Urteil des BVerwG vom 03.11.2011

Verfahrensmangel, Polizeirecht, Vertrauensperson, Aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 WNB 4.11
TDG N 6 BLa 3/08
TDG N 6 RL 3/10
In dem Wehrbeschwerdeverfahren
hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß
am 3. November 2011 beschlossen:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulas-
sung der Rechtsbeschwerde in dem Beschluss des Trup-
pendienstgerichts Nord vom 19. Oktober 2010 wird zu-
rückgewiesen.
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G r ü n d e :
Das Ende des Wehrdienstverhältnisses des Antragstellers steht der Fortführung
des Verfahrens mit einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht entgegen (§ 15
WBO).
1. Gegen den Beschluss des Truppendienstgerichts ist die Nichtzulassungsbe-
schwerde grundsätzlich statthaft.
§ 22a Abs. 1 WBO eröffnet die Rechtsbeschwerde - nach Zulassung - ohne
jede Einschränkung als statthaften Rechtsbehelf gegen „den“ Beschluss des
Truppendienstgerichts. Die Literatur betrachtet ebenfalls alle „Entscheidungen,
die im gerichtlichen Antragsverfahren (§§ 17, 16a Abs. 5 [WBO]) ergehen“, als
statthaften Gegenstand der Rechtsbeschwerde (Dau, WBO, 5. Auflage 2009,
§ 22a Rn. 3). Eine einschränkende Auslegung dieser Rechtsnorm ist auch aus
ihrer Entstehungsgeschichte nicht geboten. Zwar wird in der Begründung der
Bundesregierung zum „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher
und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2007)“, das am 1. Fe-
bruar 2009 als Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 vom 31. Juli 2008 (BGBl I S.
1629) in Kraft getreten ist, zu § 22a WBO ausgeführt, Voraussetzung der
Rechtsbeschwerde sei die Zulassung durch das Truppendienstgericht, über die
es in der Entscheidung „über“ den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu be-
finden habe, oder die Zulassung durch das Bundesverwaltungsgericht (BT-
Drucks. 16/7955 S. 36). Soweit diese Formulierung die Interpretation nahelegt,
die Rechtsbeschwerde solle nur gegen Entscheidungen des Truppendienstge-
richts statthaft sein, in denen noch in der Sache über einen Antrag nach § 17
WBO zu urteilen ist, hat dies jedoch im Wortlaut des § 22a Abs. 1 WBO keinen
Niederschlag gefunden.
Angesichts der umfassenden und eindeutigen normativen Regelung ist auch
kein Raum für die Annahme, Einstellungs- und Kostenbeschlüsse des Trup-
pendienstgerichts nach Erledigung des Antragsverfahrens in der Hauptsache
seien gemäß § 23a Abs. 2 WBO i.V.m. § 92 Abs. 3 Satz 2 und § 158 Abs. 2
VwGO unanfechtbar. Wenn der Gesetzgeber derartige Beschlüsse des Trup-
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pendienstgerichts, in denen es gemäß § 20 Abs. 3 WBO nur noch über die Er-
stattung der notwendigen Aufwendungen entscheidet, von der Möglichkeit der
Anfechtung mit weiteren Rechtsbehelfen hätte ausschließen wollen, hätte er
insoweit im Hinblick auf den Grundsatz der Normenklarheit und auf das beson-
ders im Geltungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG zu beachtende Erfordernis der
Rechtssicherheit eine eindeutige Regelung - wie etwa in § 142 Satz 2 WDO und
in § 18 Abs. 2 Satz 5 WBO a.F. - treffen müssen. Das gilt umso mehr, als der
Gesetzgeber zeitgleich mit der Einführung der §§ 22a, 22b WBO an anderer
Stelle ausdrücklich die Unanfechtbarkeit von Beschlüssen des Truppendienst-
gerichts geregelt hat (§ 16a Abs. 5 Satz 3 WBO).
2. Die fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehene Beschwerde
hat keinen Erfolg. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche
Bedeutung (§ 22a Abs. 2 Nr. 1 WBO) kommt der Sache nicht zu. Der gemäß
§ 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor.
a) Nach der Rechtsprechung der Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsge-
richts sind an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 22b
Abs. 2 Satz 2 WBO dieselben Anforderungen zu stellen, wie sie von den Revi-
sionssenaten des Bundesverwaltungsgerichts in ständiger Rechtsprechung für
die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entwickelt worden sind (Beschlüsse vom 1. Juli 2009 - BVerwG 1 WNB
1.09 - Buchholz 450.1 § 22a WBO Nr. 1 = NZWehrr 2009, 258, vom 15. Juli
2009 - BVerwG 2 WNB 1.09 - und vom 27. Juli 2011 - BVerwG 2 WNB 5.11-).
Danach ist eine Rechtssache nur dann grundsätzlich bedeutsam im Sinne des
§ 22a Abs. 2 Nr. 1 WBO und des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn in dem ange-
strebten Rechtsbeschwerde- bzw. Revisionsverfahren die Klärung einer bisher
höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zu-
grundeliegenden Einzelfall hinausgehenden klärungsbedürftigen Rechtsfrage
zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss daher dargelegt (§ 22b
Abs. 2 Satz 2 WBO, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), das heißt, näher ausgeführt
werden (stRspr; vgl. u.a. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 -
BVerwGE 13, 90 <91> = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18), dass und inwie-
weit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse
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klärungsbedürftig und warum ihre Klärung im beabsichtigten Rechtsbeschwer-
de- bzw. Revisionsverfahren zu erwarten ist (vgl. auch Beschluss vom
24. Januar 2008 - BVerwG 6 BN 2.07 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizei-
recht Nr. 85 Rn. 14).
Die von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen,
ob für Entscheidungen nach § 20 Abs. 1 und 2 WDO (offensichtlich
gemeint: WBO) i.V.m. § 96 Abs. 8 Satz 1 SGB IX die Truppendienst-
gerichte oder in analoger Anwendung von § 2a Abs. 1 Nr. 3 ArbGG
ausschließlich die Gerichte für Arbeitssachen zuständig sind,
und
ob - falls die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nicht be-
jaht werden könne - § 96 Abs. 8 Satz 1 SGB IX als lex specialis der
Ermessensregelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 WDO (offensichtlich ge-
meint: WBO) vorgehe,
rechtfertigen nicht die Zulassung der Rechtsbeschwerde, weil sie sich in dem
angestrebten Rechtsbeschwerdeverfahren nicht stellen würden.
Im Rechtsbeschwerdeverfahren wäre die Frage des zulässigen Rechtsweges
nicht erheblich. Das Truppendienstgericht hatte als im Rechtsweg zu den
Wehrdienstgerichten angegangenes Gericht aufgrund der übereinstimmenden
Erledigungserklärungen der Beteiligten nur noch über die Erstattung der not-
wendigen Aufwendungen in dem vor ihm geführten Verfahren zu befinden. Je-
denfalls für diese Entscheidung war die Zuständigkeit des Truppendienstge-
richts gegeben. Davon ist auch der Antragsteller ausgegangen; er hat mit
Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 26. August 2009 das Truppendienst-
gericht ausdrücklich um eine Kostenentscheidung gebeten.
Im Rechtsweg zu den Wehrdienstgerichten ist nach Erledigung des Antrags auf
gerichtliche Entscheidung § 20 Abs. 3 WBO für die Entscheidung über die Er-
stattung der notwendigen Aufwendungen bzw. über die Kostenbelastung maß-
geblich. Die Vorschrift ordnet die sinngemäße Anwendung der Absätze 1 und 2
des § 20 WBO an. Diese prozessualen Aufwendungserstattungsnormen kön-
nen nach Maßgabe des § 23a Abs. 2 WBO nur durch Vorschriften der Verwal-
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tungsgerichtsordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes ergänzt werden.
Das SGB IX ist dort nicht als weiteres heranzuziehendes Gesetz genannt.
Es kommt hinzu, dass § 96 Abs. 8 Satz 1 SGB IX - anders als § 20 Abs. 3 WBO
- keine prozessuale Vorschrift über die Kostentragung enthält, sondern eine
materielle Anspruchsgrundlage, mit der der Arbeitgeber unabhängig von einem
gerichtlichen Verfahren für die durch die Tätigkeit der Schwerbehindertenvertre-
tung entstehenden Kosten in Anspruch genommen werden kann. Das ergibt
sich aus dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 30. März 2010 - 7 AZB
32/09 - (NJW 2010, 1769 = juris Rn. 6); es entspricht ebenso der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 44 Abs. 1 Satz 1 BPersVG, der
Vorbildvorschrift für § 96 Abs. 8 Satz 1 SGB IX (vgl. Beschlüsse vom 25. Juni
2009 - BVerwG 6 PB 15.09 - Buchholz 250 § 44 BPersVG Nr. 37 = NVwZ-RR
2009, 731 = juris Rn. 10 und vom 29. April 2011 - BVerwG 6 PB 21.10 -
NVwZ 2011, 1141). Der Vertrauensperson steht daher nach Maßgabe des § 96
Abs. 8 Satz 1 SGB IX ein materiell-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen den
Arbeitgeber zu, für dessen gerichtliche Durchsetzung nach der Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts (a.a.O.) das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren
Anwendung findet.
b) Die Beschwerde rügt außerdem die Versagung rechtlichen Gehörs, indem
sie geltend macht, dass die Entscheidung des Truppendienstgerichts in Nr. 3
des Tenors des Beschlusses vom 19. Oktober 2010 überraschend gekommen
sei, weil der Antrag des Antragstellers, die Kosten dem Arbeitgeber aufzuerle-
gen, zurückgewiesen worden sei. Es habe eines besonderen richterlichen Hin-
weises des Truppendienstgerichts bedurft, dass es von § 96 Abs. 8 Satz 1
SGB IX unter bevorzugter Anwendung von § 20 Abs. 2 Satz 1 WDO (offensicht-
lich gemeint: WBO) zu Lasten des Antragstellers abweichen werde. Wäre die-
ser Hinweis ergangen, hätte sich der Antragsteller auf den Beschluss des Bun-
desarbeitsgerichts vom 30. März 2010 (a.a.O.) bezogen, nach dem Rechtsstrei-
tigkeiten über die nach § 96 Abs. 8 Satz 1 SBG IX bestehende Kostentra-
gungspflicht des Arbeitgebers im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zu
entscheiden seien.
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Mit diesem Vorbringen macht die Beschwerde einen Verfahrensmangel im Sin-
ne des § 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO geltend.
Ein Verfahrensmangel liegt unter anderem dann vor, wenn der Anspruch eines
Antragstellers oder Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt wird.
Dieser in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz gilt auch im wehrbeschwer-
derechtlichen Antragsverfahren und erstreckt sich - über den Wortlaut des § 18
Abs. 2 Satz 4 WBO hinaus - auf alle für die Entscheidung maßgeblichen Sach-
fragen sowie auf die Beweisergebnisse, ferner auf entscheidungsrelevante
Rechtsfragen, wenn der Einzelfall dazu Veranlassung gibt (Beschlüsse vom
24. März 2010 - BVerwG 1 WNB 3.10 - Buchholz 450.1 § 22a WBO Nr. 4 und
vom 26. Oktober 2010 - BVerwG 1 WNB 4.10 -). Die Gewährung rechtlichen
Gehörs zu Rechtsfragen kommt unter anderem dann in Betracht, wenn ein ent-
scheidungserheblicher rechtlicher Gesichtspunkt im bisherigen Verfahren von
keinem Verfahrensbeteiligten erkannt oder angesprochen worden ist. In einem
derartigen Fall besteht zur Vermeidung eines Überraschungsurteils eine Hin-
weis- und Anhörungspflicht des Gerichts (Beschluss vom 26. Oktober 2010
- BVerwG 1 WNB 4.10 -).
Gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs hat das Truppen-
dienstgericht in dem angegriffenen Beschluss nicht verstoßen.
Die Frage der möglichen Anwendung des § 96 Abs. 8 Satz 1 SGB IX hat der
Antragsteller im Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 30. Oktober 2009
selbst thematisiert. Damit hatte er den rechtlichen Gesichtspunkt dieser Vor-
schrift in das Verfahren vor dem Truppendienstgericht eingeführt. Mit seiner
Gehörsrüge verkennt der Antragsteller, das Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich
nicht verlangt, dass das Gericht vor seiner Entscheidung auf seine Rechtsauf-
fassung hinweist; dem Gericht obliegt insoweit auch keine allgemeine Frage-
und Aufklärungspflicht (BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 -
BVerfGE 84, 188 = NJW 1991, 2823; BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober
2010 - BVerwG 1 WNB 4.10 -). Deshalb ist das Gericht nicht gehalten, unter
dem Blickwinkel der Gewährung rechtlichen Gehörs seine die Entscheidung
tragende Rechtsauffassung schon vor der Urteils- oder Beschlussberatung im
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Einzelnen festzulegen und den Beteiligten zur Erörterung bekannt zu geben
(Beschlüsse vom 24. Januar 1991 - BVerwG 8 B 164.90 - Buchholz 316 § 54
VwVfG Nr. 6, vom 23. Oktober 2008 - BVerwG 4 B 30.08 - BauR 2009, 233 und
vom 26. Oktober 2010 - BVerwG 1 WNB 4.10 -).
3. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers kommt
nicht in Betracht (§ 22b Abs. 1 Satz 2, § 22a Abs. 5 Satz 2, § 21 Abs. 2 Satz 1,
§ 20 Abs. 1 WBO).
Golze Dr. Frentz Rothfuß
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