsverfolgung werden
nicht geprüft (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 117, 119 Abs. 1 Satz 2, 121 ZPO).
2. Die Beschwerde des Beklagten, mit der eine Abweichung von näher be-
zeichneten Entscheidungen verschiedener Gerichte (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO)
geltend gemacht wird, hat keinen Erfolg.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist
nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet,
wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entschei-
dung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem
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in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensol-
chen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz
in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat; für die behaupte-
te Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (oder
des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes) gilt Entspre-
chendes. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung
von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung
aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen an eine Divergenzrüge
nicht (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz
310 § 133 VwGO Nr. 26 m.w.N.). Diese Darlegungsanforderungen ver-
fehlt die Beschwerde.
Soweit die Beschwerde eine Abweichung von einer Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte rügt, ist die Divergenzrüge bereits des-
halb unzulässig, weil der Gerichtshof nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
genannten Gerichten zählt.
Die Beschwerde macht unter Anführung mehrerer Entscheidungen des Bun-
desverwaltungsgerichts (Urteile vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 22.09 -
BVerwGE 138, 336 Rn. 45, vom 26. Oktober 2010 - BVerwG 1 C 18.09 -
Buchholz 402.242 § 104a AufenthG Nr. 5 Rn. 15 und vom 30. April 2009
- BVerwG 1 C 3.08 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 5 Rn. 19) geltend, die-
ses gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass minderjährige Kinder
das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern zu teilen hätten. Das Beru-
fungsgericht führe in dem angefochtenen Urteil dazu lediglich aus, dass diese
Fragestellung keiner Klärung bedürfe; dem könne nicht gefolgt werden. Auch
dieses Vorbringen führt nicht auf eine zulässige Divergenzrüge. Dabei kann
dahinstehen, ob den angeführten Entscheidungen tatsächlich ein Rechtssatz in
der von der Beschwerde behaupteten Ausnahmslosigkeit entnommen werden
kann, oder ob es sich dabei nicht um eine - sich mit zunehmendem Alter des
Kindes abschwächende - Abwägungsmaxime handelt. Denn das Berufungsge-
richt hat diesem Rechtssatz in der angefochtenen Entscheidung keinen ande-
ren Rechtssatz entgegengestellt, sondern ihn angesichts der schutzwürdigen
Integration sowohl der Ehefrau des Klägers als auch dessen minderjähriger
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Tochter im vorliegenden Fall nicht für anwendbar erachtet. Selbst wenn diese
Annahme des Berufungsgerichts - wie die Beschwerde vorträgt - in dem hier
entschiedenen Fall nicht zuträfe, wäre damit keine Abweichung im Sinne des
§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufgezeigt. Der Sache nach rügt die Beklagte ledig-
lich im Gewande der Divergenzrüge die einzelfallbezogene, den Besonderhei-
ten des Einzelfalles Rechnung tragende Rechtsanwendung des Berufungsge-
richts. Damit vermag sie jedoch nicht den Darlegungsanforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu genügen.
Des Weiteren führt die Beschwerde eine Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts (Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80,
81) dafür an, dass volljährige Kinder nicht mehr an dem aufenthaltsrechtlichen
Schicksal ihrer Eltern teilnähmen und die Beziehungen zwischen Erwachsenen
nicht ohne Weiteres den Schutz des Art. 6 GG genössen. Rein familiäre Bezie-
hungen zwischen erwachsenen Familienmitgliedern könnten, solange keine
zusätzlichen Elemente der Abhängigkeit dargelegt würden, kein Abschiebungs-
hindernis gemäß Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK begründen. Von diesen Maßstä-
ben weiche das Berufungsgericht in seinem Urteil ab. Es kann dahinstehen, ob
dieses Vorbringen den Anforderungen an eine zulässige Divergenzrüge genügt;
jedenfalls liegt keine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor.
Denn das Berufungsgericht hat die Bindungen des Klägers zu seinen erwach-
senen Kindern „… in abgeschwächter Form im Rahmen des Schutzes des Pri-
vatlebens …“ (UA S. 12 Mitte) und nicht des Familienlebens gewürdigt. Es hat
seine Entscheidung im Kern auf die schutzwürdige Verwurzelung der Ehefrau
des Klägers im Bundesgebiet (UA S. 11 f.) und den von vornherein in hohem
Maße schutzwürdigen Familienverbund zwischen dem Kläger und seiner noch
minderjährigen Tochter Z. gestützt (UA S. 12). Wenn es in seine resümierende
Gesamtabwägung (S. 13 Mitte) darüber hinaus auch die Bindungen des Klä-
gers an seine erwachsenen Kinder im Bundesgebiet einbezieht, begründet das
keine Divergenz von der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts.
Den übrigen Ausführungen der Beschwerde lässt sich kein Vorbringen entneh-
men, das den Darlegungsanforderungen an eine Abweichung gemäß § 133
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Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genügt. Das Vorbringen zu den
Divergenzrügen wirft auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
auf.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfest-
setzung folgt aus § 47 Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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