Urteil des BVerwG vom 23.05.2006

Unterhaltsbeitrag, Unwürdigkeit, Rechtsmittelbelehrung, Disziplinarverfahren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 D 18.05
VG 31 D 87/04
In dem Disziplinarverfahren
g e g e n
den Bundesbankobersekretär …,
…,
hat das Bundesverwaltungsgericht, Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 23. Mai 2006,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Heeren,
Postoberrat Heidenreich
und Zollbetriebsinspektor Speck
als ehrenamtliche Richter
sowie
Bundesbankdirektor …,
als Vertreter der Einleitungsbehörde,
Rechtsanwalt …,
als Verteidiger
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und
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Bundesbankobersekretärs
… gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts … vom
7. März 2005 wird dem Beamten ein Unterhaltsbeitrag in
Höhe von 65 v.H. des erdienten Ruhegehalts auf die
Dauer von sechs Monaten bewilligt.
Der Beamte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu
tragen.
G r ü n d e :
I
1. Das Verwaltungsgericht … hat mit Urteil vom 7. März 2005 entschieden,
dass der … Beamte wegen eines schweren Dienstvergehens und dadurch ein-
getretenen endgültigen Vertrauensverlusts aus dem Dienst entfernt wird. Ein
Unterhaltsbeitrag ist dem Beamten nicht bewilligt worden, da er dessen wegen
der langjährigen schwerwiegenden Pflichtverletzungen und der noch in der
Hauptverhandlung gezeigten Uneinsichtigkeit in sein Fehlverhalten - seiner
Meinung nach Bagatellverstöße - unwürdig sei.
2. Der Beamte hat gegen das Urteil - entsprechend der beigefügten Rechtsmit-
telbelehrung - beim Oberverwaltungsgericht … Berufung, beschränkt auf die
Disziplinarmaßnahme, eingelegt. Durch Beschluss vom 14. Dezember 2005 hat
sich das Oberverwaltungsgericht für sachlich unzuständig erklärt und den
Rechtsstreit an das Bundesverwaltungsgericht verwiesen; die Entscheidung
über die Kosten der Verweisung bleibe der Endentscheidung vorbehalten. In
der Hauptverhandlung vor dem Senat hat der Beamte das Rechtsmittel auf die
Bewilligung eines Unterhaltsbeitrags beschränkt und im Übrigen die Berufung
zurückgenommen.
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II
Die auf den Unterhaltsbeitrag beschränkte Berufung hat Erfolg. Sie führt zur
erstmaligen Bewilligung eines Unterhaltsbeitrags.
Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d.h. auch nach Inkrafttreten
des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002 nach den Verfahrensregeln
und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen (vgl. zum
Übergangsrecht z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 -
NVwZ 2002, 1515).
1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist am 19. Dezember 2005, d.h. innerhalb der
Jahresfrist gemäß § 24 Abs. 2 BDO, beim zuständigen Bundesverwaltungsge-
richt (Disziplinarsenat) eingegangen. Die vom Verwaltungsgericht erteilte
Rechtsmittelbelehrung war unrichtig. Nach § 85 Abs. 3 BDG ist für Altverfahren
das Bundesverwaltungsgericht gemäß §§ 80 ff. BDO weiterhin als Berufungs-
gericht zuständig.
2. Die (nachträgliche) Beschränkung des Rechtsmittels auf die erstmalige Be-
willigung eines Unterhaltsbeitrags ist ebenfalls zulässig. Da die Entscheidung
über die Bewilligung oder Versagung einer solchen finanziellen Unterstützung
als gerichtliche Nebenentscheidung einen rechtlich abgrenzbaren Teil des erst-
instanzlichen Urteilsausspruchs darstellt, kann sie zum Gegenstand einer selb-
ständigen Prüfung und Rechtsmittelentscheidung gemacht werden (stRspr, z.B.
Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 1 D 12.04 - m.w.N.).
Die Beschränkung der Berufung auf den Unterhaltsbeitrag hat zur Folge, dass
der Senat an die Tat- und Schuldfeststellungen des Verwaltungsgerichts eben-
so gebunden ist wie an die rechtliche Bewertung als Dienstvergehen und an die
Rechtsfolge der Entfernung des Beamten aus dem Dienst; er hat nur noch über
den Unterhaltsbeitrag zu befinden.
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3. Dem Beamten steht gemäß § 77 Abs. 1 BDO ein Unterhaltsbeitrag in Höhe
von 65 v.H. des erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von 6 Monaten zu. Die
erstmalige Bewilligung eines Unterhaltsbeitrags richtet sich auch nach dem
1. Januar 2002 nach § 77 Abs. 1 BDO, weil das förmliche Disziplinarverfahren
gegen den Beamten bereits 1997, d.h. vor Inkrafttreten des Bundesdisziplinar-
gesetzes, eingeleitet worden war (vgl. § 85 Abs. 3 BDG). Gemäß § 77 Abs. 1
BDO kann das Gericht dem Verurteilten in einem auf Entfernung aus dem
Dienst lautenden Urteil einen Unterhaltsbeitrag - höchstens 75 v.H. des erdien-
ten Ruhegehalts - auf bestimmte Zeit bewilligen, wenn der Verurteilte nach sei-
ner wirtschaftlichen Lage der Unterstützung bedürftig und ihrer nicht unwürdig
erscheint. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
a) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Beamte eines Un-
terhaltsbeitrags nicht unwürdig. Aus der Zweckbestimmung des Unterhaltsbei-
trags als Ausdruck einer das Beamtenverhältnis überdauernden Fürsorgepflicht
des Dienstherrn, dem Beamten den durch den Wegfall der Dienstbezüge not-
wendig gewordenen Übergang in einen anderen Beruf oder in eine andere Art
der finanziellen Existenzsicherung zu erleichtern, folgt, dass nicht bei jedem
zum endgültigen Vertrauensverlust und deshalb zur Dienstentfernung führen-
den schweren Dienstvergehen eine Unwürdigkeit im Sinne des Gesetzes vor-
liegt. § 77 Abs. 1 Satz 1 BDO geht vielmehr davon aus, dass der verurteilte Be-
amte grundsätzlich eines Unterhaltsbeitrags würdig ist (Beschluss vom 1. März
2001 - BVerwG 1 DB 3.01 -). Nur in Ausnahmefällen kann sich eine Unwürdig-
keit aus besonderen Umständen in der Person des Beamten und/oder in des-
sen objektivem oder subjektivem Tatverhalten ergeben, wie z.B. aus äußerlich
erkennbarer und auch innerer „Lösung“ vom Dienstherrn (Urteile vom 12. April
1994 - BVerwG 1 D 33.93 -, vom 9. Juli 1996 - BVerwG 1 D 28.96 - und vom
1. Juni 1999 - BVerwG 1 D 49.97 - BVerwGE 113, 337 <339 f.>), ehrloser Ge-
sinnung, kriminellem Hang, Vielzahl und Dauer der Verfehlungen, besonders
schwerem Bruch der Rechtsordnung (z.B. Geheimnisverrat über längeren Zeit-
raum, Urteil vom 28. März 1995 - BVerwG 1 D 39.94 - Buchholz 232 § 70 BBG
Nr. 1; Korruption, vgl. dazu insgesamt Urteil vom 12. September 1995
- BVerwG 1 D 29.93 -), aber auch bei vorsätzlich falschen Angaben gegenüber
dem Gericht bezüglich erzielter Einkünfte (z.B. Beschluss vom 26. Januar 1994
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- BVerwG 1 DB 3.94 - ZBR 1994, 230); die Unwürdigkeit muss dann im Einzel-
fall zur Überzeugung des Gerichts feststehen (vgl. Beschluss vom 1. März 2001
a.a.O., m.w.N.).
Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Der Beamte hat keinen „Hang zum
Kriminellen“ gezeigt. Vom weitgehend sachgleichen Strafvorwurf ist er überwie-
gend freigesprochen worden; zum Teil wurde das Strafverfahren gegen Zah-
lung einer Geldbuße endgültig eingestellt. Auch im Übrigen hat der Beamte bei
seiner nicht genehmigungsfähigen Nebentätigkeit die sozial- und steuerrechtli-
chen Vorschriften beachtet. Ein wirtschaftlicher Schaden ist der Bundesbank
ebenfalls nicht entstanden. Ob völlige Uneinsichtigkeit in die Schwere des ei-
genen - tatsächlich nicht bestrittenen - Fehlverhaltens im Einzelfall geeignet
sein kann, eine Unwürdigkeit i.S.d. § 77 Abs. 1 Satz 1 BDO zu begründen, kann
offen bleiben. In der Hauptverhandlung vor dem Senat hat sich der Beamte
jedenfalls nicht als uneinsichtig gezeigt. Insbesondere hat er die unstreitig
festgestellten Pflichtverletzungen nicht als Bagatellverstöße bezeichnet. Er hat
sich dahin eingelassen, hätte er gewusst, dass sein Handeln rechts- und
pflichtwidrig gewesen sei, hätte er davon Abstand genommen. Dies erscheint
glaubhaft. Denn es stimmt mit seiner Einlassung im Strafverfahren überein.
Mangels Tatvorsatzes war er deshalb auch von einem Diebstahlsvorwurf über-
wiegend freigesprochen worden. Gegen Unwürdigkeit spricht schließlich auch
der Umstand, dass der Beamte disziplinarisch nicht vorbelastet und dienstlich
gut beurteilt worden ist.
b) In der zuerkannten Höhe ist der Beamte auch nach seinen gegenwärtigen
wirtschaftlichen Verhältnissen eines Unterhaltsbeitrags bedürftig. Als Maßstab
für die Bedarfsberechnung stellt der Senat auf die pauschalierten Regelleistun-
gen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitsuchende (§ 20 SGB II
- Grundsicherung für Arbeitsuchende -) ab, ergänzt um die tatsächlichen mo-
natlichen Aufwendungen des Beamten und seiner Lebenspartnerin (Bedarfs-
gemeinschaft) für Unterkunft und Heizung sowie Kranken- und Pflegeversiche-
rung, aber unter Anrechung des berücksichtigungsfähigen Einkommens, das
die Lebenspartnerin als Zahnarzthelferin erzielt (vgl. dazu Urteil vom 8. März
2005 - BVerwG 1 D 15.04 -).
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c) Die Bewilligungsdauer von sechs Monaten entspricht der ständigen Praxis
des Senats. Sie reicht (vorerst) aus, um die Möglichkeiten eines Übergangs in
einen anderen Beruf oder in eine andere Art der finanziellen Existenzsicherung
klären zu können. Dem liegt die Erwartung zugrunde, dass sich der Beamte
nachweisbar und in ausreichendem Maße, d.h. fortlaufend, um die Aufnahme
einer anderen Erwerbstätigkeit oder um eine andere Art der Sicherung seiner
finanziellen Lebensgrundlagen bemüht. Der Senat macht vorsorglich darauf
aufmerksam, dass sich die Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz nicht auf
die Meldung beim Arbeitsamt (Agentur für Arbeit) als arbeitsuchend beschrän-
ken dürfen. Der Beamte ist von vornherein gehalten, sich rechtzeitig und fort-
während z.B. auf Arbeitsplatzangebote in den Tageszeitungen oder im Internet
zu bewerben und auch selbst, beispielsweise durch eigene Stellengesuche,
initiativ zu werden. Dabei ist es ihm auch zuzumuten, einfache Arbeiten, die
keine oder nur eine geringe Qualifikation voraussetzen, anzunehmen. Bei Er-
folglosigkeit ist der Nachweis dieser Bemühungen Voraussetzung einer etwai-
gen Weiterbewilligung des Unterhaltsbeitrags gemäß § 110 Abs. 2 BDO. Diese
ist gegebenenfalls beim zuständigen Verwaltungsgericht zu beantragen (vgl.
zur Rechtslage nach dem am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Bundesdiszi-
plinargesetz: Senatsbeschlüsse vom 15. Januar 2002 - BVerwG 1 DB 34.01 -
Buchholz 235 § 110 BDO Nr. 10 = ZBR 2002, 436 = DokBer B 2002, 95 und
vom 19. Oktober 2004 - BVerwG 1 DB 5.04 -).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 114 Abs. 1 Satz 1 BDO. Danach hat der
Beamte die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, soweit er das Rechts-
mittel nachträglich beschränkt und damit teilweise zurückgenommen hat. Eine
Kostenquotelung unter dem Gesichtspunkt der antragsgemäß erstmaligen Be-
willigung eines Unterhaltsbeitrags kommt nicht in Betracht, weil es sich im Hin-
blick auf die zunächst eingelegte Berufung nur um einen unwesentlichen Teil-
erfolg handelt (stRspr, vgl. zuletzt Urteil vom 15. Oktober 2003 - BVerwG 1 D
9.03 - m.w.N.). Eine Freistellung von Mehrkosten, die auf Grund der unrichtigen
Rechtsmittelbelehrung des Verwaltungsgerichts durch die Anrufung des Ober-
verwaltungsgerichts … eventuell entstanden sind - gerichtliche Disziplinarver-
fahren sind gemäß § 111 Abs. 1 BDO gebührenfrei -, scheidet ebenfalls aus.
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Die Folgen einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung sind für das Disziplinarver-
fahren in § 24 Abs. 2 BDO abschließend geregelt. Eine dem Bund obliegende
Pflicht zur Kostentragung und Auslagenerstattung gehört hierzu nicht. Sie ergibt
sich insoweit auch nicht aus den kostenrechtlichen Vorschriften der §§ 113 ff.
BDO (vgl. Beschlüsse vom 9. Mai 1996 - BVerwG 1 DB 7.96 - DokBer B 1996,
276 und vom 19. Dezember 1997 - BVerwG 1 DB 1.97 - Buchholz 235 § 119
BDO Nr. 1, jeweils m.w.N.).
Albers Dr. Müller Heeren
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Formelles Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse: nein
Rechtsquellen:
BDG
§ 85 Abs. 3
BDO
§ 24 Abs. 2, § 77 Abs. 1
SGB II
§ 20
Stichworte:
Entfernung des Beamten aus dem Dienst (Altfall); fehlerhafte erstinstanzliche
Rechtsmittelbelehrung; nachträglich auf den Unterhaltsbeitrag beschränkte Be-
rufung des Beamten; erstmalige Bewilligung des Unterhaltsbeitrags nach altem
Recht; keine Unwürdigkeit i.S.d. § 77 Abs. 1 BDO.
Urteil des Disziplinarsenats vom 23. Mai 2006 - BVerwG 1 D 18.05
I. VG … vom 07.03.2005 - Az.: VG 31 D 87/04 -