Urteil des BVerwG vom 20.10.2005

Unterhaltsbeitrag, Krankenversicherung, Disziplinarverfahren, Sozialhilfe

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 D 12.04
VG … 6a D 03.02558
In dem Disziplinarverfahren
g e g e n
den Bundesbahnobersekretär a.D. … ,
…,
hat das Bundesverwaltungsgericht, Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 20. Oktober 2005,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht
A l b e r s ,
Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M ü l l e r ,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht
H e e r e n ,
Bundesbankdirektor P a c h e
und Amtsinspektor W u n d e r
als ehrenamtliche Richter
sowie
Regierungsdirektor …
als Vertreter der Einleitungsbehörde,
Rechtsanwalt … , …,
als Verteidiger
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und
Geschäftsstellenverwalterin …
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Bundesbahnobersekretärs a.D. …
wird das Urteil des … Verwaltungsgerichts … vom 1. März
2004 dahin geändert, dass der Unterhaltsbeitrag für die
Dauer von 12 Monaten auf 75 v.H. des erdienten Ruhege-
halts festgesetzt wird.
Der Ruhestandsbeamte hat die Kosten des Berufungsver-
fahrens zu tragen.
G r ü n d e :
I.
Das … Verwaltungsgericht … hat mit Urteil vom 1. März 2004 entschie-
den, dass dem … Ruhestandsbeamten wegen eines schweren Dienstvergehens das
Ruhegehalt aberkannt wird. Zugleich ist dem Ruhestandsbeamten ein Unterhaltsbei-
trag i.H.v. 50 v.H. seines erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von sechs Monaten
bewilligt worden.
Der Ruhestandsbeamte hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
zunächst Berufung, beschränkt auf die Disziplinarmaßnahme, eingelegt. In der
Hauptverhandlung vor dem Senat hat er das Rechtsmittel auf die Gewährung eines
erweiterten Unterhaltsbeitrags beschränkt und beantragt, ihm einen Unterhaltsbeitrag
i.H.v. 75 v.H. des erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von 12 Monaten zu be-
willigen.
II.
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Die auf den Unterhaltsbeitrag beschränkte Berufung hat Erfolg. Sie führt
zu der beantragten Bewilligung eines Unterhaltsbeitrags in erweitertem Umfang.
Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, das heißt auch nach
In-Kraft-Treten des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002 nach den Verfah-
rensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen (vgl. zum
Übergangsrecht z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 -).
1. Die (nachträgliche) Beschränkung des Rechtsmittels auf die Gewäh-
rung eines Unterhaltsbeitrags in erweitertem Umfang ist zulässig. Da die Entschei-
dung über die Bewilligung oder Versagung einer solchen finanziellen Unterstützung
als gerichtliche Nebenentscheidung einen rechtlich abgrenzbaren Teil des erstin-
stanzlichen Urteilsausspruchs darstellt, kann sie zum Gegenstand einer selbständi-
gen Prüfung und Rechtsmittelentscheidung gemacht werden (stRspr, z.B. Urteil vom
22. Februar 2000 - BVerwG 1 D 20.99 - m.w.N.).
Die Beschränkung der Berufung auf den Unterhaltsbeitrag hat zur Folge,
dass der Senat an die Tat- und Schuldfeststellungen des Verwaltungsgerichts eben-
so gebunden ist wie an die rechtliche Bewertung als Dienstvergehen und an die
Rechtsfolge der Aberkennung des Ruhegehalts; er hat nur noch über den Unter-
haltsbeitrag zu befinden.
2. Dem Ruhestandsbeamten steht gemäß § 77 Abs. 1 BDO ein Unter-
haltsbeitrag zum beantragten gesetzlichen Höchstsatz von 75 v.H. des erdienten
Ruhegehalts auf die Dauer von 12 Monaten zu.
Der Ruhestandsbeamte ist eines Unterhaltsbeitrags nicht unwürdig. An
diese Entscheidung der Vorinstanz ist der Senat ebenfalls gebunden, da der Vertre-
ter der Einleitungsbehörde, der in die Rechtsstellung des Bundesdisziplinaranwalts
eingetreten ist (Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 D 33.02 - BVerwGE 120, 33
<44 f.>), in der Hauptverhandlung keinen Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 4
BDO gestellt hat (vgl. dazu Urteil vom 24. Oktober 1995 - BVerwG 1 D 44.94 -
m.w.N.). In der zuerkannten Höhe ist der Ruhestandsbeamte nach seinen gegenwär-
tigen wirtschaftlichen Verhältnissen auch eines Unterhaltsbeitrags bedürftig. Gemes-
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sen an den … … derzeit geltenden Regelsätzen der Sozialhilfe für nicht erwerbsfähi-
ge Personen, insbesondere der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(§§ 41 ff. i.V.m. §§ 28, 40 SGB XII und der Regelsatzverordnung vom 3. Juni 2004,
BGBl I S. 1067), die der Senat in Fortführung seiner Rechtsprechung zum Unter-
haltsbeitragsrecht am Maßstab des früheren Bundessozialhilfegesetzes als ungefäh-
re Richtlinie für den notwendigen Lebensunterhalt anwendet, bemisst sich der mo-
natliche Bedarf des Ruhestandsbeamten und seiner Ehefrau auf insgesamt 614 €
(341 € + 273 €). Hinzu kommen pro Monat 251 € Wohnungsnebenkosten und ca.
606 € Beitragskosten für Kranken- und Pflegeversicherung in der Krankenversorgung
der Bundesbahnbeamten. Dem so errechneten Monatsgesamtbedarf des Ru-
hestandsbeamten i.H.v. ca. 1 471 € stehen die Renteneinkünfte seiner Ehefrau von
256 € gegenüber. Unter Berücksichtigung des Netto-Ruhegehalts von ca. 1 331 €
ergibt sich danach der zu bewilligende Unterhaltsbeitrags-Höchstsatz von 75 v.H.
des erdienten Ruhegehalts.
Der Senat hat den Bewilligungszeitraum antragsgemäß auf 12 Monate
erweitert. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Ruhestandbeamte einer fi-
nanziellen Zwangslage oder aber der Notwendigkeit einer Antragstellung nach § 110
Abs. 2 Satz 2 BDO gegenüber sieht, wenn Verzögerungen bei der Nachversiche-
rung, der Festsetzung und der Auszahlung der gesetzlichen Rente auftreten sollten.
Im Hinblick auf die Anrechenbarkeit und die Abtretungspflicht zeitgleich bezogener
Renten (vgl. § 77 Abs. 2 Satz 1 und 2 BDO) ist das Risiko einer Zweckentfremdung
des Unterhaltsbeitrags für den Fall einer etwaigen früheren Rentengewährung auf-
grund einer Laufzeitverlängerung des Unterhaltsbeitrags für den Dienstherrn ver-
meidbar (vgl. dazu Urteil vom 26. September 2001 - BVerwG 1 D 32.00 - m.w.N.).
Sollten dem Ruhestandsbeamten nach erfolgter Nachversicherung und
gegebenenfalls vergeblicher Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialhilfe nebst
"Hilfen zur Gesundheit" (vgl. dazu § 19 Abs. 3, §§ 47 ff. SGB XII, § 264 Abs. 2
SGB V; diese Hilfen entsprechen den Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung, vgl. § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) insgesamt keine ausreichenden Mittel zur
Führung eines Lebens in Würde (vgl. dazu § 1 Satz 1 SGB XII) verbleiben, so steht
es ihm frei, beim zuständigen Verwaltungsgericht gemäß § 110 Abs. 2 Satz 2 BDO
unter Vorlage entsprechender Nachweise einen Antrag auf Weiterbewilligung eines
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Unterhaltsbeitrags zu stellen (vgl. dazu grundsätzlich Beschluss vom 15. Januar
2002 - BVerwG 1 DB 34.01 - DÖD 2002, 97 = ZBR 2002, 436 = DokBer B 2002, 95).
Dem Antrag wären zur Glaubhaftmachung Bescheide über die Höhe der Nachversi-
cherung und die Versagung einer günstigeren Krankenversicherung auf öffentlich-
rechtlicher Grundlage bzw. von "Hilfen zur Gesundheit" beizufügen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 114 Abs. 1 Satz 1 BDO. Danach
hat der Ruhestandsbeamte die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, soweit er
das Rechtsmittel nachträglich beschränkt und damit teilweise zurückgenommen hat.
Eine Kostenquotelung unter dem Gesichtspunkt der antragsgemäß erweiterten Un-
terhaltsbeitragsbewilligung kommt nicht in Betracht, weil es sich im Hinblick auf die
zunächst eingelegte Berufung nur um einen unbedeutenden Teilerfolg handelt
(stRspr, vgl. zuletzt Urteil vom 26. April 2004 - BVerwG 1 D 3.03 - m.w.N.).
Albers Müller Heeren
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Formelles Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse: nein
Rechtsquellen:
BDO
§ 77
SGB XII §§ 28, 40, 41 ff.
Stichworte:
Aberkennung des Ruhegehalts (Altfall); nachträglich auf den Unterhaltsbeitrag be-
schränkte Berufung des Ruhestandsbeamten; Berechnung des Unterhaltsbeitrags-
satzes am Maßstab der Sozialhilferegelsätze gemäß SGB XII; erweiterter Bewilli-
gungszeitraum im Hinblick auf mögliche Verzögerungen bei der Nachversicherung.
Urteil des Disziplinarsenats vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 1 D 12.04
I. … VG … vom 01.03.2004 - Az.: VG … 6a D 03.02558 -