Urteil des BVerwG vom 15.07.2002

Änderung des Gesundheitszustandes, Körperliche Untersuchung, Psychische Krankheit, Bedingter Vorsatz

H I N W E I S
Beschlüsse und Urteile der Disziplinarsenate und der Wehrdienstsenate des Bun-
desverwaltungsgerichts - ebenso wie die Entscheidungen des ehemaligen Bundes-
disziplinarhofs und des Bundesdisziplinargerichts - ergehen in einem Verfahren, in
dem kraft Gesetzes im Interesse der Betroffenen die Öffentlichkeit in der Regel aus-
geschlossen ist. In den Verfahren wird regelmäßig auch der Inhalt der nicht-
öffentlichen Personalakten erörtert und bei den Entscheidungen berücksichtigt. Zum
Schutz berechtigter Interessen der betroffenen Personen und Dienststellen bedürfen
die Entscheidungen daher vertraulicher Behandlung.
Eine Veröffentlichung der Entscheidungen wird im Allgemeinen nur auszugsweise in
Betracht kommen. Falls Sie eine Veröffentlichung beabsichtigen, empfiehlt es sich,
über die Fassung ein Einvernehmen mit dem Vorsitzenden des Disziplinarsenats
herbeizuführen.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
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BESCHLUSS
BVerwG 1 DB 7.02
BDiG VIII BK 7/01
In dem Beschwerdeverfahren
der Technischen Fernmeldeobersekretärin ... ,
...,
Antragstellerin
und Beschwerdeführerin,
- Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwälte ...,
... -
g e g e n
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die
Deutsche Telekom AG, diese vertreten durch den Leiter
der Technikniederlassung ..., ...,
Antragsgegnerin
und Beschwerdegegnerin,
Beteiligter:
Der Bundesdisziplinaranwalt,
wegen Feststellung des Verlustes der Dienstbezüge,
hat der 1. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juli 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
A l b e r s , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
H e e r e n und den Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
- 3 -
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den
Beschluss des Bundesdisziplinargerichts,
Kammer VIII - ... -, vom 8. November 2001
wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
G r ü n d e :
I.
1. Der Leiter der Technikniederlassung M. der Deutschen Telekom
AG stellte mit Verfügung vom 11. Mai 2001 gemäß § 9 BBesG den
Verlust der Dienstbezüge der Antragstellerin für die Zeit vom
6. bis 12. Juni 2000 und seit dem 14. Juni 2000 wegen schuld-
haft ungenehmigten Fernbleibens vom Dienst fest. Zur Begründung
war ausgeführt, die Antragstellerin könne sich für ihre Dienst-
versäumnis nicht mit Erfolg auf privatärztliche Atteste beru-
fen. Bereits das amtsärztliche Gutachten des Gesundheitsamtes
des Landkreises U. vom 17. Mai 2000 habe ihre Dienstfähigkeit
festgestellt. Daraufhin sei die Antragstellerin aufgefordert
worden, ihren Dienst wieder aufzunehmen. Der Aufforderung habe
sie zwar an zwei Tagen Folge geleistet, sich ab 14. Juni 2000
aber wieder krankgemeldet. Sie sei darauf hingewiesen worden,
dass privatärztliche Krankschreibungen nicht mehr anerkannt
würden. Auch ein zweites amtsärztliches Gutachten vom 30. April
2001 bestätige, dass keine relevante Änderung des Gesundheits-
zustandes eingetreten sei, die zu einer Dienstunfähigkeit ge-
führt habe.
2. Gegen den Verlustfeststellungsbescheid hat die Antragstelle-
rin Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und geltend
gemacht, sie sei während des gesamten festgestellten Zeitraums
arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Sie hat Bescheinigungen des
sie behandelnden Hausarztes Dr. G., der Hautärzte Dr. W. und
Dipl. med. Wi., der Neurologen und Psychiater Dr. T. und To.
und des HNO-Arztes P. vorgelegt, aus denen sich Krankheitsdiag-
nosen ergäben, die ihre Arbeitsunfähigkeit belegten. Die amts-
ärztlichen Feststellungen sowie die des vom Gesundheitsamt be-
- 4 -
auftragten Nervenarztes Prof. Dr. V. seien nicht geeignet, die
privatärztlichen Befunde zu entkräften. Die Begutachtungen
durch Prof. Dr. V. seien nicht sachgemäß durchgeführt worden.
3. Das Bundesdisziplinargericht hat mit Beschluss vom 8. Novem-
ber 2001 den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben, als
darin der Verlust der Dienstbezüge der Antragstellerin für die
Zeiträume vom 6. bis 12. Juni 2000 und vom 14. Juni 2000 bis
Ende Mai 2001 festgestellt wird. Im Übrigen wurde der Bescheid
aufrechterhalten.
Zur Begründung für die teilweise Aufhebung des Bescheides
stützt sich das Gericht auf den Umstand, dass der Antragstelle-
rin für den Zeitraum bis zur Zustellung des zweiten amtsärztli-
chen Gutachtens ein schuldhaftes Verhalten nicht vorgeworfen
werden könne. Nachdem die Antragstellerin einen Arbeitsversuch
Anfang Juni 2000 wegen privatärztlich bescheinigter Beschwerden
abbrach, habe sie ohne Verschulden an ihre Dienstunfähigkeit
glauben dürfen. Dies habe sich jedoch geändert, nachdem ihr im
Mai 2001 die amtsärztliche Stellungnahme vom 30. April 2001 zu-
gegangen sei, die sich auch auf eine erneute Untersuchung der
Antragstellerin durch den Nervenarzt Prof. Dr. V. gestützt ha-
be. Sie sei daher jedenfalls vom 1. Juni 2001 an verpflichtet
gewesen, ihren Dienst wieder aufzunehmen.
Die Antragstellerin könne sich nicht mit Erfolg auf die von ih-
ren Verfahrensbevollmächtigten vorgelegten Bescheinigungen der
sie behandelnden Ärzte berufen. Aus den Bescheinigungen des
Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G., der Hautärzte Dr. W.
und Dipl. med. Wi. sowie des HNO-Arztes P. ergebe sich zwar,
dass die Antragstellerin an Gesundheitsstörungen leide, nicht
jedoch dass sie dienstunfähig sei. Gegenüber der Bescheinigung
der Neurologen und Psychiater Dr. T. und To., wonach bei der
Antragstellerin ein chronifizierter Erkrankungszustand vorlie-
ge, sei der entgegenstehenden amtsärztlichen Beurteilung vom
30. April 2001 der Vorzug zu geben; denn amtsärztlichen Beur-
teilungen komme nach der Rechtsprechung gegenüber privatärztli-
- 5 -
chen Bescheinigungen ein größerer Beweiswert zu. Das Gericht
habe keinen Zweifel daran, dass die Antragstellerin auch von
dem von der Amtsärztin beauftragten Nervenarzt Prof. Dr. V. im
fachlich erforderlichen Umfang untersucht worden sei.
4. Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin Beschwerde
eingelegt und sie im Wesentlichen wie folgt begründet: Die An-
nahme schuldhaften Handelns durch das Bundesdisziplinargericht
seit 1. Juni 2001 sei nicht gerechtfertigt. Die Antragstellerin
sei auch nach Vorlage des zweiten amtsärztlichen Gutachtens
nicht von ihrer Dienstfähigkeit ausgegangen; denn alle sie be-
handelnden Fachärzte seien übereinstimmend der Auffassung gewe-
sen, dass die Einschätzung der Amtsärztin vorliegend unzutref-
fend sei. Darauf habe die Antragstellerin vertrauen dürfen. Der
medizinischen Bewertung der behandelnden Fachärzte sei auch in
der Sache zu folgen. Es bestehe begründeter Anlass, an der Neu-
tralität, Unabhängigkeit und dem speziellen Sachverstand der
Amtsärztin im vorliegenden Fall zu zweifeln. So sei der Antrag-
stellerin fachärztlich eine Hauterkrankung attestiert worden.
Seitens der Amtsärztin bzw. des von ihr herangezogenen
Prof. Dr. V. werde demgegenüber behauptet, dass diese Hautzu-
stände inszeniert seien, was eine medizinisch absolut unrichti-
ge Wertung darstelle. Im Übrigen habe die Amtsärztin keinen Ge-
hörtest veranlasst, obwohl ihr die Feststellungen des privaten
HNO-Arztes zu Gehörbeeinträchtigungen der Antragstellerin be-
kannt waren. Dass die Antragstellerin zur Dienstleistung außer
Stande gewesen sei, ergebe sich auch aus dem Befundbericht des
Psychotherapeuten A. vom 17. April 2002, bei dem sie seit Sep-
tember 2001 in ständiger psychotherapeutischer Behandlung sei.
Der Senat hat Auskünfte bei der Antragsgegnerin, bei der Amt-
särztin des Landkreises U. und über die Amtsärztin bei dem Ner-
venarzt Prof. Dr. V. eingeholt.
- 6 -
II.
Die nach § 85 BDG i.V.m. § 121 Abs. 5 BDO zulässige Beschwerde
ist unbegründet. Die Feststellung des Verlustes der Dienstbezü-
ge der Antragstellerin seit dem 1. Juni 2001 erweist sich als
rechtmäßig.
Nach § 9 Satz 1 BBesG verliert eine Beamtin, die ohne Genehmi-
gung dem Dienst schuldhaft fernbleibt, für die Zeit des Fern-
bleibens ihre Dienstbezüge. Der Verlust der Dienstbezüge ist
nach § 9 Satz 3 BBesG vom Dienstvorgesetzten festzustellen.
Dies ist vorliegend erfolgt.
1. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Antragstellerin je-
denfalls seit dem 1. Juni 2001 dienstfähig war. Dies folgt aus
den amtsärztlichen Gutachten vom 17. Mai 2000 und 30. April
2001 i.V.m. den nervenfachärztlichen Gutachten des Prof. Dr. V.
vom 10. Mai 2000 und 19. Februar 2001.
a) Der ehemalige Leiter des Niedersächsischen Landeskrankenhau-
ses L., Nervenarzt Prof. Dr. V., hat die Antragstellerin auf-
grund einer Beauftragung durch die Amtsärztin Dr. G. am
5. April 2000 und am 15. Februar 2001 untersucht. Als Ergebnis
seiner zweistündigen Untersuchung kommt Prof. Dr. V. in seinem
ausführlich begründetem zwölfseitigen nervenärztlichen Gutach-
ten vom 10. Mai 2000 zu dem Ergebnis, dass bei der Antragstel-
lerin keine Dienstunfähigkeit vorliege, sie vielmehr ihren
Dienst sofort wieder aufnehmen könne.
In dem Gutachten wird die Krankheitsvorgeschichte der Antrag-
stellerin geschildert, eine Eigenanamnese, soziale Anamnese und
spezifische Anamnese der gesundheitlichen Beschwerden erhoben
und das Ergebnis ihrer körperlichen Untersuchung sowie ihres
psychischen Status dargestellt. Dabei habe die körperliche Un-
tersuchung - abgesehen vom Übergewicht und Kratzspuren auf der
Haut - keinen belangvollen körperlichen Befund erbracht.
Prof. Dr. V. konnte auch bei der neurologischen Untersuchung
- 7 -
keine krankhaften Befundabweichungen feststellen. Hinsichtlich
des psychischen Status der Antragstellerin kommt er zu dem Er-
gebnis, auch "eine relevante psychische Krankheit" sei "sicher
nicht vorhanden".
Dabei hat der Nervenarzt ausführlich die Lebensgeschichte der
Antragstellerin gewürdigt, die ihre ersten beiden Lebensjahre
in einem Kinderheim verbracht habe und dann gemeinsam mit ihrer
älteren Halbschwester zunächst von der Großmutter erzogen wor-
den sei. Dargestellt wird auch das enge symbiotische Verhältnis
der unverheirateten Antragstellerin zu ihrer mittlerweile er-
krankten 65-jährigen Mutter. An ihrem Arbeitsplatz bei der Te-
lekom sei die Antragstellerin mit ihrer Bürotätigkeit in der
Planungsabteilung für fernmeldetechnische Einrichtungen ("das
war mein Traum") zunächst recht zufrieden gewesen. Ängste hät-
ten sich bei ihr erst eingestellt, als es im Rahmen von be-
trieblichen Umorganisierungen zu Stellenkündigungen mit dem Ri-
siko der Versetzung kam. Das Befürchtete sei 1998 eingetreten,
als ein Kollege mit schwangerer Ehefrau in dem Sinne vorgezogen
wurde, dass der Kelch der Versetzung an ihm vorüberging und
stattdessen nur die Antragstellerin zur Disposition gestanden
habe, weil die von ihr vorgetragene Pflegebedürftigkeit der
Mutter keine Berücksichtigung mehr fand. Daraufhin habe die An-
tragstellerin - wie sie Prof. Dr. V. in "verblüffender Offen-
heit" geschildert habe - erst mal krankgemacht. Als sie im Juni
1998 wieder gesundgeschrieben worden war, habe sich die Situa-
tion erst einmal wieder zu ihren Gunsten insofern verändert,
als sie zunächst in U. in einem Büro mit Kabelplänen befasst
verbleiben konnte. Allerdings sei ihr immer wieder in alle zwei
Wochen stattfindenden Besprechungen mit dem Personalvorgesetz-
ten die Notwendigkeit nahe gelegt worden, sich umzuorientieren.
Diese ständigen Besprechungen hätten bei ihr zu Angst, Unruhe-
zuständen und nächtlichen Alpträumen geführt, so dass sie seit
Mitte 1999 häufig krankgeschrieben gewesen sei.
Der Nervenarzt Prof. Dr. V. sieht unter Würdigung der von ihm
durchgeführten erneuten Untersuchung und des Gesprächs mit der
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Antragstellerin jedoch "keinerlei Symptome, die auf eine psy-
chische oder gar körperliche Beeinträchtigung schließen lie-
ßen". Die Antragstellerin sei bewusstseinsklar und allseitig
orientiert gewesen. Sie habe zusammenhängend über ihre Vorge-
schichte berichtet. Zwar habe sie "in geradezu aufdringlicher
Weise" auf ihrer Position beharrt, dass sie "völlig fertig und
mit den Nerven total unten" sei. Im längeren Gespräch mit
Prof. Dr. V. seien aber keinerlei Zeichen einer vorzeitigen Er-
müdbarkeit oder gar Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen
aufgetreten. Ihr Denken sei formal und inhaltlich - abgesehen
von der sehr bewussten Fixierung auf "die Nerven" - ungestört
gewesen. Stimmungsmäßig habe sie keineswegs depressiv, eher
aufgekratzt und kämpferisch gewirkt. Für das Vorhandensein pro-
duktiv psychotischer Symptome wie Sinnestäuschungen oder Wahn-
ideen habe sich keinerlei Anhalt ergeben. Prof. Dr. V. wertet
die Äußerungen und Verhaltensweisen der Antragstellerin in sei-
nem Gutachten vom 10. Mai 2000 dahin, dass bei ihr eine be-
wusstseinsnahe (regressive) Fehlhaltung vorliege, die sie mit
gar nicht allzu großer Willensanstrengung überwinden könne.
Die Amtsärztin Dr. G. hat sich in ihrer Stellungnahme vom
17. Mai 2000 der Einschätzung des Nervenarztes unter Hervorhe-
bung der aus ihrer Sicht maßgeblichen Aussagen angeschlossen.
Auch sie kommt unter Würdigung ihrer eigenen körperlichen Un-
tersuchung und der nervenärztlichen Begutachtung zu dem Ergeb-
nis, dass die Antragstellerin dienstfähig sei und ihren Dienst
sofort wieder aufnehmen könne.
Aufgrund einer erneuten Untersuchung der Antragstellerin vom
15. Februar 2001 kam der Nervenarzt Prof. Dr. V. zu keinem an-
deren Ergebnis. In seinem achtseitigen Gutachten vom 19. Feb-
ruar 2001 legt er dar, dass abgesehen von einer weiteren Ge-
wichtszunahme um 7 kg, die "beinahe bulimische Züge" trage,
blutigen Kratzspuren auf der Haut und einer geklagten Beein-
trächtigung des Gehörs linksseitig keine relevanten Befundände-
rungen vorlägen. Die Antragstellerin sei wiederum bewusstseins-
klar und allseitig orientiert gewesen.
- 9 -
In der Begegnung mit dem Gutachter sei sie hingegen misstrau-
isch gewesen, habe auch "deutlich herabgestimmt" gewirkt und
signalisiert, dass er - obwohl Professor der Psychiatrie - sie
doch nicht verstehe. Sie sei vorgeblich nicht in der Lage, ihre
behaupteten psychischen Konflikte zu schildern. Prof. Dr. V.
kam erneut zu dem Ergebnis, die Antragstellerin sei keineswegs
depressiv, sondern "forciert und kämpferisch auf die Wahrung
ihrer Interessen bedacht". Für das Vorhandensein produktiv psy-
chotischer Symptome habe sich erneut keinerlei Anhalt ergeben.
Eine tatsächliche schwere Krankheit, die eine Dienstunfähigkeit
bedingen könnte, liege bei der Antragstellerin nicht vor. Es
handele sich vielmehr um eine bewusstseinsnahe regressive Fehl-
haltung mit Begehrungstendenzen, die durch jahrelange nicht ge-
rechtfertigte Krankschreibungen erheblich gefördert und ver-
stärkt worden sei.
Die Amtsärztin Dr. G. hat sich in ihrer Stellungnahme vom
30. April 2001 dem nervenärztlichen Gutachten des Prof. Dr. V.
unter Hervorhebung der aus ihrer Sicht zentralen Aussagen ange-
schlossen. Unter Einbeziehung ihrer eigenen Untersuchung vom
November 2000 sowie einer Rücksprache mit dem die Antragstelle-
rin behandelnden HNO-Arzt P. kommt sie zu folgendem Ergebnis:
"1. Gegenüber dem Vorgutachten ist eine wesentliche Ände-
rung des Gesundheitszustandes auf psychiatrischem Ge-
biet nicht eingetreten, wobei allerdings eine Verstär-
kung der demonstrativen Komponente zu verzeichnen ist.
HNO-ärztlicherseits wurde eine mittelgradige Innenohr-
schwerhörigkeit festgestellt. Eine Versorgung mit Hör-
geräten wäre möglich, ist auf Wunsch der Patientin je-
doch nicht erfolgt. Bei geplantem Einsatz in einem
Call-Center sollte die oben angeführte zusätzliche Un-
tersuchung durchgeführt werden.
2. Die Beamtin ist zum Zeitpunkt der Untersuchung im Ge-
sundheitsamt und beim nervenärztlichen Gutachter nicht
dienstunfähig."
- 10 -
b) Der Senat misst der Stellungnahme eines Amtsarztes hohen Be-
weiswert zu, sofern seine Stellungnahme - wie vorliegend - in
sich schlüssig, nachvollziehbar und begründet ist. Kommen amts-
ärztliche Stellungnahmen einerseits und privatärztliche Atteste
andererseits hinsichtlich desselben Krankheitsbildes mit Blick
auf die Dienstfähigkeit eines Beamten zu unterschiedlichen Er-
gebnissen, kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats den
Feststellungen des Amtsarztes grundsätzlich größerer Beweiswert
zu (vgl. Beschluss vom 13. November 2001 - BVerwG 1 DB 30.01 -
m.w.N.). Hierfür ist unter anderem die größere Erfahrung eines
Amtsarztes bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit von Beamten
maßgebend. Für Gutachten, in denen Fragen des Dienstrechts aus
medizinischer Sicht zu beurteilen sind, ist ein spezieller zu-
sätzlicher Sachverstand erforderlich, der einerseits auf der
Kenntnis der Belange der öffentlichen Verwaltung, andererseits
auf der Erfahrung aus einer Vielzahl von gleich oder ähnlich
liegenden Fällen beruht. Ob und wann einer Gesundheitsstörung
Krankheitswert zukommt, mag ein Privatarzt, zumal ein Facharzt,
besser beurteilen können. Ob und wann hingegen eine Störung mit
Krankheitswert die Dienstfähigkeit beeinträchtigt, ist eine
Frage, deren Entscheidung vorrangig dem Amtsarzt zusteht.
Hinzu kommt die besondere Unabhängigkeit der Amtsärzte gegen-
über Privatinteressen. Die Amtsärzte sind als Beschäftigte des
öffentlichen Dienstes an Gesetz und Recht gebunden und als Me-
diziner den Regeln der ärztlichen Heilkunst verpflichtet. Im
Rahmen dieser Regeln erstatten sie ihre Gutachten unabhängig
und frei von Weisungen der sie beauftragenden Behörden oder mit
öffentlichen Befugnissen ausgestatteten Unternehmen. Die Stel-
lung der Amtsärzte gewährleistet insofern ein hohes Maß an Ob-
jektivität, das zu ihrer besonderen Sachkunde im Hinblick auf
die Belange der öffentlichen Verwaltung hinzukommt. Allerdings
genießen amtsärztliche Beurteilungen nicht stets einen Vorrang
gegenüber entgegenstehenden privatärztlichen Feststellungen.
Hat der private Arzt im Einzelnen dargelegt, aus welchen Grün-
den er die Dienstunfähigkeit eines Beamten annimmt, sind diese
- 11 -
Darlegungen dem Amtsarzt bekannt und will er gleichwohl die
Dienstfähigkeit feststellen, so ist er gehalten, sich mit den
entgegenstehenden Erwägungen des privaten Arztes auseinander zu
setzen und darzulegen, warum er diesen nicht folgt (vgl. Be-
schluss vom 8. März 2001 - BVerwG 1 DB 8.01 - DVBl 2001, 1079 =
DÖV 2001, 735 = ZBR 2001, 297).
c) Auch unter Berücksichtigung der Anforderungen der Rechtspre-
chung ist im vorliegenden Fall der amtsärztlichen Beurteilung
zu folgen.
Der Amtsärztin Dr. G. waren bei ihren Begutachtungen am
17. Mai 2000 und 30. April 2001 die privatärztlichen Diagnosen
bekannt. Bei der ersten Begutachtung gab die Antragstellerin
psychische und psychosoziale Gründe (Betreuung der Mutter) für
ihre gesundheitlichen Probleme an, mit denen sich die Amtsärz-
tin in ihrem Gutachten kurz aber hinreichend auseinander ge-
setzt hat. Für eine umfangreichere Darlegung bestand kein An-
lass, da die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt noch keine
inhaltlich substantiierten privatärztlichen Bescheinigungen
vorgelegt hatte. In ihrem Gutachten vom 30. April 2001 hat
sich die Amtsärztin mit den Hörbeschwerden der Antragstellerin
auseinander gesetzt, den behandelnden HNO-Arzt konsultiert und
den Befund bei ihrer Empfehlung berücksichtigt, die Antrag-
stellerin bei einem geplanten Einsatz in einem Call-Center er-
neut fachärztlich zu untersuchen. Dies war jedoch nicht erfor-
derlich, da für die Antragstellerin - wie sich aus der Antwort
der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2002 auf eine entsprechende
Anfrage des Senats ergab - ein Arbeitsplatz in der Planungs-
gruppe vorgesehen war, bei dem sie die attestierte mittelgra-
dige Innenohrschwerhörigkeit nicht behindert hätte.
Auch der von der Amtsärztin beauftragte Leiter des Niedersäch-
sischen Landeskrankenhauses L. Prof. Dr. V. bezieht sich in
seinem Gutachten vom 19. Februar 2001 auf privatärztliche Be-
funde der Nervenärzte Dr. T. und To. sowie Dr. D. Er legt dar,
warum er die von den Privatärzten verordnete medikamentöse Be-
- 12 -
handlung mit zahlreichen Psychopharmaka ablehnt, weil dies zu
einer großen Abhängigkeitsgefahr führe, die Abkapselung von
der Umwelt durch Reaktionsverlangsamung begünstige und nach
längerem Gebrauch auch zu Schmerzen am ganzen Körper führen
könne, wie sie bei der Antragstellerin in Gestalt von geklag-
ten Verspannungen und Kopfschmerzen geschildert wurden.
Schließlich hat sich die Amtsärztin auf Ersuchen des Senats
auch mit den nach Gutachtenerstattung vorgelegten privatärzt-
lichen Attesten des Dr. G., der Hautärzte Dr. W. und
Dipl. med. Wi. sowie des HNO-Arztes P. auseinander gesetzt. In
ihrer Stellungnahme vom 21. Mai 2002 geht sie auf deren Diag-
nosen im Einzelnen ein, ohne ihre Einschätzung zur Dienstfä-
higkeit zu ändern. Auf die Diagnose der Innenohrschwerhörig-
keit kommt es nach dem Ergebnis der Senatsanfrage nicht mehr
an, weil der Antragstellerin ein Arbeitsplatz zur Verfügung
steht, bei dem diese gesundheitliche Beeinträchtigung die Auf-
gabenerfüllung nicht hindert. Die attestierten Hautveränderun-
gen, der Bluthochdruck und die Diabetes begründen nach Angaben
der Amtsärztin keine Dienstunfähigkeit, was in den privatärzt-
lichen Bescheinigungen selbst auch gar nicht behauptet wird.
Auch der Nervenarzt Prof. Dr. V. hat sich auf Anfrage des Se-
nats mit den nach seiner Gutachtenerstattung erstellten Attes-
ten der Neurologen und Psychiater Dr. T. und To. vom 6. Juni
2001 und des Psychotherapeuten Dipl. Psych. A. vom 17. April
2002 auseinander gesetzt. In ihrem Attest vom 6. Juni 2001 be-
scheinigten Dr. T. und To. der Antragstellerin ein depressives
angstbesetztes Zustandsbild mit wiederholt auftretenden Kri-
senzuständen, die mit latenter Selbstmordgefährdung und akuter
Erregung einhergingen. Bei der Patientin liege ein chronifi-
zierter Erkrankungszustand vor, bei dem sie eine "gewinnbrin-
gende Tätigkeit" nicht ausüben könne. Der Psychotherapeut
Dipl. Psych. A. schildert die Persönlichkeitsentwicklung der
Antragstellerin zunächst ähnlich wie Prof. Dr. V. in dessen
ersten Gutachten. Die symbiotische Beziehung mit der Mutter
bildet den Lebensmittelpunkt. Der Gedanke, dass die Mutter ei-
- 13 -
nes Tages sterben werde, versetze die Antragstellerin in
Angst. Veränderungen, die das Zusammenleben mit der Mutter ge-
fährden könnten, erlebe sie als bedrohlich und beängstigend.
In der Familie, in der neben ihr und der Mutter auch die älte-
re Schwester mit ihren drei minderjährigen Söhnen lebe, habe
die Antragstellerin die Rolle des Chefs und Managers übernom-
men, sei dort diszipliniert wo die Schwester chaotisch sei und
kümmere sich um alles. Vor dem Hintergrund eines derart auf
Erhaltung des Status quo geprägten Beziehungsgefüges werde die
massive subjektive Bedrohung nachvollziehbar, die von einer
angekündigten Versetzung ausgegangen sei. Der Psychotherapeut
hält die Prognose, ob die Antragstellerin "mittelfristig die
Erwerbstätigkeit wiedererlangen könne" für ungünstig. Er be-
gründet das mit der "Chronifizierung des Störungsbildes", mit
auch während der bisherigen Psychotherapie "persistierender
Symptomatik", der Diagnose einer depressiven Persönlichkeits-
störung und den "in der Lebenssituation gegebenen Belastun-
gen".
In seiner Stellungnahme vom 27. Mai 2002 bemerkt der Nerven-
arzt Prof. Dr. V. zur Bescheinigung der Ärztin für Neurologie
und Psychiatrie To. zutreffend an, sie zähle nur Beschwerden
auf, ohne Überlegungen über ihr Zustandekommen anzustellen.
Der Senat folgt dem Gutachter in seiner Einschätzung, die Pri-
vatärztin habe die Ursachen für die von ihr geschilderten Kri-
senzustände, Angststörungen und Depressionen nicht dargelegt.
Deshalb stellt es eine ausreichende Auseinandersetzung mit ih-
rer Diagnose dar, wenn der von der Amtsärztin beauftragte Gut-
achter die Mängel ihrer abweichenden Ausführungen aufzeigt und
sich auf seine früheren ausführlichen Gutachten bezieht. In
diesen hatte er nachvollziehbar dargelegt, warum bei der An-
tragstellerin keine Angstzustände und Depressionen von Krank-
heitswert vorliegen. Hierfür war als Argument insbesondere das
selbstbewusste Auftreten der Antragstellerin überzeugend, das
als kämpferisch auf die Wahrnehmung ihrer Interessen ausge-
richtet geschildert wird, woraus entsprechend den Ausführungen
in den Gutachten und für den Senat nachvollziehbar ein Zustand
- 14 -
der Depression ausgeschlossen werden kann.
Prof. Dr. V. hat auch überzeugend dargelegt, dass seine Beur-
teilung auf zwei gewissenhaften ausführlichen Untersuchungen
der Antragstellerin beruht, was für den Senat schon aus der
Qualität seiner umfangreichen schriftlichen Gutachten ersicht-
lich ist.
Mit dem Befundbericht des Psychotherapeuten Dipl. Psych. A.
setzt sich Prof. Dr. V. detailliert auseinander. Er weist dar-
auf hin, dass die darin unter dem Abschnitt "Symptomatik" ge-
schilderte Angst der Beamtin vor dem Alleinsein, insbesondere
ohne die Mutter, ein absolutes Novum darstelle. Bisher sei von
der Pflegebedürftigkeit der Mutter, also davon die Rede gewe-
sen, dass die Mutter die Tochter brauche. Jetzt solle es von
Anfang an genau umgekehrt gewesen sein. Als noch erstaunlicher
und ebenso neu sieht der Gutachter an, dass die Antragstelle-
rin arbeitsmäßig "bis an die Grenze gegangen" und "schließlich
dekompensiert" sei, wohingegen sie gegenüber Prof. Dr. V. bei
der ersten Untersuchung durchaus glaubhaft und auch in aller
Offenheit ihren Ärger über die bevorstehende Versetzung be-
richtete, wie auch ihre Reaktion schilderte, dass sie "erst
mal krank gemacht" habe. Die weiteren Ausführungen des Diplom-
psychologen A., auch die ausführlich dargestellte Lebensge-
schichte der bevorzugten Schwester der Antragstellerin, stün-
den der Diagnose von Prof. Dr. V. nicht entgegen. Erneut weist
der Gutachter auf den Widerspruch hin, dass nicht einerseits
eine depressive Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden
könne, andererseits die Antragstellerin trotz aller angebli-
chen Ängste die Rolle des "Chefs" und "Managers" in der Fami-
lie habe übernehmen können. Letztlich werde in dem Privatgut-
achten nur das Übliche an Lebenslast und Querelen geschildert,
an dem die Antragstellerin nicht mehr leide als andere Men-
schen auch.
2. Die Antragstellerin ist dem Dienst seit dem 1. Juni 2001
auch schuldhaft, und zwar jedenfalls mit bedingtem Vorsatz,
- 15 -
ferngeblieben. Wie das erstinstanzliche Gericht überzeugend
dargelegt hat, musste die Antragstellerin spätestens nach Zu-
gang der amtsärztlichen Stellungnahme vom 30. April 2001 davon
ausgehen, dass ihre neuerlichen privatärztlichen Krankschrei-
bungen nicht mehr akzeptiert würden und sie tatsächlich
dienstfähig war. Indem sie trotz Kenntnis der amtsärztlichen
Stellungnahme und der vielfältigen ihr erteilten eindeutigen
Belehrungen weiterhin dem Dienst fernblieb, nahm sie zumindest
billigend in Kauf, dass sich letztlich ihre Dienstfähigkeit
erweisen könnte. Dies wurde der Antragstellerin durch den an-
gefochtenen Bescheid vom 11. Mai 2001 über die Feststellung
des Verlustes der Dienstbezüge verdeutlicht. In diesem der An-
tragstellerin im Verlauf des Monats Mai zugegangenen Bescheid
wird noch einmal klar zum Ausdruck gebracht, dass die Antrags-
gegnerin aufgrund zweier amtsärztlicher Gutachten von der
Dienstfähigkeit der Antragstellerin ausging und entgegenste-
hende privatärztliche Atteste nicht mehr akzeptierte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 114 Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 3 BBO.
Albers Heeren Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Feststellung des Verlustes der Dienstbezüge Fachpresse: nein
Rechtsquellen:
BBesG § 9
BDO § 121
Stichworte:
Ungenehmigtes schuldhaftes Fernbleiben vom Dienst; Feststellung
des Verlustes der Dienstbezüge; Vorrang amtsärztlicher Fest-
stellungen gegenüber privatärztlichen Beurteilungen (modifi-
zierte Begründung); Anforderung an die amtsärztlichen Feststel-
lungen, wenn privatärztliche Beurteilung den Feststellungen des
Amtsarztes substantiiert widersprechen; bedingter Vorsatz; un-
begründete Beschwerde der Beamtin.
Beschluss des 1. Disziplinarsenats vom 15. Juli 2002
- BVerwG 1 DB 7.02 -
I. BDiG, Kammer VIII - ... -, vom 08.11.2001
- Az.: BDiG VIII BK 7/01 -