Urteil des BVerwG vom 22.11.2011

Slv, Widerruf, Strafverfahren, Bindungswirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 WB 24.11
In dem Wehrbeschwerdeverfahren
des Herrn Hauptgefreiten …,
…,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte …,
… -
hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß,
den ehrenamtlichen Richter Oberstleutnant Strehl und
den ehrenamtlichen Richter Oberstabsgefreiter Kneitz
am 22. November 2011 beschlossen:
Der Bescheid des Personalamts der Bundeswehr vom
19. Juli 2010 und der Beschwerdebescheid des Bundes-
ministers der Verteidigung vom 26. Januar 2011 werden
aufgehoben.
Die dem Antragsteller im Verfahren vor dem Bundesver-
waltungsgericht einschließlich der im vorgerichtlichen Ver-
fahren erwachsenen notwendigen Aufwendungen werden
dem Bund auferlegt.
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G r ü n d e :
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Der Antragsteller wendet sich gegen den Bescheid des Personalamts der Bun-
deswehr vom 19. Juli 2010, mit dem es die am 28. Mai 2010 zum 1. Juli 2010
verfügte Übernahme des Antragstellers als Offizieranwärter in die Laufbahn der
Offiziere des Truppendienstes aufgehoben und ihn bis zum 1. April 2013 von
der Einstellung in diese Laufbahn ausgeschlossen hat.
Der 1986 geborene Antragsteller ist seit dem 1. August 2009 Soldat auf Zeit;
seine auf vier Jahre festgesetzte Dienstzeit wird mit Ablauf des 31. Dezember
2011 enden. Zum 1. Januar 2009 erfolgte seine Ernennung zum Hauptgefrei-
ten. Seit dem 1. April 2008 wird er bei der … in L. verwendet.
Mit Übernahmebescheid vom 28. Mai 2010 stellte das Personalamt fest, dass
der Antragsteller das Annahmeverfahren für die Laufbahn der Offiziere des
Truppendienstes erfolgreich abgeschlossen habe, und erklärte, er werde zum
1. Juli 2010 als Offizieranwärter im Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit
übernommen und in den Ausbildungsgang mit Studium eingestellt. Das Perso-
nalamt ordnete den Antragsteller dem ... Offizieranwärterjahrgang 07/10 in der
Truppengattung … zu und teilte ihm den geplanten Ausbildungsablauf mit. Er-
gänzend heißt es im Übernahmebescheid:
„Die vorstehende Planung kann nur auf Grundlage der
zum derzeitigen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse über
Ihre persönliche und körperliche Eignung erfolgen.
Darüber hinaus erfolgt die Einplanung in die Truppengat-
tung unter dem Vorbehalt des nach Abschluss der Ausbil-
dung vorhandenen Bedarfs der Streitkräfte. Die endgültige
Zuordnung zu einer Truppengattung erfolgt im letzten Stu-
dienjahr. Daraus folgt, dass zu beidem bis zum Zeitpunkt
der Einstellung oder Übernahme in die Laufbahn der Offi-
ziere des Truppendienstes, vor oder nach Beginn der
Ausbildung Veränderungen eintreten können, die eine Än-
derung der derzeitigen Planung erforderlich machen.“
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Am 29. Juni 2010 teilte die Stammdienststelle der Bundeswehr dem Personal-
amt (Offizierbewerberprüfzentrale - Dezernat Einplanung/Einstellung/Verwen-
dungsberatung) mit, dass gegen den Antragsteller disziplinare Vorermittlungen
eingeleitet worden seien. Dem lag zugrunde, dass die Staatsanwaltschaft …
beim Amtsgericht … den Erlass eines Strafbefehls beantragt hatte, in welchem
dem Antragsteller als „Erschleichen von Leistungen“ gemäß § 265a Abs. 1 und
3 StGB zur Last gelegt wurde, dass er am 7. September 2009 um 04.47 Uhr
den Zug Nr. 81302 der NordWestBahn und erneut am 21. September 2009 um
06.50 Uhr den Zug Nr. 81310 der NordWestBahn jeweils von … nach … be-
nutzt habe, ohne im Besitz des erforderlichen Fahrausweises zum Preis von
10,30 € zu sein. Das Strafverfahren stellte das Amtsgericht … durch Beschluss
vom 8. März 2010 (Az.: 04 Cs 169 Js 65699/09 <9/10>) gemäß § 153a Abs. 2
StPO gegen Zahlung einer Auflage in Höhe von 1 250 € für die Dauer von
sechs Monaten vorläufig ein. Nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft … vom
26. Oktober 2010 an die zuständige Wehrdisziplinaranwaltschaft wurde das
Strafverfahren nach Zahlung der Auflage endgültig eingestellt.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. Juli 2010 hob das Personalamt den
Übernahmebescheid vom 28. Mai 2010 auf und schloss den Antragsteller bis
zum 1. April 2013 von einer Einstellung in die Laufbahn der Offiziere des Trup-
pendienstes aus. Zur Begründung führte es aus, der Rechtsberater des Perso-
nalamts habe geprüft, ob die Strafsache als Einstellungshinderungsgrund im
Sinne der geltenden Vorschriften zu werten sei. Das habe der Rechtsberater
mit Entscheidung vom 8. Juli 2010 bejaht. Das Personalamt wies den Antrag-
steller darauf hin, dass er mit Ablauf des 20. April 2011 das 25. Lebensjahr voll-
ende und somit zum nächstmöglichen Übernahmetermin nicht mehr über die
Einstellungsvoraussetzungen für die Laufbahn der Offiziere des Truppendiens-
tes verfüge.
Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller mit Schreiben vom 27. Juli 2010
Beschwerde ein und machte mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom
22. November 2010 geltend, die beiden Schwarzfahrten seien bereits im An-
nahmeverfahren für die Offizierlaufbahn aktenkundig gewesen. Die Entschei-
dung sei ermessensmissbräuchlich, weil sich der befristete Ausschluss von der
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Einstellung in die Offizierlaufbahn in seinem Fall wegen Überschreitens der Al-
tersgrenze als endgültiger Ausschluss auswirke. Das Personalamt habe den
geringeren Unrechtsgehalt seiner Schwarzfahrten verkannt. Er habe unglückli-
cherweise zwei Mal kurz hintereinander den erforderlichen Geldbetrag für die
Bahnfahrt nicht bereit gehabt und beim ersten Mal vom Zugschaffner die Aus-
kunft erhalten, mit der Zahlung von 40 € sei die Sache erledigt. Aufgrund dieser
irreführenden Auskunft habe er sich beim zweiten Mal entschlossen, die Fahrt
anzutreten, um nicht zu spät zum Dienst zu kommen. Zu seinen Gunsten seien
die förmliche Anerkennung vom 11. Dezember 2008 und die ihm am 16. Okto-
ber 2009 gewährte Leistungsprämie zu berücksichtigen.
Die Beschwerde wies der Bundesminister der Verteidigung - PSZ I 7 - mit Be-
schwerdebescheid vom 26. Januar 2011 mit der Begründung zurück, Soldaten
auf Zeit in der Laufbahngruppe der Mannschaften könnten gemäß Nr. 605 ZDv
20/7 i.V.m. § 6 Abs. 2 SLV nur bei entsprechender Eignung, Leistung und Befä-
higung in die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes übernommen wer-
den. Angesichts der vom Antragsteller - in der Dienstzeit - begangenen Strafta-
ten, mit denen er sich persönlich um die Beförderungsleistung habe bereichern
wollen und das Vermögen des Beförderungsunternehmens nicht geachtet habe,
sei das Personalamt nicht gehindert gewesen, Bedenken hinsichtlich seiner
uneingeschränkten charakterlichen Eignung für die Offizierlaufbahn anzuneh-
men. Die positive Bewertung des Antragstellers durch eine Psychologin im An-
nahmeverfahren ändere daran nichts. Den guten Leistungen des Antragstellers
sei dadurch Rechnung getragen worden, dass kein dauerhaftes Übernahme-
hindernis ausgesprochen worden sei. Aus Gründen der Gleichbehandlung mit
vergleichbar gelagerten Fällen sei eine Verkürzung der Übernahmefrist auf we-
niger als drei Jahre nicht in Betracht gekommen.
Gegen diese ihm am 2. Februar 2011 eröffnete Entscheidung hat der Antrag-
steller mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 1. März 2011 die Entschei-
dung des Bundesverwaltungsgerichts beantragt. Den Antrag hat der Bundesmi-
nister der Verteidigung - PSZ I 7 - mit seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2011
dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
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Zur Begründung seines Rechtsschutzbegehrens trägt der Antragsteller ergän-
zend insbesondere vor:
Es sei nicht durch ein rechtskräftiges strafgerichtliches Urteil festgestellt wor-
den, dass er Leistungen der NordWestBahn erschlichen habe. Er habe hinsicht-
lich dieses Straftatbestandes ohne Vorsatz gehandelt. In der NordWestBahn
werde - anders als im Nahverkehr mit U- und S-Bahnen - das Vorhandensein
eines Fahrscheins regelmäßig durch Schaffner im Zug überprüft. Ein Fahr-
schein könne auch bei diesem Schaffner noch erworben werden. Am 7. Sep-
tember 2009 und am 21. September 2009 habe er in Kenntnis der Kontrolle
durch einen Schaffner und der Möglichkeit der Einlösung eines Fahrscheins bei
ihm die Bahn genutzt. Da er an beiden Tagen vor Fahrtantritt die Fahrscheine
nicht mehr habe beschaffen können, habe er den Schaffner bei den Kontrollen
darüber informiert, noch einen Fahrschein zu benötigen. Bei der Kontrolle am
7. September 2009 habe er festgestellt, nicht genügend Bargeld und auch keine
EC-Karte bei sich zu haben. Nach der Information des Schaffners, dass der
Vorfall außer der Verpflichtung zum erhöhten Beförderungsentgelt keine weite-
ren Konsequenzen habe, sei er auch am 21. September 2009 bei der Feststel-
lung nicht ausreichender Zahlungsmittel davon ausgegangen, dass die Zahlung
des erhöhten Fahrpreises auf Rechnung eine zusätzliche Form der Zahlung
ohne weitere Konsequenzen darstelle. Ihm sei allenfalls Fahrlässigkeit bezüg-
lich des Fehlens ausreichender Barschaft anzulasten. Er habe stets das Entgelt
entrichten wollen. Es sei willkürlich, ihm wegen der beiden Vorfälle die Eignung
für die Offizierlaufbahn abzusprechen.
Der Antragsteller beantragt
die Entscheidung, dass die Aufhebung des Übernahme-
bescheids des Personalamts der Bundeswehr vom
28. Mai 2010 zum Einstellungstermin 1. Juli 2010 in die
Truppengattung … mit Bescheid des Personalamts der
Bundeswehr vom 19. Juli 2010 rechtswidrig war,
und demgemäß,
den Bescheid des Personalamts der Bundeswehr vom
19. Juli 2010 in der Gestalt des Beschwerdebescheids
vom 26. Januar 2011 aufzuheben.
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Der Bundesminister der Verteidigung beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er verteidigt den Inhalt seines Beschwerdebescheids und hat mitgeteilt, dass
der angefochtene Aufhebungsbescheid des Personalamts auf § 49 Abs. 2 Nr. 1
2. Alt. VwVfG beruhe. Die Übernahmeentscheidung vom 28. Mai 2010 habe
unter dem Vorbehalt der persönlichen Eignung des Antragstellers gestanden.
Die Offizierbewerberprüfzentrale beim Personalamt habe im Zeitpunkt dieser
Entscheidung keine Kenntnis von dem Strafverfahren gehabt.
Hinsichtlich der beiden Vorfälle hat der Befehlshaber des … mit Entscheidung
vom 19. November 2010 unter Absehen von der Einleitung eines gerichtlichen
Disziplinarverfahrens festgestellt, dass der Antragsteller ein Dienstvergehen
begangen hat. Den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung
hat die 4. Kammer des Truppendienstgerichts Nord mit Beschluss vom 27. Juli
2011 (Az.: …) zurückgewiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Ak-
ten Bezug genommen. Die Beschwerdeakte des Bundesministers der Verteidi-
gung - PSZ I 7 - … -, die Akte des Personalamts der Bundeswehr - RB … - und
die Personalgrundakte des Antragstellers haben dem Senat bei der Beratung
vorgelegen.
II
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat Erfolg.
1. Der Aufhebungsantrag ist zulässig.
Zwar könnte der im Schriftsatz vom 1. März 2011 zuerst gestellte Sachantrag
auf „Entscheidung“, dass die Aufhebung des Übernahmebescheids vom 28. Mai
2010 durch den Bescheid vom 19. Juli 2010 rechtswidrig war, als diesbezügli-
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cher Feststellungsantrag und Hauptantrag des Antragstellers zu verstehen sein.
Der Antragsteller hat aber durch die nachfolgende Formulierung des Aufhe-
bungsantrags („es wird demgemäß beantragt…“) unmissverständlich zum Aus-
druck gebracht, dass er vorrangig den Gestaltungsantrag stellt, den Bescheid
des Personalamts vom 19. Juli 2010 und den Beschwerdebescheid vom
26. Januar 2011 aufzuheben. Angesichts dessen kommt dem als Feststel-
lungsantrag auszulegenden ersten Sachantrag mit Rücksicht auf die Subsidiari-
tätsklausel (§ 23a Abs. 2 WBO i.V.m. § 43 Abs. 2 VwGO) keine selbständige
Bedeutung zu.
Der Aufhebungsantrag hat sich nicht dadurch erledigt, dass der für den Antrag-
steller im Übernahmebescheid festgelegte Übernahmetermin des 1. Juli 2010
schon im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 19. Juli 2010 verstrichen
war. Zwar werden die übernommenen bzw. zugelassenen Offizieranwärter nach
Maßgabe der Nr. 944 ZDv 20/7 in einem Offizieranwärterjahrgang bzw. einer
Offizieranwärtercrew zusammengefasst und durchlaufen den vorgesehenen
Ausbildungsgang gemeinsam. Ob deswegen eine nachträgliche Einsteuerung
des Antragstellers in den ... Offizieranwärterjahrgang 07/10 nicht mehr möglich
ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Gegebenenfalls müsste zunächst eine
Entscheidung nach Nrn. 946, 947 ZDv 20/7 herbeigeführt werden. Der Bun-
desminister der Verteidigung hat weder im vorgerichtlichen noch im gerichtli-
chen Verfahren geltend gemacht, dass die Umsetzung und Vollziehung des
Übernahmebescheids nach Ablauf des Übernahmetermins ausgeschlossen sei
und deshalb nur noch ein Fortsetzungsfeststellungsantrag in Betracht käme.
Ob dem Antragsteller in diesem Zusammenhang die für bewerber
(§ 6 Abs. 2 Satz 1 SLV) lediglich im Erlasswege in Nr. 605 i.V.m. Nr. 601 ZDv
20/7 geregelte Höchstaltersgrenze des vollendeten 25. Lebensjahres ent-
gegengehalten werden kann, ist im Hinblick auf die Entscheidung des Senats,
dass Höchstaltersgrenzen für den vertikalen Laufbahnwechsel von Soldaten
einer normativen Grundlage bedürfen und nicht lediglich durch Verwaltungsvor-
schriften festgelegt werden dürfen, rechtlich zweifelhaft (vgl. Beschluss vom
20. September 2011 - BVerwG 1 WB 48.10 - Rn. 29 bis 37).
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2. Der Antrag ist begründet.
Der Bescheid des Personalamts vom 19. Juli 2010 ist - auch in der Gestalt des
Beschwerdebescheids des Bundesministers der Verteidigung vom 26. Januar
2011 - rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Die Be-
scheide sind deshalb aufzuheben (§ 21 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 19 Abs. 1 Satz 1
WBO).
Bei dem hier vorliegenden Anfechtungsantrag ist maßgeblich für die rechtliche
Überprüfung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Vorlage des Verfah-
rens durch den Bundesminister der Verteidigung an den Senat (stRspr, vgl. z.B.
Beschlüsse vom 30. Juli 1980 - BVerwG 1 WB 57.78 - BVerwGE 73, 48 und
vom 11. Juni 1996 - BVerwG 1 WB 31.95 -).
a) Die angefochtene Aufhebungsentscheidung ist auf § 49 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt.
VwVfG gestützt. § 23a WBO schließt nach der Rechtsprechung des Senats die
Anwendung einzelner materiellrechtlicher Regelungen des Verwaltungsverfah-
rensgesetzes im Wehrbeschwerdeverfahren nicht aus (Beschluss vom 7. Juli
2009 - BVerwG 1 WB 51.08 - Buchholz 449 § 3 SG Nr. 53 Rn. 26). Danach
kann ein rechtmäßiger, begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er un-
anfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft wider-
rufen werden, wenn der Widerruf im Verwaltungsakt vorbehalten ist. Vorausset-
zung ist, dass der Widerruf auf Grund eines Vorbehalts im Sinne des § 36
Abs. 2 Nr. 3 VwVfG in dem zu widerrufenden Verwaltungsakt selbst zugelassen
worden ist, oder dass der Widerrufsvorbehalt durch Verweisung oder Bezug-
nahme auf Richtlinien, die dem Betroffenen bekanntgegeben worden sind, un-
missverständlich zum Bestandteil des Verwaltungsakts gemacht wurde (Urteil
vom 21. November 1986 - BVerwG 8 C 33.84 - Buchholz 316 § 49 VwVfG
Nr. 9; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 49 Rn. 35). Der oben im Ab-
schnitt I aus dem Übernahmebescheid vom 28. Mai 2010 zitierte Text ist in die-
sem Sinn als Widerrufsvorbehalt auszulegen. Darin hat sich das Personalamt
eine „Änderung der derzeitigen Planung“ unter anderem für den Fall neuer Er-
kenntnisse über die persönliche und körperliche Eignung des Antragstellers
vorbehalten. Bei der erforderlichen Interpretation dieser Formulierung nach ih-
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rem objektiven Erklärungsinhalt (zu diesem maßgeblichen Auslegungskriterium
im Einzelnen: Beschlüsse vom 27. Februar 2003 - BVerwG 1 WB 51.02 - Buch-
holz 402.8 § 5 SÜG Nr. 15 S. 28 a.E. und vom 6. April 2005 - BVerwG 1 WB
67.04 - BVerwGE 123, 165 = Buchholz 236.1 § 15 SG Nr. 2) ist damit nicht nur
eine Änderung der angekündigten Verwendung als Offizieranwärter für die
Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes gemeint, sondern auch die völlige
Aufgabe dieser Planung durch Widerruf der Übernahmeentscheidung. Der Hin-
weis auf die „zum derzeitigen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse“ als Pla-
nungsgrundlage kann sachgerecht nur so verstanden werden, dass das Perso-
nalamt damit zum Ausdruck bringen wollte, es habe seine Übernahmeentschei-
dung auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse getroffen. Damit er-
streckte sich der Widerrufsvorbehalt auch auf Umstände und Erkenntnisse aus
der Zeit vor der Übernahmeentscheidung, die dem Personalamt aber erst nach-
träglich bekannt geworden sind.
b) Der Widerruf des Übernahmebescheids vom 28. Mai 2010 wird mit aufgetre-
tenen Zweifeln an der Eignung des Antragstellers für die Offizierlaufbahn be-
gründet. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Soldat im Sinne des § 6 Abs. 2
Satz 1 SLV (der sinngemäß neben der Befähigung auch die Eignung des Be-
werbers für den Laufbahnwechsel verlangt: Dolpp/Weniger, SLV, 7. Aufl. 2009,
§ 6 Rn. 610, 611) i.V.m. Nr. 605 ZDv 20/7 die erforderliche Eignung als Anwär-
ter für die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes aufweist oder vermissen
lässt, steht der zuständigen personalbearbeitenden Stelle ein Beurteilungsspiel-
raum zu (stRspr, vgl. z.B. Beschluss vom 11. Dezember 2003 - BVerwG 1 WB
24.03 - Buchholz 236.110 § 6 SLV 2002 Nr. 1). Die gerichtliche Kontrolle ist
insoweit auf die Prüfung beschränkt, ob die zuständige Stelle den anzuwen-
denden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen
kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen oder unvollständigen Sach-
verhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sach-
fremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen
hat. Für die Beurteilung der (prognostischen) Frage, ob und inwieweit ein Soldat
die für eine Laufbahn zu stellenden Anforderungen erfüllt bzw. erfüllen wird, ob
er sich für die vorgesehene Verwendung - hier als Offizier - eignet oder nicht
(mehr) eignet, sind neben seiner fachlichen Qualifikation seine persönlichen,
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d.h. insbesondere auch seine charakterlichen Eigenschaften maßgebend (vgl.
Beschluss vom 14. Juni 2006 - BVerwG 1 WB 8.06 - Rn. 22 = NZWehrr 2006,
246).
Das Personalamt hat die charakterliche Eignung des Antragstellers unter Hin-
weis auf „diese Strafsache“ in Frage gestellt. Der Rechtsberater des Personal-
amts hat in seiner Entscheidung vom 8. Juli 2010 lediglich in einem Formular
die Rubrik „befristetes Einstellungshindernis“ angekreuzt und „Keine Einstellung
vor dem 01.04.2013“ vermerkt. Der Bundesminister der Verteidigung hat im Be-
schwerdebescheid auf vom Antragsteller „begangene Straftaten“ abgestellt und
diese als wesentlich für die getroffene Aufhebungsentscheidung bezeichnet. In
beiden Bescheiden werden jedoch keine Feststellungen zu einem konkreten
Sachverhalt getroffen, die den sicheren Schluss darauf zuließen, dass der An-
tragsteller in der ihm vorgehaltenen Weise schuldhaft strafbar gehandelt und
Leistungen eines Beförderungsunternehmens erschlichen hätte. Der Senat ist
deshalb außerstande zu überprüfen, ob das Personalamt bzw. der Bundesmi-
nister der Verteidigung hinsichtlich der beiden strittigen Vorfälle von einem rich-
tigen, insbesondere von einem vollständig erfassten Sachverhalt ausgegangen
sind. Erst auf der Grundlage eines richtig und vollständig erfassten Sachver-
halts kann das Wehrdienstgericht dann weiter kontrollieren, ob die Grenzen des
Beurteilungsspielraums eingehalten oder überschritten sind. Da die Feststellung
des Sachverhalts, der der Eignungsprognose zugrunde liegen soll, im Rahmen
des Beurteilungsspielraums dem Personalamt als der zuständigen Stelle ob-
liegt, ist der Senat daran gehindert, insoweit eigene Feststellungen zu treffen
(vgl. Beschluss vom 14. Juni 2006 a.a.O. Rn. 23).
Hinsichtlich der strittigen Vorfälle liegen keine im vorliegenden Verfahren „bin-
denden“ tatsächlichen Feststellungen durch ein Strafgericht vor. Die Einstellung
des Strafverfahrens gegen den Antragsteller durch das Amtsgericht … gegen
Zahlung einer Geldauflage nach § 153a Abs. 2 StPO stellt zwar keinen Frei-
spruch mangels Beweises dar, sondern dient der vereinfachten Verfahrenserle-
digung bei Vergehen (vgl. - auch zum Folgenden -: Beschlüsse vom 14. Juni
2006 a.a.O. Rn. 25 und vom 26. Juni 2007 - BVerwG 1 WB 59.06 - Buchholz
402.8 § 5 SÜG Nr. 21 Rn. 27 jeweils m.w.N.). Andererseits ist die Unschulds-
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vermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK bei einer Einstellung des Strafverfahrens
nach § 153a Abs. 2 StPO nicht widerlegt. Mit einer Einstellungsentscheidung
nach § 153a Abs. 2 StPO wird keine Entscheidung darüber getroffen, ob der
Beschuldigte die ihm durch die Anklage vorgeworfene Tat begangen hat oder
nicht. Diese Einstellungsentscheidung setzt keinen Nachweis der Tat voraus.
Aus einem Einstellungsbeschluss nach § 153a Abs. 2 StPO und auch aus einer
dabei abgegebenen Zustimmungserklärung des Beschuldigten darf nicht ge-
schlossen werden, die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat sei ihm in tatbe-
standlicher Hinsicht nachgewiesen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Januar
1991 - 1 BvR 1326/90 - NJW 1991, 1530 = juris Rn. 19 f.).
Damit fehlt ein Urteil eines Strafgerichts, das nach der Rechtsprechung des Se-
nats grundsätzlich in der Weise bindend ist, dass der Umstand der Verurteilung
oder des Freispruchs (als solcher) im Rahmen der Rechtskraft des Urteils auch
für Verfahren über die truppendienstliche Verwendung eines Soldaten feststeht;
der Beurteilung in diesen Verfahren können die in den Gründen eines Straf-
urteils getroffenen tatsächlichen Feststellungen zugrunde gelegt werden, sofern
nicht besondere Umstände zu Zweifeln an der Richtigkeit dieser Feststellungen
und damit zu eigenen Sachverhaltsermittlungen der für die Verwendungsent-
scheidung zuständigen Stelle Anlass geben (Beschluss vom 11. März 2008
- BVerwG 1 WB 37.07 - BVerwGE 130, 291 = Buchholz 402.8 § 14 SÜG Nr. 14
jeweils Rn. 28).
Der Entscheidung des Befehlshabers des … vom 19. November 2010 kommt
eine Bindungswirkung hinsichtlich der Sachverhaltsfeststellungen nicht zu. Le-
diglich ein im gerichtlichen Disziplinarverfahren ergangenes Urteil eines Wehr-
dienstgerichts steht dem Urteil eines Strafgerichts hinsichtlich der möglichen
Bindungswirkung gleich (Beschluss vom 11. März 2008 a.a.O. Rn. 29). Es kann
offen bleiben, ob diese Bindungswirkung auch von einem Beschluss des Trup-
pendienstgerichts in einem Antragsverfahren nach § 92 Abs. 4 WDO ausgehen
kann. Denn der Beschluss des Truppendienstgerichts vom 27. Juli 2011 ist erst
nach der Vorlage des Verfahrens an den Senat ergangen und somit nicht mehr
zu berücksichtigen.
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Danach hätte das Personalamt eigene Feststellungen zu den strittigen Vorfällen
treffen und dabei auch die Vernehmung des Antragstellers vom 9. Februar 2010
auswerten müssen, in der dieser erklärt hat, er habe sich vor Fahrtantritt dafür
entschieden, dass das pünktliche Erscheinen zum Dienst Vorrang habe, und er
„sei davon ausgegangen“, dass er lediglich das erhöhte Beförderungsgeld zah-
len müsse. Diese Äußerung könnte den Schluss rechtfertigen, dass der Antrag-
steller grundsätzlich zur Zahlung des Beförderungsentgelts bereit war.
c) Auf der Basis fehlender konkreter Feststellungen zum Sachverhalt kann vom
Senat auch nicht festgestellt werden, dass die erforderliche Ermessensent-
scheidung rechtmäßig wäre. Insoweit ist auf Folgendes hinzuweisen:
Das Personalamt hat in seinem Bescheid nicht erkennen lassen, dass und in
welcher Weise es überhaupt Ermessenserwägungen - unabhängig von
dem Votum des Rechtsberaters - angestellt hat. Die im Beschwerdebescheid
dargestellten Ermessenserwägungen tragen dem aus dem Rechtsstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der im Üb-
rigen als Ausprägung eines allgemeingültigen Wertmaßstabes auch den eig-
nungsbezogenen Beurteilungsspielraum einschränkt, nicht hinreichend Rech-
nung. Eine wesentliche Komponente dieses Grundsatzes ist die Proportionali-
tät. Sie setzt voraus, dass eine Maßnahme oder Beeinträchtigung nicht außer
Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen darf, dass sie bei einer Gesamtbewer-
tung angemessen und deshalb für den Betroffenen zumutbar sein muss. Zur
Prüfung dieser Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sind neben einer Abwä-
gung aller relevanten Belange insbesondere auch die Besonderheiten des Ein-
zelfalls zu berücksichtigen (Beschluss vom 15. Juli 2008 - BVerwG 1 WDS-VR
11.08 - Buchholz 449 § 3 SG Nr. 46 Rn. 28 f.).
Der Einzelfall des Antragstellers ist dadurch gekennzeichnet, dass schon das
Personalamt nicht von der endgültigen Nichteignung des Antragstellers für die
Offizierlaufbahn ausgegangen ist. Da aus Sicht des Personalamts im Fall des
Antragstellers auch die Überschreitung der Höchstaltersgrenze der Nr. 601 ZDv
20/7 bevorstand, war eine besonders sorgfältige Abwägung vor der Aufhebung
des Übernahmebescheids und der Anordnung des lediglich befristeten Aus-
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schlusses von der Übernahme geboten. Ferner hat der Befehlshaber des … im
Fall des Antragstellers die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 WDO für die zu-
sätzliche Verhängung einer Disziplinarmaßnahme trotz Einstellung des Straf-
verfahrens noch nicht als gegeben erachtet. Im Rahmen der Ermessensaus-
übung hätte außerdem berücksichtigt werden müssen, dass die Einleitung von
Ermittlungen durch die Wehrdisziplinaranwaltschaft zumindest der Stamm-
dienststelle der Bundeswehr, als der für den Antragsteller zuständigen perso-
nalbearbeitenden Stelle, schon im Februar 2010 bekannt war. Das hat der An-
tragsteller auch seinerseits geltend gemacht und vorgetragen, die strittigen Vor-
fälle seien bereits im Annahmeverfahren „aktenkundig“ gewesen. Schließlich ist
angesichts unzureichender Aufklärung des Sachverhalts nicht hinreichend si-
cher, dass sich der Antragsteller tatsächlich - wie im Beschwerdebescheid be-
tont wird - eigennützig und persönlich um die Beförderungsleistung hat berei-
chern wollen. Die angefochtene Entscheidung erweist sich deshalb als ermes-
sensfehlerhaft.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 21 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 20 Abs. 1
Satz 1 WBO.
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