Urteil des BVerwG vom 30.11.2009

Zustellung, Verfahrensmangel, Bekanntgabe, Rechtsschutz

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 WNB 2.09
TDG S 6 BLa 03/08
TDG S 6 GL 14/09
In dem Wehrbeschwerdeverfahren
des Sprechers der Vertrauenspersonenversammlung der ...kaserne,
hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer
am 30. November 2009 beschlossen:
Der Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 27.
Januar 2009 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Truppendienstgericht Süd
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
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G r ü n d e :
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde in dem
Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 27. Januar 2009 ist zulässig (1.)
und begründet (2.). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses
und zur Zurückverweisung der Sache an das Truppendienstgericht (3.).
1. Nach § 22b Abs. 1 Satz 1 WBO steht dem Beschwerdeführer bei
Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde durch das Truppendienstgericht die
Nichtzulassungsbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zu. Zwar ist
diese durch Art. 5 Nr. 18 des Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und
anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 - WehrRÄndG 2008)
vom 31. Juli 2008 (BGBl I S. 1629) in die Wehrbeschwerdeordnung eingefügte
Vorschrift erst am 1. Februar 2009 in Kraft getreten (Art. 18 Abs. 2 WehrRÄndG
2008), während der angefochtene Beschluss bereits am 27. Januar 2009
ergangen ist. Der Beschluss wurde aber erst mit seiner Zustellung am 4. März
2009 und damit nach Inkrafttreten des § 22b WBO n.F. wirksam. Da in dem
Beschluss die Rechtsbeschwerde (§ 22a WBO n.F.) nicht zugelassen wurde,
liegen die Voraussetzungen des § 22b Abs. 1 Satz 1 WBO vor. Nachdem das
Truppendienstgericht der Beschwerde mit Beschluss vom 9. Juli 2009 nicht
abgeholfen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht in der Besetzung ohne
ehrenamtliche Richter durch Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde
zu entscheiden (§ 22b Abs. 4 Satz 1 WBO).
2. Die Beschwerde ist auch begründet.
a) Sie wendet sich dagegen, dass das Truppendienstgericht den Antrag auf
gerichtliche Entscheidung wegen Versäumung der Antragsfrist als unzulässig
zurückgewiesen hat. Damit wird der Sache nach ein Verfahrensmangel geltend
gemacht, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO).
Wird nämlich eine Klage oder ein Rechtsmittel fehlerhaft als unzulässig
verworfen, obwohl das Gericht durch Sachurteil hätte entscheiden müssen, liegt
nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein
Verfahrensmangel vor (vgl. Beschlüsse vom 4. Juli 1968 - BVerwG 8 B 110.67 -
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BVerwGE 30, 111 <113> m.w.N., vom 19. Dezember 1994 - BVerwG 5 B 79.94
- NJW 1995, 2121 = juris Rn. 7, vom 14. August 1997 - BVerwG 8 B 27.97 -
und vom 28. Juli 2005 - BVerwG 8 B 51.05 -; Pietzner in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Oktober 2008 § 132 Rn. 89; Kopp/Schenke,
VwGO, 16. Aufl. 2009, § 132 Rn. 21).
b) Das Truppendienstgericht hat zu Unrecht angenommen, der Antrag auf
gerichtliche Entscheidung sei verspätet bei dem für die Entgegennahme des
Antrags zuständigen nächsten Disziplinarvorgesetzten (§ 17 Abs. 4 Satz 2
WBO in der hier noch anzuwendenden bis zum 31. Januar 2009 gültigen
Fassung; jetzt § 17 Abs. 4 Satz 3 WBO n.F.) eingegangen.
Nach § 17 Abs. 4 Satz 1 WBO a.F. war der Antrag innerhalb von zwei Wochen
nach Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides einzureichen. Der Bescheid
des Kommandeurs des ...kommandos ... und Standortältesten ... vom 8. Juli
2008, mit dem die weitere Beschwerde vom 31. März 2008 zurückgewiesen
wurde, ist dem Antragsteller ausweislich des Empfangsscheins am 14. Juli
2008 zugestellt worden. Der unter dem 28. Juli 2008 verfasste Antrag auf
Entscheidung des Truppendienstgerichts, der noch am selben Tag bei dem
Kompaniechef der 1./...bataillon ... eingegangen ist, war daher rechtzeitig, weil
die Zwei-Wochen-Frist des § 17 Abs. 4 Satz 1 WBO a.F. an diesem Tag ablief.
Entgegen der Ansicht des Truppendienstgerichts und des Bundesministers der
Verteidigung - PSZ I 7 - begann die Frist nicht bereits am 8. Juli 2008. An
diesem Tag ist dem Antragsteller der Bescheid vom 8. Juli 2008 „per Telefax
vorab“ übersandt worden. Nach § 17 Abs. 4 Satz 1 WBO a.F. begann die Frist
mit der Bekanntgabe des ablehnenden Bescheids. Wie der Bescheid
bekanntzugeben ist, folgt aus § 16 Abs. 4 i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 3 WBO in der
Fassung des Art. 2 Abs. 9 des Gesetzes vom 12. August 2005 (BGBl I S.
2354). Danach ist der Bescheid über die weitere Beschwerde dem
Beschwerdeführer nach den Vorschriften der Wehrdisziplinarordnung
zuzustellen. Insoweit bestimmt § 5 Abs. 1 WDO, dass die Zustellungen
ausgeführt werden durch Übergabe an den Empfänger gegen
Empfangsbekenntnis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 WDO), durch eingeschriebenen Brief mit
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Rückschein (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 WDO), nach den Vorschriften der
Zivilprozessordnung über die Zustellung von Amts wegen (§ 5 Abs. 1 Nr. 3
WDO) oder an Behörden und Dienststellen auch durch Vorlage der Akten mit
den Urschriften der zuzustellenden Schriftstücke (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 WDO). Die
Übersendung des Bescheides per Telefax erfüllt keine dieser Zustellarten.
Insbesondere liegt kein Fall des § 174 Abs. 2 ZPO vor, weil der Antragsteller
nicht zu dem in § 174 Abs. 1 ZPO genannten Personenkreis gehört.
Auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 WDO sind nicht gegeben. Danach
gilt ein Schriftstück spätestens zu dem Zeitpunkt als zugestellt, zu dem der
Empfangsberechtigte es nachweislich erhalten hat. Voraussetzung ist
demnach, dass der Empfangsberechtigte das zuzustellende Schriftstück
erhalten hat. Zuzustellen war hier das Original des Beschwerdebescheides vom
8. Juli 2007. Erhalten hat der Antragsteller per Telefax aber lediglich eine Kopie
dieses Schriftstücks. Das zuzustellende Schriftstück hat er tatsächlich erst am
14. Juli 2008 erhalten. Die Kenntnis vom Inhalt des zuzustellenden
Schriftstücks, wie sie hier ohne Weiteres durch Übersendung per Telefax dem
Antragsteller vermittelt wurde, reicht allein für die Fiktion der Zustellung nach §
5 Abs. 3 WDO nicht aus (vgl. auch Dau, WDO, 5. Aufl. 2009, § 5 Rn. 24 f.).
3. Da hier ein geltend gemachter Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die
Entscheidung des Truppendienstgerichts beruhen kann (§ 22a Abs. 2 Nr. 3
WBO), kann der Senat statt die Rechtsbeschwerde zuzulassen auch die
angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das Truppendienstgericht zurückverweisen.
Zwar sieht § 22b WBO eine solche Entscheidung nicht ausdrücklich vor. Die
Regelung ist aber, wie § 23a Abs. 2 WBO zeigt, nicht abschließend. Vielmehr
wird in § 23a Abs. 2 WBO u.a. für Verfahren „nach den §§ 22a und 22b“
ergänzend auf die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung verwiesen.
Nach § 133 Abs. 6 VwGO kann das Bundesverwaltungsgericht, wenn die
Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (Verfahrensmangel) vorliegen,
in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene
Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung zurückverweisen. Der entsprechenden Anwendung dieser
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Vorschrift auf das Verfahren nach § 22b WBO steht die Eigenart des
Beschwerdeverfahrens nicht entgegen (§ 23a Abs. 2 a.E. WBO), die
insbesondere darin besteht, dass sich Beschwerdeführerin und
Beschwerdeführer sowie Betroffene - anders als Klägerin und Kläger sowie
Beklagte und Beklagter im Verwaltungsstreitverfahren - nicht als Parteien
gegenüberstehen (vgl. die Begründung zu § 23a Abs. 2 WBO - BRDrucks
226/07 S. 65). Auch der Zweck des § 133 Abs. 6 VwGO, das
Revisionsverfahren zu vereinfachen und den Rechtsschutz zu beschleunigen
(vgl. Pietzner, a.a.O. § 133 Rn. 86 unter Hinweis auf BTDrucks 11/7030 S. 34)
ist auf das Verfahren nach den §§ 22a und 22b WBO anwendbar. Andernfalls
müsste der Senat die Rechtsbeschwerde zulassen, der Beschwerdeführer
diese anschließend innerhalb eines Monats begründen (§ 22b Abs. 5 Satz 2
WBO), wobei sich die Begründung ohne Weiteres aus der Begründung des der
Nichtzulassungsbeschwerde stattgebenden Beschlusses ergibt, und der Senat
sodann nach § 22a Abs. 6 Satz 2 WBO erneut entscheiden. Auch diese
Entscheidung wird im Falle eines erheblichen Verfahrensmangels regelmäßig
zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Truppendienstgerichts
und zur Zurückverweisung der Sache führen. Die Regelung des § 133 Abs. 6
VwGO ist daher im Verfahren nach § 22b WBO entsprechend anwendbar.
Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der
Möglichkeit des § 23a Abs. 2 WBO i.V.m. § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.
Golze Dr. Frentz Dr. Langer
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Wehrbeschwerdeverfahrensrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
WBO § 22a Abs. 2 Nr. 3, § 22b, § 23a Abs. 2
WBO a.F. § 12 Abs. 1 Satz 3, § 16 Abs. 4, § 17 Abs. 4 Satz 1
WDO § 5 Abs. 1 und 3
VwGO § 133 Abs. 6
ZPO § 174
Stichworte:
Nichtzulassungsbeschwerde; Durchentscheidung; Antrag auf gerichtliche
Entscheidung; Fristbeginn; Zustellung; Übersendung „per Telefax vorab“
Leitsätze:
Die Frist zur Einlegung eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung nach § 17
Abs. 4 Satz 1 WBO beginnt nicht schon durch eine Übermittlung des
Beschwerdebescheides „per Telefax vorab“.
Die Vorschrift des § 133 Abs. 6 VwGO ist im Verfahren nach § 22b WBO
entsprechend anwendbar.
Beschluss des 1. Wehrdienstsenats vom 30. November 2009 - BVerwG 1 WNB
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