Urteil des BVerwG vom 12.10.2006

Dienstliche Tätigkeit, Psychiatrische Untersuchung, Verhaltenstherapie, Mildernde Umstände

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 D 2.05
VG 38 K 16/04.BDG
In dem Disziplinarverfahren
g e g e n
den Regierungshauptsekretär …,
… , …,
hat das Bundesverwaltungsgericht, Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 12. Oktober 2006,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz,
Polizeihauptmeister Honig und
Bundesbahnbetriebsinspektor Moog
als ehrenamtliche Richter
sowie
Leitender Regierungsdirektor …
als Vertreter der Einleitungsbehörde,
Rechtsanwalt …,
als Verteidiger
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und
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Regierungshauptsekretärs … wird
das Urteil des Verwaltungsgerichts … vom 11. November
2004 aufgehoben, soweit es die Entfernung des Beamten
aus dem Dienst ausspricht. Der Beamte wird in das Amt
eines Regierungssekretärs (BesGr. A 6) versetzt. Eine Be-
förderung ist nicht vor Ablauf von drei Jahren nach Eintritt
der Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung möglich.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Dem Beamten werden zwei Drittel, dem Bund wird ein
Drittel der Kosten des Verfahrens auferlegt.
G r ü n d e :
I
1. Der 1955 geborene Beamte trat im Jahr 1972 in den Dienst der damaligen
Bundesbahn. Seit 1. November 1982 war er im Geschäftsbereich Krankenver-
sorgung der Bundesbahnbeamten in W. tätig.
Vom 16. Juni 1998 bis 2. April 2002 leistete er - abgesehen von kurzzeitigen
Arbeitsversuchen - keinen Dienst. Für die Abwesenheitszeiten bescheinigten
ihm seine Privatärzte durchgehend, den Anforderungen des Dienstes aus psy-
chischen Gründen nicht gewachsen zu sein.
Durch Verfügung vom 7. November 2001 hat die Leiterin der Dienststelle ... des
Bundeseisenbahnvermögens Vorermittlungen wegen unerlaubten Fernbleibens
vom Dienst eingeleitet. Durch den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid vom
15. November 2001 hat sie festgestellt, der Beamte habe wegen unerlaubten
Fernbleibens seit dem 25. September 2001 seine Dienstbezüge verloren. Den
Antrag des Beamten auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat der Senat
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unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung abgelehnt (Beschluss vom
7. März 2002 - BVerwG 1 DB 5.02 -).
Durch Verfügung vom 30. November 2001 hat die Leiterin der Dienststelle ...
das förmliche Disziplinarverfahren eingeleitet. Mit Anschuldigungsschrift vom
3. April 2003 hat der Bundesdisziplinaranwalt dem Beamten zur Last gelegt,
dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er
vom 2. Oktober bis 5. Oktober 2001 und vom 15. Oktober
2001 bis 28. März 2002 ohne Genehmigung schuldhaft
dem Dienst ferngeblieben sei.
2. Das Verwaltungsgericht hat den Beamten durch Urteil vom 11. November
2004 aus dem Dienst entfernt und ihm einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von
75 v.H. des erdienten Ruhegehalts für die Dauer von sechs Monaten bewilligt.
Den Verlustfeststellungsbescheid vom 15. November 2001 hat das Verwal-
tungsgericht aufgehoben, soweit er die Tage vom 25. September bis 1. Oktober
2001 und vom 6. Oktober bis 14. Oktober 2001 betrifft, und ihn im Übrigen auf-
rechterhalten.
In den Urteilsgründen heißt es, der Beamte habe seine Dienstleistungspflicht
schwerwiegend verletzt, weil er während des Anschuldigungszeitraums, d.h. für
die Dauer von ungefähr fünfeinhalb Monaten ununterbrochen dem Dienst un-
erlaubt ferngeblieben sei. Seine Dienstfähigkeit ergebe sich aus den bahnärztli-
chen Stellungnahmen vom 6. September und 1. Oktober 2001, den Ausführun-
gen der vom Bahnarzt eingeschalteten Gutachterin Dr. P. in der Hauptverhand-
lung sowie aus den Feststellungen ihres psychiatrischen Gutachtens vom
2. August 2001, auf das sie in der Hauptverhandlung Bezug genommen habe.
Danach habe der Beamte aufgrund eines Motivationsdefizits ohne Krankheits-
wert, das sein Leistungsvermögen nicht beeinträchtigt habe, keinen Dienst ge-
leistet. Die Gutachterin habe die inhaltlich abweichenden Befunde der behan-
delnden Privatärzte Dr. H. und Dr. U. entkräftet. Sie habe plausibel dargelegt,
es sei nicht nachvollziehbar, dass die Privatärzte einerseits dem Beamten eine
psychische Erkrankung bescheinigt hätten, andererseits aber weder auf dem
konsequenten Einsatz von Medikamenten noch auf einer intensiven psychothe-
rapeutischen Behandlung bestanden hätten.
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Nach alledem komme den Beurteilungen des Oberbahnarztes Dr. O. vom
6. September und vom 1. Oktober 2001, mit denen er die Beurteilung der von
ihm beauftragten Gutachterin bestätigt habe, größerer Beweiswert zu als den
inhaltlich abweichenden Befunden der Privatärzte. Die Dienstfähigkeit des Be-
amten im Anschuldigungszeitraum werde auch dadurch belegt, dass er seit Ap-
ril 2002 ohne längere Fehlzeiten Dienst in der Poststelle der Bezirksleitung der
Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten leiste.
Der Beamte habe mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Er habe den Verstoß ge-
gen die Dienstleistungspflicht billigend in Kauf genommen. Denn aufgrund der
dienstlichen Hinweise im September und Oktober 2002 habe er gewusst, dass
der Dienstherr seine Dienstfähigkeit aufgrund des Gutachtens vom 2. August
2001 für erwiesen gehalten, Krankschreibungen durch die Privatärzte nicht
mehr anerkannt habe und weitere Fehlzeiten zum Anlass für disziplinarische
Maßnahmen nehmen würde. Die Dauer des unerlaubten Fernbleibens vom
Dienst erfordere die Entfernung des Beamten aus dem Dienst, weil entspre-
chend gewichtige mildernde Umstände nicht vorlägen. Er sei allein deshalb
nicht zum Dienst erschienen, weil er eine andere als die bis 1998 ausgeübte
dienstliche Tätigkeit beharrlich innerlich abgelehnt habe.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist dem Beamten am 24. Dezember 2004,
seinem Verteidiger am 28. Dezember 2004 zugestellt worden.
3. Der Beamte hat die am 4. Januar 2005 eingelegte Berufung mit Schriftsatz
vom 27. Januar 2005, eingegangen am 28. Januar 2005, begründet. Er macht
geltend, er müsse freigesprochen, der Verlustfeststellungsbescheid vom
15. November 2001 müsse aufgehoben werden. Das angeschuldigte Fehlver-
halten sei jedenfalls nicht erwiesen. Dies folge bereits aus den Angaben des
behandelnden Nervenfacharztes Dr. H. in der Hauptverhandlung. Dieser habe
schlüssig dargelegt, dass die Angstzustände des Beamten und seine daraus
herrührenden körperlichen Beschwerden Krankheitswert hätten und es ihm un-
möglich machten, Dienst zu tun. Allein Dr. H. und der Hausarzt Dr. U. könnten
den Gesundheitszustand des Beamten im Anschuldigungszeitraum sachkundig
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beurteilen. Die Einschätzung Dr. P. könne die Feststellungen Dr. H. schon des-
halb nicht entkräften, weil sie auf einer einmaligen Untersuchung mehr als zwei
Monate vor Beginn des Anschuldigungszeitraumes beruhe. Der Befund Dr. P.
berücksichtige die körperlichen Beschwerden des Beamten nicht, die ihn zum
Abbruch der Arbeitsversuche genötigt hätten. Den Stellungnahmen des Ober-
bahnarztes Dr. O. könne schon deshalb kein Beweiswert zukommen, weil es
nicht um die Bewertung des Gesundheitszustandes im Hinblick auf bahnspezifi-
sche Tätigkeiten gehe. Zudem habe der Bahnarzt lediglich auf das Gutachten
Dr. P. vom 2. August 2001 verwiesen.
II
Die Berufung des Beamten hat insoweit Erfolg, als er nicht wie vom Verwal-
tungsgericht ausgesprochen aus dem Dienst zu entfernen, sondern in das Amt
eines Regierungssekretärs (BesGr. A 6) zurückzustufen ist; im Übrigen ist die
Berufung zurückzuweisen.
Das gerichtliche Disziplinarverfahren ist auch nach Inkrafttreten des Bundesdis-
ziplinargesetzes am 1. Januar 2002 nach den Verfahrensregeln und -grund-
sätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen, weil das förmliche Diszipli-
narverfahren vor dem 1. Januar 2002 eingeleitet worden ist (§ 85 Abs. 1, 3
und 7 BDG; zum Übergangsrecht Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D
19.01 - NVwZ 2002, 1515). Vorschriften des Bundesdisziplinargesetzes können
Anwendung finden, soweit sie den Beamten materiellrechtlich besserstellen
(Urteile vom 17. März 2004 - BVerwG 1 D 23.03 - BVerwGE 120, 218 <222 ff.>
und vom 23. Februar 2005 - BVerwG 1 D 13.04 - BVerwGE 123, 75 <79>).
1. Die Berufung ist form- und fristgerecht gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1, § 81
Satz 1, § 82 BDO eingelegt worden und damit zulässig. Der Eingang der Be-
gründungsschrift am 28. Januar 2005 hat die Berufungsfrist von einem Monat
gewahrt. Diese Frist hat erst mit der Zustellung des angefochtenen Urteils an
den Verteidiger am 28. Dezember 2004 zu laufen begonnen, sodass sie erst mit
Ablauf des 28. Januar 2005 geendet hat (§ 23a Abs. 1 und 3, § 25 Satz 1 BDO;
§ 43 Abs. 1 StPO). Dass dem Verteidiger entgegen § 78 Abs. 3 BDO keine
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Ausfertigung, sondern eine Abschrift des Urteils übersandt worden ist, lässt die
Wirksamkeit der Zustellung an ihn unberührt (vgl. Urteil vom 8. Juni 2005
- BVerwG 1 D 3.04 - juris Rn. 10).
2. Die Berufung ist unbeschränkt eingelegt, sodass der Senat den Sachverhalt
selbst festzustellen und disziplinarrechtlich zu würdigen hat.
a) Der Senat geht von folgendem Sachverhalt aus:
Im ersten Halbjahr 1998 fiel aufgrund von Umstrukturierungsmaßnahmen der
von dem Beamten viele Jahre wahrgenommene Dienstposten des Rechnungs-
bearbeiters für Zahnersatz weg. Auf dem neuen Dienstposten, einem Compu-
terarbeitsplatz, kam der Beamte nicht zurecht. Seit Juni 1998 unternahm er nur
noch Arbeitsversuche in unregelmäßigen Abständen. Diese brach er jeweils
nach kurzer Zeit ab, weil körperliche Beschwerden auftraten und er sich des-
halb den dienstlichen Anforderungen nicht gewachsen fühlte. Für die Abwesen-
heitszeiten stellten ihm seine behandelnden Privatärzte, der Nervenarzt Dr. H.
und der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. U., lückenlos Dienstunfähigkeitsbeschei-
nigungen aus. Darin führt Dr. H. im Wesentlichen aus, der Beamte leide an ei-
ner anhaltenden psychosomatisch begründeten Belastungsstörung. Im Dienst
stellten sich umgehend Angstzustände ein, die sich in nervöser Unruhe, hohem
Blutdruck, Zittern, Schweißausbrüchen, Beklemmungsgefühlen im Brustbereich
mit Atemnot, Spannungskopfschmerzen und Schlafstörungen niederschlügen.
Dr. U. diagnostizierte eine schwere neurotische Fehlhaltung des Beamten.
In dem von Oberbahnarzt Dr. O. in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutach-
ten der Klinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität K. vom 11. Januar
2000 führte Oberarzt Dr. L. aus: Bei dem Beamten handele es sich um eine
hypochondrisch-hysterisch akzentuierte Persönlichkeit. Auf die beruflichen Ver-
änderungen habe er mit einer neurotischen Fehlhaltung reagiert. Gegenwärtig
sei er aufgrund einer ängstlich-depressiven Störung arbeitsunfähig. Er sei je-
doch nicht langfristig oder gar dauerhaft dienstunfähig. Die Beschwerden könn-
ten bei entsprechender Motivation durch eine konsequente Verhaltenstherapie
überwunden werden. Empfehlenswert sei eine mehrwöchige stationäre Be-
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handlung in einer Fachklinik mit anschließender längerfristiger ambulanter Ver-
haltenstherapie. Mit der beruflichen Wiedereingliederung solle unmittelbar nach
dem Klinikaufenthalt begonnen werden. Der behandelnde Nervenarzt habe es
versäumt, eine konsequente Therapie der prinzipiell gut behandelbaren Be-
schwerden in Angriff zu nehmen. Er habe das berufsbezogene Vermeidungs-
verhalten des Beamten verstärkt, sodass eine gewisse Beschwerdechronifizie-
rung eingetreten sei.
Vom 15. November bis 5. Dezember 2000 hielt sich der Kläger zu einer statio-
nären Verhaltenstherapie in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik ... in Pr.
auf. In dem Abschlussbericht der behandelnden Ärzte und Psychologen vom
22. Dezember 2000 heißt es, der Beamte habe auf die Umstrukturierung seiner
Dienststelle mit Angst und Unsicherheit reagiert, die sich in körperlichen Be-
schwerden äußerten. Dagegen erlebe er sich im häuslichen Umfeld so wie für
andere Arbeiten als arbeitsfähig und belastbar. Dem Beamten sei es nicht ge-
lungen, sich auf einen psychotherapeutischen Ansatz einzulassen. Er werde in
unverändertem Zustand als vollschichtig arbeitsfähig entlassen.
In dem Befundbericht vom 14. Februar 2001 stellte Dr. H. fest, der Beamte ha-
be nach der Dienstaufnahme am 5. Februar 2001 nachvollziehbar über die be-
reits mehrfach dargestellten Beschwerden geklagt. Es bestehe jetzt der be-
gründete Verdacht einer emotional labilen Persönlichkeitsstörung (sog. Border-
line-Syndrom). Die stationäre Psychotherapie sei völlig fehlgeschlagen.
In dem weiteren von Oberbahnarzt Dr. O. in Auftrag gegebenen psychiatrischen
Gutachten der Klinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität K. vom
2. August 2001, dem die ambulante psychiatrische Untersuchung des Beamten
am 26. Juli 2001 und ein testpsychologisches Zusatzgutachten vom gleichen
Tag zugrunde lagen, führte die Oberärztin Dr. P., Fachärztin für Nervenheilkun-
de und psychotherapeutische Medizin, aus:
Der Beamte habe angegeben, sich bislang weder einer antidepressiven Medi-
kation noch einer Psychotherapie unterzogen zu haben. Solange er seine Ruhe
habe, gehe es ihm gut. Er lebe mit seiner Freundin zusammen, führe den
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Haushalt und versorge den Garten. Er halte sich durch regelmäßiges Radfah-
ren und Schwimmen fit.
Dr. H. Diagnose „möglicher Übergang in eine Borderline-Persönlichkeits-
störung“ sei nicht nachvollziehbar. Keines der typischen Anzeichen dieser
Krankheit sei vorhanden. Weder habe der Beamte schwere emotionale Krisen
durchlebt noch sei es zu Suiziddrohungen, Selbstverletzungen oder exzessivem
Drogen- und Alkoholmissbrauch gekommen. Der Beamte komme nicht aus zer-
rütteten Verhältnissen und sei nicht missbraucht worden. Für die Richtigkeit von
Dr. U. Diagnose „schwere neurotische Fehlhaltung“ hätten sich in Untersuchung
und testpsychologischer Begutachtung keine Hinweise ergeben.
Bei dem Beamten liege aktuell in psychiatrischer Hinsicht keine Erkrankung vor.
Die im Gutachten vom 11. Januar 2000 beschriebene ängstlich-depressive Stö-
rung könne als vollständig abgeklungen angesehen werden. Weder in der Un-
tersuchungssituation noch in den Schilderungen des aktuellen Tagesablaufs,
der aktuellen Anamnese oder in der testpsychologischen Zusatzbegutachtung
hätten sich Hinweise auf Depressivität oder Angst ergeben. Aus psychiatrischer
und psychologischer Sicht deute nichts auf eine Verminderung des aktuellen
Leistungsvermögens hin. Die subjektiv empfundene Unfähigkeit, Dienst zu ver-
richten, könne nicht durch eine psychiatrisch erhebliche Störung erklärt werden.
Vielmehr sei sie auf eine frustrationsintolerante und regressive Grundhaltung
zurückzuführen. Der Beamte leide an einem Motivationsdefizit ohne Krank-
heitswert.
Die fortlaufenden Krankschreibungen hätten den Prozess der ungerechtfertig-
ten Pathologisierung des offensichtlichen Motivationsdefizits erheblich geför-
dert. Das Verhalten der Ärzte habe den Beamten darin bestärkt, sich in ein An-
spruchsdenken und eine extreme Schonhaltung zurückzuziehen. Aus psychia-
trischer Sicht ergäben sich keinerlei Gefährdungsaspekte für den Fall der Wie-
deraufnahme der Berufstätigkeit. Der Beamte sei eindeutig dienstfähig.
Unter Bezugnahme auf dieses Gutachten erklärte Oberbahnarzt Dr. O. den Be-
amten am 6. September 2001 für vollschichtig einsetzbar in laufbahnadäquaten
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Tätigkeiten. Aufgrund der Aufforderung der Leiterin der Dienststelle ... vom
6. September 2001 leistete der Beamte vom 10. bis 24. September 2001 Dienst
bei der Bezirksleitung W. Danach erschien er wegen körperlicher Beschwerden
nicht mehr. Für die nachfolgende Fehlzeit legte er Dienstunfähigkeitsbescheini-
gungen seiner Privatärzte vor.
Am 1. Oktober 2001 wiederholte Dr. O. seine Beurteilung vom 6. September
2001. Daraufhin forderte die Leiterin der Dienststelle ... den Beamten mit
Schreiben vom 2. Oktober 2001 auf, den Dienst unverzüglich aufzunehmen; sie
kündigte für den Fall der weiteren Abwesenheit die Feststellung des Verlusts
der Dienstbezüge und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens an. Am
8. Oktober 2001 unternahm der Beamte einen weiteren Arbeitsversuch, den er
am 11. Oktober 2001 abbrach. Mit Schreiben vom 12. Oktober 2001 forderte
ihn die Dienststellenleiterin erneut auf, zum Dienst zu erscheinen. Sie teilte
nochmals mit, dass privatärztliche Krankschreibungen nicht mehr anerkannt
würden, und kündigte disziplinarische Schritte an.
In der Folgezeit blieb der Beamte auch nach Einleitung der Vorermittlungen, der
Feststellung des Verlusts der Dienstbezüge ab 25. September 2001 und der
Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens unter Berufung auf aktuelle Stel-
lungnahmen seiner Privatärzte bis Ende März 2002 dem Dienst fern. In dem
Befundbericht vom 18. Oktober 2001 teilte Dr. H. mit, die in dem Gutachten
vom 11. Januar 2000 diagnostizierten behandlungsbedürftigen psychischen
Erkrankungen bestünden fort. Jedoch sei der Beamte nicht psychotherapeu-
tisch behandlungsfähig. Nunmehr habe sich ein neurasthenisches Syndrom
ausgebildet. Auch Dr. U. sah in seiner Stellungnahme vom 17. Oktober 2001
keine Möglichkeit einer beruflichen Reintegration des Beamten. Mit Einleitung
der Vorermittlungen durch Verfügung vom 7. November 2001 hatte die Leiterin
der Dienststelle ... darauf hingewiesen, dass den bahnärztlichen Feststellungen
größerer Beweiswert zukomme.
In der Hauptverhandlung vom 21. Oktober 2004 vor dem Verwaltungsgericht
hat Dr. P. bekräftigt, dass bei dem Beamten ein Motivationsproblem ohne
Krankheitswert bestehe. Die behandelnden Ärzte hätten darauf hinwirken müs-
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sen, durch eine strukturierte Verhaltenstherapie gegen das situationsbezogene
Vermeidungsverhalten anzugehen. Dadurch hätte dem Beamten die Dienst-
ausübung erleichtert werden können. Er sei jedoch auch ohne Therapie dienst-
fähig gewesen. Seine leicht depressiven Stimmungen könnten mit Medikamen-
ten behandelt werden.
Dr. H. hat in der Hauptverhandlung ausgesagt, er habe dem Beamten empfoh-
len, eine Verhaltenstherapie durchzuführen. Er selbst habe nicht genügend Zeit
für eine solche Behandlung gehabt. Er habe im Abstand von zwei Wochen Ge-
spräche von 20 Minuten Dauer mit dem Beamten geführt. Das verschriebene
Antidepressivum habe der Beamte eigentlich nicht gebraucht, weil er nicht
krank gewesen sei, sondern nur Krankheitssymptome gezeigt habe. Eine Bes-
serung könne nur dadurch erreicht werden, dass dem Beamten ein ihn zufrie-
denstellender Arbeitsplatz zugewiesen werde. Auf Nachfrage des Verteidigers
hat Dr. H. erklärt, er messe den manifesten und objektivierbaren Symptomen
Krankheitswert bei. Sonst hätte ihn der Beamte nicht aufgesucht.
In der Hauptverhandlung vor dem Senat hat Dr. P. ihr Gutachten vom 2. August
2001 wie folgt erläutert: Ihre Feststellung, die vom Vorgutachter festgestellten
Beschwerden des Beamten seien abgeklungen, habe sie aufgrund der aktuel-
len Anamnese, der Angaben des Beamten zu seinem Gesundheitszustand und
der testpsychologischen Zusatzbegutachtung gefolgert. Die Stimmung des Be-
amten sei erheblich besser gewesen als sie in dem Gutachten vom 11. Januar
2000 dargestellt worden sei. Er habe nicht mehr über Ängstlichkeit und Depres-
sivität im Alltagsleben geklagt. Körperliche Beschwerden im Gastro-Intes-
tinal-Bereich seien auf Befragen spontan verneint worden. Den Befund Dr. H.
über eine psychische Erkrankung könne sie nicht nachvollziehen, weil Dr. H.
weder auf eine konsequente Verhaltenstherapie hingewirkt noch eine konse-
quente medikamentöse Behandlung durchgeführt habe. Im Falle einer psychi-
schen Erkrankung wären diese Maßnahmen dringend erforderlich gewesen.
b) Die rechtliche Würdigung dieses Sachverhaltes ergibt, dass der Beamte sei-
ne Dienstleistungspflicht schwerwiegend verletzt hat. Er ist während des An-
schuldigungszeitraums, d.h. ungefähr fünfeinhalb Monate lang ununterbrochen
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unerlaubt dem Dienst ferngeblieben, wobei ihm Fahrlässigkeit zur Last fällt
(§ 77 Abs. 1 Satz 1, § 73 Abs. 1 Satz 1 BBG).
Unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 BBG
setzt voraus, dass der Beamte aktuell dienstfähig ist. Das Erfordernis der
Dienstfähigkeit stellt ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 73 Abs. 1
Satz 1 BBG dar (Beschluss vom 26. Februar 2003 - BVerwG 1 DB 1.03 - Buch-
holz 240 § 9 BBesG Nr. 25). Dies folgt aus dem Normzweck: Regelungsgegen-
stand des § 73 Abs. 1 Satz 1 BBG ist die formale Dienstleistungspflicht. Diese
beamtenrechtliche Grundpflicht fordert von dem Beamten vor allem, sich wäh-
rend der vorgeschriebenen Zeit an dem vorgeschriebenen Ort aufzuhalten, um
die ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben wahrzunehmen (Urteil vom
25. September 2003 - BVerwG 2 C 49.02 - Buchholz 240 § 9 BBesG Nr. 26).
Solange ein Beamter dienstunfähig ist, ist er von der Dienstleistungspflicht be-
freit, weil er sie nicht erfüllen kann. Dies gilt auch dann, wenn er seine Dienst-
unfähigkeit schuldhaft herbeigeführt oder es schuldhaft versäumt hat, die
Dienstfähigkeit wieder herzustellen. Ein derartiges Fehlverhalten verstößt ge-
gen die Pflicht zur vollen Hingabe an den Beruf gemäß § 54 Satz 1 BBG, lässt
jedoch die Berechtigung, dem Dienst fernzubleiben, unberührt (Beschlüsse vom
20. Juni 2000 - BVerwG 1 DB 5.00 - Buchholz 240 § 9 BBesG Nr. 17 und vom
31. Januar 2002 - BVerwG 1 DB 33.01 - ZBR 2003, 101 = DÖD 2002, 118).
Dienstunfähigkeit im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 BBG liegt vor, wenn der Be-
amte aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustandes außer Stande ist,
den ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben nachzukommen. Der Nachweis
der Dienstfähigkeit des abwesenden Beamten und damit der Nachweis eines
Verstoßes gegen § 73 Abs. 1 Satz 1 BBG obliegt dem Dienstherrn. Legt der
Beamte zum Beleg seines Unvermögens, Dienst zu tun, Dienstunfähigkeitsbe-
scheinigungen behandelnder Privatärzte vor, so kann der Nachweis seiner
Dienstfähigkeit regelmäßig nur durch die Einschaltung des Amtsarztes geführt
werden. Denn es bedarf medizinischer Sachkunde, um ärztliche Befunde zu
überprüfen. Der Bahnarzt steht dem Amtsarzt gleich, weil der bahnärztliche
Dienst aufgrund der Zuordnung zum Bundeseisenbahnvermögen öffentlich-
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rechtlichen Charakter hat (Urteil vom 11. April 2000 - BVerwG 1 D 1.99 - juris
Rn. 12).
Weicht die medizinische Beurteilung des Amtsarztes hinsichtlich desselben
Krankheitsbildes von der Beurteilung des behandelnden Privatarztes ab, so
kommt der Beurteilung des Amtsarztes unter folgenden Voraussetzungen Vor-
rang zu: Es dürfen keine begründeten Zweifel an der Sachkunde des Amtsarz-
tes bestehen. Die medizinische Beurteilung muss auf zutreffenden Tatsachen-
grundlagen beruhen sowie in sich stimmig und nachvollziehbar sein. Hat der
Privatarzt seinen medizinischen Befund näher erläutert, so muss der Amtsarzt
auf diese Erwägungen eingehen und nachvollziehbar darlegen, warum er ihnen
nicht folgt. Diese Grundsätze beanspruchen in gleicher Weise Geltung, wenn
der Amtsarzt einen Facharzt einschaltet, um die medizinische Sachkunde zu
gewährleisten, und sich dessen medizinischer Beurteilung anschließt. Die Stel-
lungnahme des Facharztes wird dann dem Amtsarzt zugerechnet (Beschluss
vom 8. März 2001 - BVerwG 1 DB 8.01 - ZBR 2001, 297).
Dieser Vorrang im Konfliktfall hat seinen Grund in der Neutralität und Unabhän-
gigkeit des Amtsarztes. Im Gegensatz zu einem Privatarzt, der womöglich be-
strebt ist, das Vertrauen des Patienten zu ihm zu erhalten, nimmt der Amtsarzt
seine Beurteilung von seiner Aufgabenstellung her unbefangen und unabhängig
vor. Er steht Dienstherrn und Beamten gleichermaßen fern (Urteil vom
9. Oktober 2002 - BVerwG 1 D 3.02 - juris Rn. 22).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Nachweis der Dienstfähigkeit des
Beamten während des Anschuldigungszeitraumes aufgrund des Gutachtens
Dr. P. vom 2. August 2001 und den Ausführungen der Gutachterin in den
Hauptverhandlungen vom 21. Oktober 2004 und vom 12. Oktober 2006 er-
bracht. Die Voraussetzungen, um ihrer medizinischen Beurteilung Vorrang vor
den Befunden der behandelnden Privatärzte einzuräumen, sind erfüllt:
Als Fachärztin für Nervenheilkunde und psychotherapeutische Medizin verfügt
Dr. P. über die erforderliche medizinische Sachkunde. Sie hat ihr Gutachten im
Auftrag des Oberbahnarztes Dr. O. erstellt. Dr. P. hat schlüssig und nachvoll-
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ziehbar begründet, dass der Beamte im Anschuldigungszeitraum nicht aus ge-
sundheitlichen Gründen gehindert war, Dienst zu leisten. Danach hat der Beam-
te nicht an einer die Leistungsfähigkeit mindernden psychischen Erkrankung,
sondern an einem Motivationsdefizit gelitten. In der Hauptverhandlung vom
12. Oktober 2006 hat die Gutachterin plausibel erläutert, die Angaben des Be-
amten bei der Untersuchung am 26. Juli 2001, die aktuelle Anamnese und die
Ergebnisse der testpsychologischen Begutachtung vom gleichen Tag hätten nur
den Schluss zugelassen, dass der Beamte nicht mehr an der im Gutachten vom
11. Januar 2000 festgestellten depressiv-ängstlichen Störung gelitten habe.
Nach ihrer Einschätzung habe der Vorgutachter eine intensive Verhaltensthera-
pie angemahnt, um dem Beamten zu ermöglichen, ohne Gesichtsverlust zu ei-
ner geregelten Berufstätigkeit zurückzufinden. Die Beurteilung Dr. P. stimmt im
Ergebnis mit der Beurteilung in dem Abschlussbericht der Fachklinik ... vom
22. Dezember 2000 überein.
Die Gutachterin hat sich mit den Befunden der Privatärzte auseinandergesetzt
und sowohl den von Dr. H. geäußerten Verdacht auf eine Borderline-Persön-
lichkeitsstörung als auch die von Dr. U. angenommene schwere neurotische
Fehlhaltung schlüssig ausgeräumt. Dr. P. hat bereits in dem Gutachten vom
2. August 2001 plausibel dargelegt, dass keines der typischen Anzeichen für
ein Borderline-Syndrom erkennbar sei und die testpsychologische Untersu-
chung keine Hinweise für eine neurotische Fehlhaltung mit Krankheitswert er-
geben haben. Dies reicht zur Entkräftung der privatärztlichen Befunde aus, weil
diese einer weitergehenden Nachprüfung aus medizinischer Sicht nicht zugäng-
lich sind. Weder Dr. H. noch Dr. U. haben sich zu therapeutischen oder medi-
kamentösen Behandlungsmöglichkeiten, etwa zu Art und Intensität einer Ver-
haltenstherapie oder zur Dosierung von zu verabreichenden Medikamenten
geäußert. Solche Angaben fehlen auch in den Befundberichten, die die Privat-
ärzte nach Kenntnis von dem Gutachten Dr. P. erstellt haben. In der Hauptver-
handlung vom 12. Oktober 2006 hat Dr. P. nochmals überzeugend dargelegt,
dass insbesondere Dr. H. auf den konsequenten Einsatz von antidepressiven
Medikamenten und auf eine intensive psychotherapeutische Behandlung des
Beamten nicht hätte verzichten dürfen, wenn er von einer psychischen Erkran-
kung ausgegangen wäre.
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Im Übrigen kann den Befunden Dr. H. auch deshalb nicht gefolgt werden, weil
dessen Angaben in der Hauptverhandlung vor dem Verwaltungsgericht in dem
entscheidenden Punkt nicht stimmig sind. So hat Dr. H. zunächst angegeben,
der Beamte sei nicht krank, er zeige nur Krankheitssymptome. Er habe dem
Beamten ein Antidepressivum verschrieben, das dieser eigentlich nicht ge-
braucht habe. Demgegenüber hat Dr. H. später auf Nachfrage des Verteidigers
erklärt, den manifesten und objektivierbaren Symptomen des Beamten käme
Krankheitswert zu.
Hinsichtlich des festgestellten unerlaubten Fernbleibens vom Dienst fällt dem
Beamten - wie auch angeschuldigt - Fahrlässigkeit zur Last. Ein vorsätzlicher
Verstoß gegen die Dienstleistungspflicht kann ihm nicht nachgewiesen werden.
Ein dienstfähiger Beamter, der ungenehmigt keinen Dienst leistet, handelt hin-
sichtlich des Tatbestandsmerkmals „Dienstfähigkeit“ mit bedingtem Vorsatz,
wenn er ernsthaft für möglich hält, dienstfähig zu sein, und im Hinblick darauf
billigend in Kauf nimmt, die Dienstleistungspflicht zu verletzen. Dagegen fällt
ihm nur Fahrlässigkeit zur Last, wenn er die Dienstfähigkeit zwar aufgrund der
tatsächlichen Gegebenheiten erkennen muss, aber darauf vertraut, dienstunfä-
hig zu sein und demzufolge nicht gegen die Dienstleistungspflicht zu verstoßen
(Urteil vom 9. April 2002 - BVerwG 1 D 17.01 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 25).
Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Beamte billigend in Kauf
nahm, während des Anschuldigungszeitraumes seine Dienstleistungspflicht zu
verletzen. Jedoch kann ihm nicht mit der erforderlichen Gewissheit widerlegt
werden, dass er weiter darauf vertraut hat, dienstunfähig zu sein.
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Zum einen spricht für bedingten Vorsatz des Beamten, dass sich ihm aufdrän-
gen musste, dass seine Dienststelle für die Frage der Dienstfähigkeit auf die
Ergebnisse des Gutachtens vom 2. August 2001 abstellen würde. Denn ihm
war bekannt, dass diesem Gutachten entscheidende Bedeutung für die Beurtei-
lung seiner Dienstfähigkeit zugedacht war. Der Oberbahnarzt Dr. O. hatte das
Gutachten in Auftrag gegeben, um zu klären, ob seine auf den Abschlussbericht
der Fachklinik ... gestützte positive Einschätzung der Dienstfähigkeit oder die
abweichenden Befunde der Privatärzte zutrafen. Folgerichtig hatte die Dienst-
stelle dem Beamten auch rechtzeitig mitgeteilt, die Krankschreibungen der Pri-
vatärzte würden nur noch solange akzeptiert, bis das Gutachten vorliege.
Zum anderen musste sich der Beamte aufgrund des Vorgehens der Dienststel-
lenleiterin im Oktober und November 2001 darüber im Klaren sein, dass diese
seine Dienstfähigkeit für erwiesen hielt. So wurde der Beamte mit Schreiben
vom 2. und 12. Oktober 2001 zum unverzüglichen Dienstantritt aufgefordert,
nachdem er am 24. September und 11. Oktober 2001 erneut Arbeitsversuche
abgebrochen hatte. Dabei wurde er ausdrücklich darauf hingewiesen, Krank-
schreibungen der Privatärzte könnten ihn nicht mehr entlasten. Auch wurden
disziplinarische Schritte angekündigt. Obwohl der Beamte erneut aktuelle
Dienstunfähigkeitsbescheinigungen seiner Privatärzte eingereicht hatte, leitete
die Dienststellenleiterin ein Disziplinarverfahren ein und stellte durch Bescheid
vom 15. November 2001 den Verlust der Dienstbezüge ab dem 25. September
2001 fest.
Ungeachtet dieser gewichtigen Indizien für bedingten Vorsatz des Beamten
kann wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht sicher ausge-
schlossen werden, dass er weiterhin gutgläubig darauf vertraut hat, dienstunfä-
hig zu sein.
So sind nach der glaubhaften Darstellung des Beamten auch während seiner
Arbeitsversuche vom 10. bis 24. September 2001 und vom 8. bis 11. Oktober
2001 wie in den Jahren zuvor die bekannten körperlichen Beschwerden aufge-
treten. Dies hat seine Privatärzte veranlasst, den Beamten auch in Kenntnis des
Gutachtens vom 2. August 2001 unverändert für dienstunfähig zu halten. Beide
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Privatärzte haben dem Beamten nach Abbruch der Arbeitsversuche Dienstun-
fähigkeitsbescheinigungen ausgestellt, in denen sie der medizinischen Beurtei-
lung Dr. P. entgegengetreten sind und die daran anknüpfenden dienstlichen
Maßnahmen als unverantwortlich angegriffen haben. Schließlich hat der Vertei-
diger dem Beamten im maßgeblichen Zeitraum den Rat gegeben, er solle nicht
zum Dienst gehen, wenn seine Privatärzte dies für richtig hielten und er sich
dazu nicht in der Lage fühle.
Da die Dienststelle die Dienstunfähigkeitsbescheinigungen der Privatärzte jah-
relang akzeptiert hatte, die Arbeitsversuche im September und Oktober 2001
wie stets seit Juni 1998 abliefen, die erste Begutachtung vom 11. Januar 2000
von dem Beamten durchaus im Sinne einer Dienstunfähigkeit verstanden wer-
den konnte, später die Privatärzte den Beamten vehement in der Einschätzung
bestärkten, er sei trotz des Gutachtens vom 2. August 2001 und des Vorgehens
der Dienststelle weiterhin nicht dienstfähig, hätte der Nachweis bedingten Vor-
satzes nur als erbracht angesehen werden können, wenn dem Beamten die
rechtlich hervorgehobene Bedeutung des Gutachtens Dr. P. und der sich darauf
beziehenden bahnärztlichen Stellungnahmen bekannt gewesen wäre. Dieses
Wissen kann ihm nicht unterstellt werden. Zum einen hat ihn die Dienststelle
erst spät in einem Schreiben vom 7. November 2001 - das ihm drei Tage später
zugestellt wurde - über den Grundsatz des Vorrangs bahnärztlicher Beurteilun-
gen belehrt. Zum anderen fehlen Hinweise, dass er auf andere Weise, etwa
durch seinen Verteidiger, über die Rechtslage informiert worden ist. Im Gegen-
teil, durch einen kaum verständlichen Beschluss des Bundesdisziplinargerichts
vom 4. Januar 2002, durch den dem Beamten vorläufiger Rechtsschutz
- andeutungsweise auch aus materiellrechtlichen Gründen - gewährt wurde,
durfte sich der Beamte in seiner Haltung erneut bestärkt sehen.
Nach alledem muss angenommen werden, dass der Beamte seine Dienstfähig-
keit während des Anschuldigungszeitraums nicht billigend in Kauf genommen,
sondern in einer sowohl medizinisch als auch rechtlich schwer überschaubaren
Situation nach der intermittierend auftretenden Symptomatik auf seine Dienst-
unfähigkeit vertraut hat. Dies folgt aus dem Grundsatz „in dubio pro reo“. Da-
nach dürfen nur solche den Beamten belastende Umstände bei der Entschei-
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dungsfindung berücksichtigt werden, an denen nach richterlicher Überzeugung
kein vernünftiger Zweifel besteht. Es muss die dem Beamten günstigste Tatsa-
chengestaltung zugrunde gelegt werden, die sich nicht sicher ausschließen
lässt, weil hinreichende Anhaltspunkte für ihre Richtigkeit vorhanden sind (Urtei-
le vom 30. September 1992 - BVerwG 1 D 32.91 - BVerwGE 93, 294 <297>
und vom 4. Mai 2006 - BVerwG 1 D 13.05 - juris Rn. 19).
3. Das festgestellte Dienstvergehen des Beamten wiegt noch nicht so schwer,
dass die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung aus dem Dienst
(§ 11 BDO) gerechtfertigt ist.
Welche Disziplinarmaßnahme angemessen ist, richtet sich nach der Schwere
des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit
des Beamten (vgl. nunmehr § 13 Abs. 1 Satz 2 und 3 BDG). Die Schwere des
Dienstvergehens beurteilt sich nach objektiven Handlungsmerkmalen wie Ei-
genart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzungen, Häufigkeit und Dauer ei-
nes wiederholten Fehlverhaltens, darüber hinaus nach subjektiven Handlungs-
merkmalen wie Form und Gewicht des Verschuldens des Beamten und Beweg-
gründen für sein Verhalten sowie den unmittelbaren Folgen des Dienstverge-
hens für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Die Entfernung aus dem Dienst
setzt voraus, dass der Beamte durch ein schweres Dienstvergehen das Ver-
trauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat (vgl. nun-
mehr § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG). Ein endgültiger Vertrauensverlust ist eingetre-
ten, wenn aufgrund der Gesamtwürdigung der bedeutsamen Umstände der
Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig seinen Dienst-
pflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen oder aufgrund seines Fehlverhal-
tens sei eine erhebliche, nicht wieder gutzumachende Ansehensbeeinträchti-
gung eingetreten (Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 C 12.04 -
BVerwGE 124, 252 <258 ff.>).
Ein vorsätzliches unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst über einen Zeitraum von
mehreren Monaten ist regelmäßig geeignet, das Vertrauensverhältnis zu zerstö-
ren. Denn aufgrund der Bedeutung und der leichten Einsehbarkeit der Pflicht,
überhaupt zum Dienst zu erscheinen, offenbart das Fernbleiben über einen län-
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geren Zeitraum ein besonders hohes Maß an Verantwortungslosigkeit und
Pflichtvergessenheit (Urteile vom 22. April 1991 - BVerwG 1 D 6.90 -
BVerwGE 93, 78 <80 ff.> und 6. Mai 2003 - BVerwG 1 D 26.02 - juris
Rn. 54 ff.). Daher ist in diesen Fällen die Entfernung aus dem Dienst grundsätz-
lich Ausgangspunkt der Überlegungen zur Bestimmung der angemessenen
Disziplinarmaßnahme. Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende
Indizwirkung entfällt nur dann, wenn im Einzelfall gewichtige Entlastungsgründe
zu Gunsten des Beamten zu berücksichtigen sind.
Dem Beamten kommt zugute, dass nur ein fahrlässiger Verstoß gegen die
Dienstleistungspflicht anzunehmen ist. Die dargestellten tatsächlichen Umstän-
de, die gegen ein bedingt vorsätzliches unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst
sprechen, sind zu seinen Gunsten auch in die Gesamtwürdigung des Fehlver-
haltens einzubeziehen: Die Dienststelle hat die Befunde der Privatärzte seit Ju-
ni 1998 jahrelang akzeptiert. Das Gutachten vom Januar 2000 hat die Auffas-
sung der den Beamten behandelnden Ärzte dem Anschein nach bestätigt. Bei
den Arbeitsversuchen im September und Oktober 2001 sind die bekannten Be-
schwerden aufgetreten. Der Beamte ist erst spät darüber belehrt worden, dass
dem Gutachten vom 2. August 2001 Vorrang gegenüber den Befunden der Pri-
vatärzte zukommt. Dieser Belehrung ist alsbald durch einen Beschluss des
Bundesdisziplinargerichts wieder ihre Wirkung genommen worden, was den
Beamten wieder dem verfehlten anwaltlichen Rat auslieferte. Daher konnten ihn
die Privatärzte und sein Anwalt darin bestärken, trotz des Gutachtens vom
2. August 2001 und des laufenden Disziplinarverfahrens weiterhin dem Dienst
fernzubleiben. Insbesondere hat sein Verteidiger es vermieden, ihn auf das ho-
he Risiko hinzuweisen, dass er im Begriff war, durch sein Verhalten ein
schwerwiegendes Dienstvergehen zu begehen. Weiterhin ist dem Beamten zu-
gute zu halten, dass er sich den Aufforderungen, zum Dienst zu erscheinen,
regelmäßig nicht verweigert hat und diese jeweils aufgrund von Beschwerden
abgebrochen hat.
In Anbetracht dieser besonderen Umstände und den sehr guten Leistungen, die
er bis zum Wegfall seines früheren Dienstpostens erbracht hat, ist das Vertrau-
ensverhältnis aufgrund des Fehlverhaltens des Beamten zwar erheblich er-
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schüttert, es kann aber noch nicht als endgültig zerstört gelten. Wie sein Verhal-
ten seit April 2002 zeigt, gibt es noch Grund zu der Annahme, der Beamte wer-
de seine Dienstleistungspflicht künftig mit der erforderlichen Zuverlässigkeit er-
füllen. Allerdings hält der Senat die stärkste in Betracht kommende Pflichten-
mahnung, nämlich die Zurückstufung um zwei Ämter in das Eingangsamt der
Laufbahn des mittleren Dienstes für geboten. Hierbei fällt auch ins Gewicht,
dass sich der Beamte trotz mehrfacher ärztlicher Hinweise keiner ambulanten
verhaltenstherapeutischen Behandlung unterzogen hat. Die Befunde der Pri-
vatärzte können ihn insoweit nicht entlasten.
Aufgrund der langen Dauer des Disziplinarverfahrens macht der Senat von der
gemäß § 9 Abs. 3 Satz 2 BDG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das an die Zu-
rückstufung anknüpfende Beförderungsverbot auf drei Jahre abzukürzen. Die
Regelung ist auf sog. Altfälle anwendbar, weil sie im Gegensatz zu der Vorgän-
gerregelung des § 10 Abs. 1 Satz 2 BDO eine Verkürzung der Dauer der ge-
setzlich angeordneten fünfjährigen Beförderungssperre ermöglicht und dem-
nach eine materiellrechtliche Besserstellung enthält (Urteil vom 8. September
2004 - BVerwG 1 D 18.03 - Buchholz 235.1 § 85 BDG Nr. 7).
4. Die Berufung des Beamten hat keinen Erfolg, soweit das Verwaltungsgericht
den Verlustfeststellungsbescheid der Leiterin der Dienststelle ... des Bundes-
eisenbahnvermögens vom 15. November 2001 aufrechterhalten hat. Soweit das
Verwaltungsgericht den Bescheid aufgehoben hat, ist das erstinstanzliche Urteil
rechtskräftig geworden. Soweit der Bescheid der Nachprüfung durch den Senat
unterliegt, findet er seine gesetzliche Grundlage in § 9 Satz 1 BBesG. Nach
dieser Vorschrift tritt der Verlust der Dienstbezüge kraft Gesetzes bei schuldhaf-
tem, d.h. auch fahrlässigem unerlaubten Fernbleiben vom Dienst ein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 114 Abs. 2 BDO.
Albers Dr. Müller Dr. Heitz
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse:
nein
Rechtsquellen:
BBG
§ 73 Abs. 1 Satz 1
BBesG
§ 9
BDG
§ 9 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 und 2; § 85 Abs. 1, 3 und 7
BDO
§§ 10, 23a, 25 Satz 1; § 121
Stichworte:
Unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst; Nachweis der Dienstfähigkeit; Vorrang
der medizinischen Beurteilung des Amtsarztes; Bedeutung privatärztlicher Be-
funde; Abgrenzung bedingter Vorsatz und Fahrlässigkeit; Disziplinarmaß bei
ununterbrochenem unerlaubten Fernbleiben von fünfeinhalb Monaten; Zurück-
stufung um zwei Ämter; Beförderungsverbot.
Urteil des Disziplinarsenats vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 2.05
I. VG … vom 11.11.2004 - Az.: VG 38 K 16/04.BDG -