Urteil des BVerwG vom 04.11.2003

Einstellung des Verfahrens, Innere Medizin, Behandelnder Arzt, Psychische Störung

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BESCHLUSS
BVerwG 1 D 8.02
BDiG XVI VL 16/01
In dem Disziplinarverfahren
g e g e n
den Ersten Polizeihauptkommissar im BGS a.D. ... ,
...,
- Verteidiger:
Rechtsanwalt ...,
... -
hat der 1. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. November 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht A l b e r s
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht M a y e r und Dr. H. M ü l l e r
beschlossen:
Auf die Berufung des Ersten Polizeihauptkommissars im BGS
a.D. ... wird das Urteil des Bundesdisziplinargerichts, Kam-
mer XVI - ... -, vom 23. November 2001 aufgehoben.
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Ruhestandsbeamten
hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund
auferlegt.
- 2 -
G r ü n d e :
I.
In dem förmlichen Disziplinarverfahren, das mit der dem Verteidiger des Ruhe-
standsbeamten am 20. April 1995 zugestellten Verfügung des Bundesministers des
Innern vom 13. April 1995 eingeleitet worden war, hat das Bundesdisziplinargericht
dem am 23. Mai 1941 geborenen Ruhestandsbeamten durch Urteil vom 23. Novem-
ber 2001 das Ruhegehalt aberkannt und ihm einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von
60 v.H. seines erdienten jeweiligen Ruhegehalts auf die Dauer von zwölf Monaten
bewilligt. Gegen dieses Urteil hat der Ruhestandsbeamte fristgerecht Berufung ein-
gelegt und mit mehreren, seiner Ansicht nach vorliegenden formellen und materiellen
Mängeln begründet. Er beantragt, das Verfahren gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 2 BDO ein-
zustellen, hilfsweise, das Verfahren gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 3 BDO an das Bundes-
disziplinargericht zurückzuverweisen, hilfsweise, lediglich eine Ruhegehaltskürzung
zu verhängen.
Der Senat hat durch Beschluss vom 24. Oktober 2002 Beweis darüber erhoben, ob
der Ruhestandsbeamte zum Zeitpunkt der Einleitung des förmlichen Disziplinarver-
fahrens verhandlungsfähig war bzw. ob gegebenenfalls eine Verhandlungsunfähig-
keit zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen werden kann durch Einholung eines er-
gänzenden Gutachtens des Arztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. M. von der ...
auf der Basis von dessen Gutachten vom 25. Februar 1997 und 12. Mai 1998. Der
Ruhestandsbeamte, die Einleitungsbehörde und der Bundesdisziplinaranwalt sind
vom Inhalt des Gutachtens vom 6. Januar 2003 und des am 13. Oktober 2003 bei
Gericht eingegangenen Ergänzungsgutachtens durch Übersendung von Abschriften
in Kenntnis gesetzt und zuvor schon auf die Rechtsprechung des Senats zur Mög-
lichkeit einer etwaigen Einstellung des Verfahrens durch Beschluss hingewiesen
worden. Der Ruhestandsbeamte hat sich durch seinen Verteidiger mit der Einstel-
lung des Verfahrens wegen rechtswidriger Einleitung einverstanden erklärt und hält
deren Voraussetzungen aufgrund des Ergebnisses der Begutachtung für gegeben.
Der Bundesdisziplinaranwalt und die Einleitungsbehörde haben sich weder zum
Gutachten noch zu den Stellungnahmen des Verteidigers geäußert.
II.
- 3 -
Das Verfahren war nach bisherigem Recht fortzuführen (vgl. hierzu Urteil vom
20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 - NVwZ 2002, 1515) und gemäß § 85 Abs. 1
Nr. 2 BDO i.V.m. § 76 Abs. 3 Satz 2, § 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDO unter Aufhebung
des angefochtenen Urteils einzustellen, weil es am 20. April 1995 nicht gemäß § 33
BDO rechtswirksam eingeleitet worden ist.
Die Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens ist unwirksam, wenn der Betrof-
fene bei Zustellung der Einleitungsverfügung verhandlungs- und damit prozessunfä-
hig war und - wie hier - keinen Betreuer im Sinne des § 19 Abs. 2 Nr. 1 BDO hatte.
Dieser Mangel kann durch eine nachträgliche Bestellung eines Betreuers nicht ge-
heilt werden. Stellt sich der Mangel der Betreuerbestellung - wie hier - erst im Beru-
fungsverfahren heraus, ist auch noch in zweiter Instanz die Einstellung des Verfah-
rens geboten (stRspr, vgl. zu allem Beschluss vom 8. August 2002 - BVerwG 1 D
12.01 -). Bei der hier interessierenden Verhandlungsfähigkeit handelt es sich um die
Fähigkeit, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzu-
nehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie
Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Um verhandlungsfähig zu
sein, muss der Betroffene in jeder Lage des Verfahrens imstande sein, sich in ver-
ständiger Weise zu verteidigen (vgl. zu allem Beschluss vom 25. Januar 2001
- BVerwG 1 D 31.99 - mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Für den vorlie-
genden Fall ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte in Betracht zu ziehen und im Er-
gebnis nicht auszuschließen, dass der Ruhestandsbeamte bei Einleitung des förmli-
chen Disziplinarverfahrens, welche mit Zustellung der Einleitungsverfügung am
20. April 1995 erfolgte, nicht im dargestellten Sinne und erforderlichen Umfang ver-
handlungsfähig gewesen ist. Die insoweit bestehenden Zweifel müssen sich zuguns-
ten des Ruhestandsbeamten auswirken.
Zur Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit des Ruhestandsbeamten zum Zeitpunkt
der Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens folgt der Senat letztlich den Aus-
führungen des Sachverständigen Dr. M. von den .... Auszugehen ist zunächst von
den im Strafverfahren erstatteten Gutachten des Dr. M. vom 25. Februar 1997 und
vom 12. Mai 1998. Hieraus ergibt sich, dass bei dem Ruhestandsbeamten zum Zeit-
punkt 20./21. März 1994 die Symptome einer krankhaften seelischen Störung (wahn-
hafte Störung/paranoide Psychose) sowie die Voraussetzungen des § 20 StGB ein-
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deutig vorlagen. Der Gutachter schloss nicht aus, dass Tage bis Wochen bis Monate
vor und nach diesem Zeitpunkt ebenfalls die Voraussetzungen des § 20 StGB gege-
ben gewesen seien. Bezüglich der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit kommt er
zu dem Ergebnis, dass der Ruhestandsbeamte im Jahr 1998 pro Tag für zwei Stun-
den (mit Pausen) prozessfähig sei, wobei er von einem Psychiater seines Vertrauens
begleitet werden sollte. Auf der Basis dieser Gutachten sollte der Sachverständige
die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit des Ruhestandsbeamten zum April 1995
vornehmen.
Im Rahmen eines Versuchs, den psychischen Zustand des Ruhestandsbeamten zu
dem hier maßgeblichen Zeitpunkt des 20. April 1995 aufgrund seiner Ansicht nach
medizinisch nicht ausreichender Informationen näherungsweise zu rekonstruieren,
zeigte dieser im Gutachten vom 6. Januar 2003 vier Hypothesen auf, kam aber nur
unter Zugrundelegung eines erweiterten Blickwinkels zu dem Ergebnis, dass die
Verhandlungsunfähigkeit nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne.
Der Gutachter umschreibt die nach dem Stand der Erkenntnisse denkbaren Zustän-
de des Ruhestandsbeamten in den vier Hypothesen wie folgt:
"Hypothese 1:
Unter der Fortschreibung der Einschätzung von Herrn Dr. B. vom 2. Dezember
1994 und unter Heranziehung des Befundes von der Ärztin für Innere Medizin
Frau Dr. B. vom 19. Juni 1995 war die psychische Störung von Herrn ... im April
1995 ausreichend bis gut behandelt. Es lagen keine akuten psychotischen
Symptome vor, keine ausgeprägten Symptome eines postremissiven Erschöp-
fungssyndroms, keine ausgeprägten Symptome eines Residuums und keine
ausgeprägten Medikamentennebenwirkungen vor.
Hypothese 2:
Im April 1995 waren die Symptome der paranoiden Psychose gut behandelt. Es
lagen keine akuten Symptome vor. Auch waren keine Medikamentennebenwir-
kungen festzustellen. Dagegen lagen mehr oder weniger ausgeprägte Sympto-
me eines postremissiven Erschöpfungssyndroms vor.
Hypothese 3:
Im April 1995 war die psychotische Störung zwar in Remission aber noch nicht
vollständig ausgeheilt. Dies könnte u.a. dazu führen, dass er verletzlicher (vul-
nerabler) für Stressoren war, insbesondere für ihn belastende Nachrichten. Die
Nachricht von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens könnte für ihn eine
Nachricht gewesen sein, die er als existenzgefährdend erlebte. Das könnte u.a.
zur Folge haben, dass es zu einem erneuten Auftreten akuter Symptome seiner
Krankheit hätte kommen können. Dokumentiert ist eine solche Verschlechte-
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rung dann für den Juli 1996.
Hypothese 4:
Im April 1995 führten das Zusammenwirken der paranoiden Psychose, der Per-
sönlichkeitsstörung und der Belastung durch die behördlichen Vorgänge dazu,
dass Herr ... deutliche Symptome einer psychischen Störung zeigte, die aber
weder zu einer ambulanten Inanspruchnahme von Ärzten, noch zu einer statio-
nären Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit führten."
Zu den medizinisch-psychiatrischen Voraussetzungen der Verhandlungsfähigkeit
führt der Sachverständige in Bezug auf die vier Hypothesen aus:
"a) Unter Zugrundelegung der Hypothese 1 ergeben sich keine eindeutigen und
ausreichenden Hinweise dafür, dass die Verhandlungsfähigkeit am 21. April
(richtig 20. April) 1995 eingeschränkt oder aufgehoben gewesen sein könnte.
b) Unter Zugrundelegung der Hypothese 2 lassen sich Hinweise dafür finden,
dass die Verhandlungsfähigkeit von Herrn ... eingeschränkt war.
c) Unter Zugrundelegung der Hypothese 3 würde sich mit gewissen Einschrän-
kungen (Herr ... hat die Erklärung im häuslichen Kontext angenommen und
nicht in einem für ihn fremden Umfeld eines Gerichtssaales) die Einschätzung
bestätigen, die im Gutachten von Referent vom 12. Mai 1998 dargestellt wurde,
in dem er die Voraussetzungen einer eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit
bejahte und bestimmte Bedingungen empfahl, unter denen die damalige Ver-
handlung durchgeführt werden konnte. Diese Einschätzung berücksichtigt das
Zusammenwirken der psychotischen Störung, die nicht komplett ausgeheilt ist
und einem erheblichen Stressor, nämlich einer Nachricht, die Herr ... als exis-
tenzbedrohend erlebt, so dass es dann zu einer Verschlimmerung der psychoti-
schen Störung hätte kommen können.
d) Unter Zugrundelegung der Hypothese 4 würde sich mit gewissen Einschrän-
kungen (Herr ... hat die Erklärung im häuslichen Kontext angenommen und
nicht in einem für ihn fremden Umfeld eines Gerichtssaales) die Einschätzung
bestätigen, die im Gutachten von Referent vom 15.05.1998 dargestellt wurde, in
dem er die Voraussetzungen einer eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit be-
jahte und bestimmte Bedingungen empfahl, unter denen die damalige Verhand-
lung durchgeführt werden könnte. Welche Bedingungen es für den Zeitpunkt
der Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens am 21. April 1995 ermög-
licht hätten, trotz eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit diese Erklärung ent-
gegen zu nehmen, kann nicht näher bestimmt werden."
Anschließend äußert er sich wie folgt:
"Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht liegen keine ausreichenden Informatio-
nen vor, um mit einer für ein wissenschaftlich-nervenärztliches Gutachten aus-
reichenden Sicherheit die Frage zu beantworten, ob die Voraussetzungen zu
bejahen sind, eine Verhandlungsunfähigkeit zu diesem Zeitpunkt auszuschlie-
ßen. Bei der Frage, ob ausgeschlossen werden kann, dass Herr ... bei der Ent-
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gegennahme der Einleitungsverfügung des Disziplinarverfahrens verhand-
lungsunfähig war, kommt es auf den Blickwinkel an, unter dem man den Zu-
stand von Herrn ... beurteilt. Aus dem Blickwinkel einer 'reinen Psy-
chopathologie' ergeben sich keine konkreten und eindeutigen Hinweise dafür,
die Verhandlungsunfähigkeit positiv zu bejahen. Wählt man einen erweiterten
Blickwinkel und betrachtet den Faktor 'Krankheit, die nicht vollständig ausgeheilt
ist' und 'Nachricht, die von Herrn ... als existenzbedrohend erlebt wird' mit der
möglichen Folge der Verschlimmerung der Krankheit, so ergeben sich Hinweise
dafür, dass die Verhandlungsunfähigkeit nicht mit letzter Sicherheit ausge-
schlossen werden kann."
Diesen im Gutachten zuletzt genannten "erweiterten Blickwinkel" hat der Senat noch
nicht als tragfähig angesehen. Die weiteren Feststellungen im Gutachten und im
nachfolgenden Ergänzungsgutachten sowie die sonstigen Hinweise in den Akten
geben jedoch ausreichend konkrete, d.h. über rein theoretische Hypothesen hinaus-
gehende Anhaltspunkte dafür, dass die Verhandlungsunfähigkeit des Ruhestands-
beamten zum Zeitpunkt der Zustellung der Einleitungsverfügung nicht auszuschlie-
ßen ist.
Einen ersten Hinweis gibt das Gutachten des sozialmedizinischen Dienstes des
Grenzschutzpräsidiums ... vom 14. März 1995 (Verfasser: Medizinaldirektor S.). Die-
ses wird vom Sachverständigen Dr. M. wie folgt zitiert:
"Nach Feststellung des behandelnden Psychiaters Dr. B. leidet Herr ... an einer
psychischen Störung mit strukturellem Wandel des Erlebens, das anfangs mit
Wahnvorstellungen verbunden war. Die Erkrankung besteht wahrscheinlich
schon seit mehreren Jahren und trat erst jetzt durch die ständige berufliche Be-
lastung im Zusammenhang mit den staatsanwaltlichen Ermittlungen in den Vor-
dergrund.
Bei der psychischen Erkrankung handelt es sich um eine schicksalhaft auftre-
tende Krankheit, d i e i n S c h ü b e n verläuft. Selbst wenn sie phasen-
weise durch fachärztliche Behandlungsmaßnahmen nahezu symptomfrei er-
scheint, besteht die G e f a h r , d a s s d u r c h ä u ß e r e A n l ä s s e
n e u e K r a n k h e i t s s c h ü b e auftreten. Erfahrungsgemäß führen die
mehr oder weniger gut verlaufenden wellenförmigen Remissionen schließlich zu
einem stabilen Defektzustand.
Da Herr ... seit Jahren keine eigentliche Polizeidiensttätigkeit im engeren Sinne
ausgeführt hat, sondern ausschließlich eine Verwaltungsdiensttätigkeit, auf de-
ren Belastung jedoch die anlagebedingte Krankheit in Erscheinung trat, ist eine
Umsetzung in die Laufbahn eines Verwaltungsbeamten nicht zu befürworten.
Hier wäre er den gleichen physischen Belastungen wie bisher ausgesetzt, wo-
durch weitere Krankheitsschübe ausgelöst werden könnten."
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Diese Äußerungen stehen nicht isoliert da. Das Gesundheitsamt des ... hat den Ru-
hestandsbeamten kurz darauf am 19. Juni 1995 untersucht und sich mit amtsärztli-
chem Gutachten vom 27. Juni 1995 der Beurteilung des Medizinaldirektors Schmidt
angeschlossen. Die Amtsärztin Dr. B., Ärztin für innere Medizin, hat in diesem Gut-
achten festgestellt, der damals im aktiven Dienst befindliche Beamte sei krankheits-
bedingt dauernd unfähig, seine Dienstpflichten als Verwaltungsbeamter zu erfüllen,
und hat dies u.a. mit der sonst in Rechnung zu stellenden "Gefahr einer erneuten
Verschlimmerung der Krankheitssymptomatik aufgrund äußeren Anlasses" begrün-
det.
Wie sich den Zitaten im Gutachten des Sachverständigen Dr. M. aus dem Gutachten
der Diplom-Psychologin C. vom 25. November 1996 weiterhin entnehmen lässt, hat
jedenfalls im Sommer 1996 eine erneute "Exacerbation" mit Verfolgungs- und Be-
strahlungserleben stattgefunden. Diese Gutachterin kann sich insoweit nicht nur auf
eine Fremdanamnese der Ehefrau des Ruhestandsbeamten stützen (S. 13 ihres
Gutachtens vom 25. November 1996). Deren Angaben werden vielmehr auch bestä-
tigt durch die in einem früheren Gutachten des Sachverständigen Dr. M. ebenfalls
als Zitat wiedergegebenen Angaben in dem Arztbrief des Diplom-Psychologen
Dr. P., Arzt für Nervenheilkunde - Psychotherapie -, vom 19. November 1996, der als
behandelnder Arzt über den Schub im Sommer 1996 und dessen Behandlung aus-
führlich berichtet (Gutachten Dr. M. vom 25. Februar 1997 S. 27 ff.). Letztlich hatte
der Sachverständige Dr. M. diese Ausführungen in seinem früheren Gutachten - dem
Grunde nach - insoweit auch selbst bestätigt, als er ausführte, dass "zum Zeitpunkt
der Begutachtung die Symptome der akuten psychischen Störung (Psychose, die Dr.
P. im Juli 1996 diagnostiziert hatte) noch nicht vollständig zurückgebildet sind"; der
Ruhestandsbeamte sei "noch zeitweise und insbesondere in Belastungssituationen
wie dies eine Begutachtungssituation darstellt, als latent paranoid einzuschätzen"; es
"könnte sein, dass er krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, sich ausreichend von
seinem paranoiden Erleben zu distanzieren" (S. 53 des Gutachtens vom 25. Februar
1997). Eine weitere Bestätigung für das Auftreten der Symptomatik in wiederkehren-
den Schüben - und dafür, dass es nicht nur einen einzelnen weiteren Schub im
Sommer 1996 gegeben hat, sowie dafür, dass dies auch nicht der erste weitere
Schub war - findet sich schließlich in dem Arztbrief des vorbehandelnden Arztes für
Neurologie Dr. B. vom 7. September 1996. Auch aus diesem Arztbrief wird in dem
Gutachten vom 25. Februar 1997 zitiert. Dort heißt es auf Seite 26:
- 8 -
"Nach einem mehrmonatigen Verlauf besserten sich die Symptome und er be-
endete zunächst im November 1994 die Behandlung. Im weiteren Verlauf sah
ich ihn in einem Zusammenhang mit aktuellen Problemen, z.B.
P e n s i o n i e r u n g s v e r f a h r e n oder im Sommer dieses Jahres wegen
der anstehenden Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft. In Zeiten die-
ser stärkeren Belastung fühlte er sich dann wieder verfolgt und wohl auch für
kürzere Momente irritiert und verängstigt. Sobald er sich entspannte, entaktuali-
sierte sich der Wahn, ohne dass er aber die Störung als Krankheitssymptom er-
kennen konnte."
Zu ergänzen ist insoweit, dass das "Pensionierungsverfahren" aus der Sicht des Ru-
hestandsbeamten begonnen haben dürfte mit der Übersendung des Gutachtens des
sozialmedizinischen Dienstes des Grenzschutzpräsidiums ... vom 14. März 1995 mit
Schreiben vom 7. April 1995 (abgesendet an den Ruhestandsbeamten am 10. April
1995, also nur kurze Zeit vor Zustellung der Einleitungsverfügung am 20. April 1995).
Dieses Gutachten äußerte sich nicht nur zur Polizeidienstfähigkeit, sondern (eben-
falls verneinend) auch zur allgemeinen Dienstfähigkeit. Mit dem Begleitschreiben ist
dem Ruhestandsbeamten eine Überprüfung der allgemeinen Dienstfähigkeit durch
das Gesundheitsamt angekündigt und gleichzeitig eine kurze Frist zur Stellungnah-
me zu der beabsichtigten Maßnahme gegeben worden. Das Pensionierungsverfah-
ren wurde im Februar 1996 abgeschlossen.
Die Angaben in dem Arztbrief des Dr. B. vom 7. September 1996 wiederum stimmen
weitgehend überein mit den Angaben der Ehefrau des Ruhestandsbeamten, wie sie
in der Fremdanamnese des Gutachtens der Diplom-Psychologin C. vom
25. November 1996 wiedergegeben werden:
"Unter der Behandlung durch Dr. B. sei es ihrem Mann sehr allmählich besser
gegangen, im Oktober des Jahres 1994 habe sie zu arbeiten begonnen, und er
habe von selbst sämtliche Haus- und Gartenarbeiten übernommen. Nach wie
vor hätten ihn jedoch die Termine, wie der Schriftverkehr wegen der Ermittlun-
gen gegen ihn, sehr strapaziert". … (Es folgt die Äußerung, die schlimmste Zeit
sei für sie der Sommer 1996 gewesen)….
"Aus ihrer Sicht sei auslösend für den erneuten Zusammenbruch ihres Mannes
die Aufforderung gewesen, seine Darstellung der Geschehnisse zu Papier zu
bringen. Dies habe ihn gefühlsmäßig wohl überfordert."
Daran anknüpfend lassen sich weitere Anzeichen feststellen, dass der Vorlauf vor
der Einleitung des förmlichen Verfahrens den Ruhestandsbeamten in ähnlicher Wei-
- 9 -
se strapaziert haben dürfte: Zunächst erreichte ihn am 13. Januar 1995 die Nachricht
von der Weiterführung der vorläufig ausgesetzten Vorermittlungen. Am 18. Januar
1995 erreichte ihn die Ladung vom 17. des Monats zur Anhörung durch den Ermitt-
lungsführer. Am 24. und/oder 25. Januar 1995 teilte der Ruhestandsbeamte mit,
dass er nicht erscheinen werde, und kündigte eine schriftliche Stellungnahme seiner
Verfahrensbevollmächtigten an. In einem Vermerk vom 30. Januar 1995 ist fest-
gehalten, dass die schriftliche Stellungnahme durch den neuen Verteidiger bis spä-
testens Ende Februar erwartet werde. Unter dem 20. Februar 1995 wurde diese
Stellungnahme angemahnt. Am 13. März 1995 wurde dem Ruhestandsbeamten
schließlich unter Übersendung eines Formulars für eine Erklärung über die wirt-
schaftlichen Verhältnisse mitgeteilt, dass die Einleitung des förmlichen Verfahrens
beabsichtigt, seine Entfernung aus dem Dienst zu erwarten und auch Maßnahmen
nach §§ 91, 92 BDO vorgesehen seien. Das alles versuchte der neue Verteidiger
des Ruhestandsbeamten offenbar durch den Schriftsatz vom 17. März 1995 abzu-
wenden, mit dem er auf die erbetene Erklärung über die wirtschaftlichen Verhältnisse
nicht einging und stattdessen ein Sachverständigengutachten zur Frage der Schuld-
fähigkeit seines Mandanten beantragte. Schließlich folgte am 23. März 1995 die vor-
läufige Zurückweisung der beantragten Beweiserhebung als für die Einleitung des
förmlichen Verfahrens unerheblich und daher erst für den späteren Verfahrensgang
vorgesehen. Alsdann folgte die Einleitungsverfügung vom 13. April 1995, die mit den
angekündigten Maßnahmen verbunden wurde.
Im Rahmen seines ergänzenden Untersuchungsauftrags hat der Sachverständige
Dr. M. nunmehr ermittelt, dass Dr. B. den Ruhestandsbeamten am 24. Mai 1995
nachuntersucht hat und hierbei, also circa einen Monat nach Zustellung der Einlei-
tungsverfügung, deutliche Symptome einer psychotischen Störung bei dem Ruhe-
standsbeamten festgestellt hat. Auch bei der eigenen Untersuchung des Ruhe-
standsbeamten durch den Sachverständigen Dr. M. am 2. Juli 2003 stellte dieser
eindeutige Symptome einer akuten Psychose fest. Diesen aktuell beobachteten Zu-
stand wertete Dr. M. als konkreten Hinweis dafür, in welchem Zustand sich der Ru-
hestandsbeamte am 21. April 1995 unter der Belastung der Entgegennahme der Ein-
leitungsverfügung befunden haben könnte. Unter Einbeziehung weiterer ärztlicher
Unterlagen führt Dr. M. aus:
"Diese Einschätzung wird auch durch weitere Befunde gestützt. Einmal be-
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schreibt Herr ... P. in seinem Schreiben vom 10. Juli 2003 noch einmal, dass
Herr ... weiterhin immer wieder in Abhängigkeit von psychischen Belastungen,
die sich in der Vergangenheit vor allem auf seinen doch sehr in die Länge ge-
zogenen Prozessverlauf bezogen habe, unter einer floriden paranoiden Sym-
ptomatik gelitten habe. Diese seien oft nur unter sehr hohen Dosierungen von
Taxilan (bis 900 mg) in den Griff zu bekommen gewesen. Er beschreibt dann
weiter, dass auch in der Folgezeit die akute psychotische Symptomatik in Ab-
hängigkeit von psychischen Belastungen immer wieder auftrat. Er führt dann
weiter aus, dass sowohl er als auch Herr Dr. B. Herrn ... in Belastungssituatio-
nen so erlebt haben, dass eine Verhandlungsfähigkeit nicht oder nur einge-
schränkt gegeben war. Während der Zeit in der er Herrn ... kenne, habe ein
Schreiben des Gerichtes, der Staatsanwaltschaft oder auch seiner eigenen
Anwälte ausgereicht, damit die psychotische Symptomatik wieder aufflackerte.
Es sei zeitweilig mühsam gewesen, Herrn ... zum gegebenen Termin in einen
Zustand zu verhelfen, dass er wieder verhandlungsfähig sein konnte. Es sei
deshalb aus seiner Sicht höchstwahrscheinlich anzunehmen, dass Herr ... zum
Zeitpunkt der Zustellung der Einleitungsverfügung vom 21. April 1995 psycho-
tisch dekompensierte. Diese Einschätzung kann jetzt von Referent nach Erhe-
bung des eigenen Befundes, in dem er Herrn ... eindeutig akut-psychotisch im
Rahmen einer psychosozialen Belastung im Rahmen der Begutachtung gese-
hen hat, nachvollzogen werden.
Eine weitere Stützung der Einschätzung von Referent ergibt sich aus dem
Schreiben der Tagesklinik ... vom 30. Juli 1998. Auch die dort behandelnde
Oberärztin Frau Dr. D. beschreibt, dass es zu krisenhaften Zuspitzungen des
psychischen Befundes mehrfach im Zusammenhang mit dem bevorstehenden
Prozess wegen der von ihm angenommenen Gelder gekommen sei. Der Pro-
zess habe dann in der Endphase seines tagesklinischen Aufenthaltes stattge-
funden. Während dieser Phase habe Herr ... eher stabil und entlastet gewirkt,
besonders da das Damoklesschwert des drohenden Prozesses nicht mehr über
ihm schwebe. Er habe konkret den Prozess angehen können. Erfreulicherweise
habe der Prozess noch während seiner Behandlung abgeschlossen werden
können mit einem für ihn günstigen Urteil, durch das er seine Pensionierungs-
ansprüche nicht verliere.
All diese Beobachtungen (aktuelle psychopathologische Untersuchung durch
Referent, Ergebnisse von psychopathologischen Querschnittsuntersuchungen
von Herrn P. ab Juli 1996, Beobachtungen der Tagesklinik ... im Vorfeld des
anstehenden Prozesses) machen deutlich, dass die Erwartung gegen ihn ge-
richteter Maßnahmen zu Zuständen führen kann, in denen Herr ... auf dem Bo-
den seiner Psychose akute Symptome entwickelt, dass aber wenn das Ereignis
eingetreten ist, Herr ... durchaus in der Lage ist, sowohl emotional als auch
kognitiv die Belastungen zu bewältigen, wie er dies im Rahmen seines Prozes-
ses auch gezeigt hat."
All diese Tatsachen und die auf Erhebungen in den Jahren 1994, 1995 und 1996,
1998 und 2003 beruhenden ärztlichen Äußerungen geben deutlich übereinstimmen-
de Hinweise darauf, dass die psychische Erkrankung des Ruhestandsbeamten in
Schüben verlaufen ist und noch verläuft, wobei die Gefahr bestanden hat und noch
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besteht, dass durch entsprechend gewichtige oder subjektiv als entsprechend ge-
wichtig empfundene äußere Anlässe (auch wenn der Ruhestandsbeamte durch
fachärztliche Behandlungen nahezu symptomfrei erschienen ist oder erscheint) neue
Krankheitsschübe auftreten und sogar zu Verschlimmerungen führen können.
Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. M., dass die Hypothese 4 die wahr-
scheinlichste ist und das Zusammenwirken der paranoiden Psychose, der Persön-
lichkeitsstörung und der Belastung durch die behördlichen Vorgänge dazu geführt
haben kann, dass der Ruhestandsbeamte deutliche Symptome einer psychischen
Störung zeigte und entsprechend dekompensierte, ist danach ebenso nachvollzieh-
bar wie die Schlussfolgerung, dass eine Verhandlungsunfähigkeit des Ruhestands-
beamten zum Zeitpunkt der Zustellung der Einleitungsverfügung jedenfalls nicht aus-
zuschließen ist. Unter diesen nicht weiter aufklärbaren Voraussetzungen ist im Zwei-
fel zugunsten des Ruhestandsbeamten zu entscheiden und das Verfahren einzustel-
len.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 113 Abs. 3, § 115 Abs. 1 BDO.
Albers
Mayer
Müller
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Formelles Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse:
nein
Rechtsquellen:
BDO
§§ 19, 85 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 76 Abs. 3 Satz 2,
§ 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Stichworte:
BGS-Beamter des gehobenen Dienstes a.D.; Verhandlungsunfähigkeit zum Zeitpunkt
der Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens aufgrund konkreter Anhaltspunkte
nicht ausgeschlossen; keine Betreuerbestellung zu diesem Zeitpunkt; Einstellung des
Disziplinarverfahrens wegen Unwirksamkeit der Einleitungsverfügung.
Beschluss des 1. Disziplinarsenats vom 4. November 2003 - BVerwG 1 D 8.02
I. BDiG, Kammer XVI - ... -, vom 23.11.2001 - Az.: BDiG XVI VL 16/01 -