Urteil des BVerwG vom 19.02.2015

Einreise, Extensive Auslegung, Aufenthaltserlaubnis, Ultra Petita

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Ausländerrecht
Rechtsquelle/n:
Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei - ZP
- Art. 41 Abs. 1
AufenthG § 4 Abs. 1 Satz 1, § 6 Abs. 1 Nr. 1
AuslG 1965 § 2 Abs. 1 und 3
DVAuslG 1965 § 1 Abs. 2 Nr. 1 und 2, § 5 Abs. 1
Stichworte:
Assoziationsrecht EWG-Türkei; Beratungstätigkeit; Besuchs- und
Touristenaufenthalt; Dienstleistung; Dienstleistungsfreiheit; Einreise;
Erwerbstätigkeit; kurzfristiger Aufenthalt; selbständiger Unternehmer;
Stillhalteklausel; Schengen-Visum; Verschlechterungsverbot; Visumpflicht.
Leitsatz/-sätze:
1. Weder bei Inkrafttreten des Art. 41 Abs. 1 ZP am 1. Januar 1973 noch zu
einem späteren Zeitpunkt waren türkische Staatsangehörige, die als selbständige
Unternehmer Dienstleistungen im Bundesgebiet für mindestens zwei Monate im
Jahr erbringen wollten, berechtigt, ohne vorherige Einholung eines Visums in das
Bundesgebiet einzureisen. Die nach aktuellem Recht geltende Visumpflicht stellt
daher keine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 41 Abs. 1 ZP dar.
2. Unter der Geltung des Ausländergesetzes 1965 bedurften türkische
Staatsangehörige, die als selbständige Unternehmer Dienstleistungen im
Bundesgebiet nicht nur anbieten, sondern auch aktiv erbringen wollten, gemäß §
2 Abs. 3 AuslG 1965 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 der
Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks. Die in § 1
Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 aufgeführte Befreiung von der
Aufenthaltserlaubnispflicht galt nur für Besuchs- und Touristenaufenthalte sowie
Kurzaufenthalte, die über eine Geschäftsanbahnung nicht hinausgingen.
Urteil des 1. Senats vom 19. Februar 2015 - BVerwG 1 C 9.14
I. VG Berlin vom 12. März 2012
Az: VG 20 K 189.10 V
II. OVG Berlin-Brandenburg vom 26. März 2014
Az: OVG 11 B 10.14
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 9.14
OVG 11 B 10.14
Verkündet
am 19. Februar 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. Februar 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
26. März 2014 geändert. Die Berufung des Klägers ge-
gen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom
12. März 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
und die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme
der durch die Berufungsrücknahme der Beklagten ent-
standenen Kosten; diese trägt die Beklagte.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, ist als selbständiger Unternehmer
auf dem Gebiet der Software-Beratung tätig und Inhaber einer in Istanbul an-
sässigen Firma. Diese Firma hatte einen Dienstleistungsauftrag mit einer in
Göteborg/Schweden ansässigen Firma zu dem Zweck geschlossen, für ein
deutsches Software-Unternehmen bei deren Kunden, einem deutschen Groß-
unternehmen, "detaillierte technische Spezifikationen" auszuarbeiten.
Am 23. April 2010 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Einladung des
deutschen Großunternehmens bei dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul
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die Erteilung eines Schengen-Visums zu Geschäftsreisen für den Zeitraum von
45 Tagen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags durch Bescheid des General-
konsulats der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul vom 27. April 2010
remonstrierte der Kläger. Er machte geltend, er dürfe nach Art. 41 Abs. 1
Zusatzprotokoll zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei i.V.m. § 1 Abs. 2
Nr. 1 DVAuslG 1965 visumfrei einreisen, um die genannten Dienstleistungen zu
erbringen. Durch Remonstrationsbescheid vom 26. Mai 2010 teilte das Gene-
ralkonsulat dem Kläger mit, dass er nicht berechtigt sei, visumfrei zu Ge-
schäftszwecken einzureisen, und wies den Antrag des Klägers auf Erteilung
eines zustimmungsfreien Schengen-Visums zurück.
Hiergegen richtete sich die Klage des Klägers, mit der er beantragte, festzustel-
len, dass er berechtigt sei, visumfrei für seine Firma zur Erbringung von Dienst-
leistungen im Rahmen von Auftragsverhältnissen nach Deutschland einzurei-
sen, hilfsweise, festzustellen, dass die Ablehnung des Visums durch den Re-
monstrationsbescheid des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland
in Istanbul vom 26. Mai 2010 rechtswidrig gewesen ist.
Durch Urteil vom 12. März 2012 hat das Verwaltungsgericht dem Hilfsantrag
des Klägers stattgegeben und im Übrigen die Klage abgewiesen. Sowohl der
Kläger als auch die Beklagte legten gegen dieses Urteil Berufung ein. In der
mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht nahm die Beklagte
ihre Berufung zurück.
Mit Urteil vom 26. März 2014 hat das Oberverwaltungsgericht das Berufungs-
verfahren der Beklagten eingestellt sowie auf die Berufung des Klägers das Ur-
teil des Verwaltungsgerichts geändert und festgestellt, dass der Kläger berech-
tigt ist, unter Beibehaltung seines gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei im
Rahmen von Auftragsverhältnissen visumfrei für seine Firma mit Sitz in
Istanbul/Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen an Personen im Rahmen
ihres Geschäftsbetriebes einzureisen und sich zu diesem Zweck nicht länger
als drei Monate in Deutschland aufzuhalten. Entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts sei der Kläger aufgrund von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll
berechtigt, zur Ausübung der von ihm beabsichtigten Beratungstätigkeiten vi-
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sumfrei einzureisen. Die bei Inkrafttreten dieses Verschlechterungsverbots gel-
tende nationale Rechtslage hätte vorgesehen, dass die Aufenthaltserlaubnis vor
der Einreise in Form eines Sichtvermerks von Ausländern einzuholen gewesen
sei, die im Geltungsbereich des Ausländergesetzes eine Erwerbstätigkeit hätten
ausüben wollen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965). Gemäß § 2 Abs. 3 AuslG
1965 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 hätten Staatsangehörige der in der
Anlage zu dieser Verordnung aufgeführten Staaten, zu der die Türkei seinerzeit
noch gehört habe, und die Inhaber von Nationalpässen gewesen seien, keiner
Aufenthaltserlaubnis bedurft, wenn sie sich nicht länger als drei Monate im Gel-
tungsbereich des Ausländergesetzes hätten aufhalten und keine Erwerbstätig-
keit hätten ausüben wollen. Ferner sei der Aufenthalt gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2
DVAuslG 1965 erlaubnisfrei gewesen, wenn türkische Staatsangehörige als
Inhaber von Nationalpässen sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des
Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorüber-
gehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländer-
gesetzes aufgehalten hätten, sofern die Dauer des Aufenthaltes zwei Monate
nicht überstieg.
Der Begriff der Erwerbstätigkeit sei in Nr. 14 und 15 der Verwaltungsvorschrift
zum Ausländergesetz 1965 (AuslGVwv) definiert. Es sei unstreitig, dass die
vom Kläger beabsichtigten Dienstleistungen die Definition der Erwerbstätigkeit
im Sinne von Nr. 14 AuslGVwv zu § 2 AuslG 1965 erfüllten. Entgegen der Auf-
fassung des Verwaltungsgerichts könne sich der Kläger aber auf die Ausnah-
medefinition der Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG 1965 berufen, die ihren An-
wendungsbereich dem Wortlaut nach nicht auf Arbeitnehmer eines ausländi-
schen Unternehmens beschränke, so dass auch eine entsprechende Tätigkeit
des Unternehmers selbst erfasst gewesen sei. Die Wortbedeutung des in Nr. 15
AuslGVwv enthaltenen Begriffs "anbieten" lasse es zu, das Angebot und des-
sen Erfüllung als eine Einheit anzusehen. Es sei kein sachgerechter Grund er-
sichtlich, warum Arbeitnehmer eines ausländischen Unternehmers berechtigt
gewesen sein sollten, visumfrei einzureisen, um für ihren Arbeitgeber Dienst-
leistungen zu erbringen, dies andererseits aber dem Arbeitgeber selbst nicht
möglich gewesen sein sollte.
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Die Beklagte hat die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision einge-
legt. Sie macht einen Bundesrechtsverstoß geltend. Das Oberverwaltungsge-
richt habe zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf visumfreie Einreise in
das Bundesgebiet auf der Grundlage des § 2 Abs. 3 AuslG 1965 i.V.m. § 1
Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 angenommen. Zentrale Regelung der DVAuslG
1965 sei § 5 Abs. 1 Nr. 1, wonach Ausländer, die im Geltungsbereich des Aus-
ländergesetzes eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten, vor der Einreise einer
Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks bedurften. Als Erwerbstä-
tigkeit in diesem Sinne sei in Rechtsprechung und Literatur jede selbständige
oder unselbständige Tätigkeit verstanden worden, die auf Erzielung von Gewinn
gerichtet oder für die ein Entgelt vereinbart oder den Umständen nach zu erwar-
ten ist. Nach dieser Definition sei die vorübergehende Erbringung von Dienst-
leistungen gegen Entgelt, wie sie der Kläger beabsichtige, stets eine Erwerbstä-
tigkeit. Etwas anderes folge auch nicht aus Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG
1965. Die extensive Auslegung dieser Bestimmung durch das Oberverwal-
tungsgericht sei begrifflich nicht überzeugend, widerspreche der Systematik der
DVAuslG 1965 sowie den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz und
sei nicht mit der historischen Auslegung des Begriffs der Erwerbstätigkeit in
Einklang zu bringen. Auch aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965 folge kein An-
spruch auf visumfreie Einreise, weil sich diese Vorschrift ihrem eindeutigen
Wortlaut nach ausschließlich auf Arbeitnehmer beziehe, die im Dienst eines im
Ausland ansässigen Arbeitgebers stehen. Selbständige seien von der Regelung
nicht erfasst gewesen.
Der Kläger bezieht sich auf die Ausführungen des Berufungsgerichts und trägt
ergänzend vor: Das Berufungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass
der Kläger sich auf Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG 1965 berufen könne. Die
Durchführung seiner Dienstleistung im Rahmen des Geschäftsbetriebes seines
deutschen Auftraggebers sei nicht als Erwerbstätigkeit im Sinne der einschlägi-
gen Vorschriften anzusehen. Bereits der Auffassung der Beklagten, § 1 Abs. 2
Nr. 1 DVAuslG 1965 regele nur Kurzaufenthalte zu nichtgeschäftlichen Be-
suchszwecken, könne nicht gefolgt werden. Vielmehr würden von dieser Vor-
schrift auch Geschäftsreisende erfasst, die im Rahmen des sogenannten klei-
nen Geschäftsverkehrs oder als Geschäftsreisende in das Bundesgebiet einrei-
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sen wollten. Somit sei § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 im Zusammenhang mit
Nr. 14 und 15 AuslGVwv zu lesen, da die Nr. 15 AuslGVwv ansonsten ihres
Anwendungsbereichs beraubt würde. Das Berufungsgericht sei ferner zu Recht
davon ausgegangen, dass unter "Dienstleistung ... anbieten" im Sinne von
Nr. 15 AuslGVwv auch die Dienstleistungserbringung zu verstehen sei. Es liege
schließlich auch kein Verstoß gegen § 88 VwGO vor. Da der Kläger die
Rechtsgrundlage für sein Begehren (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965) genannt
habe und sich hieraus eine Aufenthaltszeit von drei Monaten ergebe, habe das
Berufungsgericht wie erfolgt entscheiden können.
II
Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf der Ver-
letzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Kläger hat keinen
Anspruch auf die Feststellung, dass er berechtigt ist, visumfrei für seine Firma
mit Sitz in der Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Auf-
tragsverhältnissen nach Deutschland einzureisen und sich zu diesem Zweck bis
zu drei Monaten in Deutschland aufzuhalten. Das Berufungsurteil war deshalb
aufzuheben und das die Feststellungsklage abweisende Urteil des Verwal-
tungsgerichts wiederherzustellen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
1. Zwar hat das Berufungsgericht nicht gegen Verfahrensrecht verstoßen. Es
hat § 88 VwGO (ne ultra petita) nicht missachtet. Gemäß § 88 VwGO darf das
Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung
der Anträge nicht gebunden.
Das Berufungsgericht hat § 88 VwGO nicht dadurch verletzt, dass es feststellte,
der Kläger sei zu einem dreimonatigen Aufenthalt in Deutschland berechtigt.
Das Gericht ist gemäß § 88 VwGO an das Klagebegehren gebunden, d.h. an
den aus dem Gesamtvorbringen des Klägers im Wege der Auslegung zu ermit-
telnden Klageantrag, der den Streitgegenstand bestimmt. Es darf dem Kläger
weder mehr (quantitativ) noch der Art nach etwas anderes (aliud) zusprechen.
Gebunden ist das Gericht nur an das erkennbare Klageziel. Wesentlich ist der
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geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonsti-
gen Umständen ergibt (Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 88 Rn. 1, 3).
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Kläger im Verfahren zum Aus-
druck gebracht, dass er sich auch länger als zwei Monate im Bundesgebiet auf-
halten will. Denn er beantragte, festzustellen, dass er berechtigt sei, zur Erbrin-
gung von Dienstleistungen visumfrei einzureisen und sich zu diesem Zweck
"mindestens" zwei Monate im Jahr in Deutschland aufzuhalten. Im Übrigen ent-
sprach es dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Klägers, dass eine Berechti-
gung zum Aufenthalt im gesetzlich zulässigen zeitlichen Umfang ausgespro-
chen wird.
2. Das Berufungsurteil beruht aber in sachlicher Hinsicht auf einem Verstoß
gegen revisibles Recht.
Im Ergebnis zutreffend ist das Berufungsgericht zwar zunächst davon ausge-
gangen, dass der Kläger nach derzeit gültiger Rechtslage visumpflichtig ist.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 sowie Anhang I der Ver-
ordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der
Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außen-
grenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer,
deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. Nr. L 81 S. 1),
bedürfen türkische Staatsangehörige für die Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland grundsätzlich der vorherigen Erteilung eines Visums. Für den von
dem Kläger angestrebten Aufenthalt von nicht mehr als drei Monaten je
Sechsmonatszeitraum benötigt er ein Schengen-Visum (§ 6 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG i.V.m. der Verordnung Nr. 810/2009 des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemein-
schaft (Visakodex) (ABl. Nr. L 243 S. 1, ber. ABl. 2013 Nr. L 154 S. 10).
3. Das Berufungsgericht hat aber zu Unrecht angenommen, dass der Kläger
aufgrund von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom
12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäi-
schen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der As-
soziation (BGBl. 1971 II S. 385) - ZP - berechtigt ist, zur Ausübung der von ihm
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beabsichtigten entgeltlichen Beratungstätigkeiten visumfrei einzureisen und sich
zu diesem Zweck nicht länger als drei Monate in Deutschland aufzuhalten.
3.1 Art. 41 Abs. 1 ZP bestimmt, dass die Vertragsparteien untereinander keine
neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleis-
tungsverkehrs einführen werden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist
die in Art. 41 Abs. 1 ZP enthaltene Stillhalteklausel zwar nicht aus sich heraus
geeignet, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Gemein-
schaftsrechts ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufent-
haltsrecht zu verleihen, und kann ihnen auch weder ein Recht auf freien Dienst-
leistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mit-
gliedstaates verschaffen (EuGH, Urteile vom 11. Mai 2000 - C-37/98
[ECLI:EU:C:2000:224], Savas - Rn. 64 und 71 dritter Gedankenstrich und vom
21. Oktober 2003 - C-317/01, C-369/01 [ECLI:EU:C:2003:572], Abatay
u.a. - Rn. 62). Diese Bestimmung verbietet jedoch allgemein die Einführung
neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Nie-
derlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türki-
schen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen
als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
des Zusatzprotokolls, hier also am 1. Januar 1973, in dem betreffenden Mit-
gliedstaat galten (EuGH, Urteile vom 19. Februar 2009 - C-228/06
[ECLI:EU:C:2009:101], Soysal - LS 2 und Rn. 47 und vom 10. Juli
2014 - C-138/13 [ECLI:EU:C:2014:2066], Dogan - Rn. 26). Zudem kann die
Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 ZP nur im Zusammenhang mit der Ausübung
einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer
Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen
Aufenthalt betreffen (EuGH, Urteile vom 24. September 2013 - C-221/11
[ECLI:EU:C:2013:583], Demirkan - Rn. 55 und vom 10. Juli 2014 - C-138/13
[ECLI:EU:C:2014:2066], Dogan - Rn. 28). Die dynamisch zu verstehende Still-
halteklausel verfestigt denjenigen Rechtszustand, der zum Zeitpunkt des In-
krafttretens des Abkommens am 1. Januar 1973 bestand bzw. später eingeführ-
te Vergünstigungen. Die Mitgliedstaaten dürfen sich nicht von dem mit Art. 41
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Abs. 1 ZP verfolgten Ziel entfernen, günstigere Bedingungen für die schrittweise
Verwirklichung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit zu schaffen,
indem sie Bestimmungen ändern, die sie in ihrem Gebiet nach Inkrafttreten des
Zusatzprotokolls zugunsten türkischer Staatsangehöriger erlassen haben
(EuGH, Urteile vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09
[ECLI:EU:C:2010:756], Toprak und Oguz - Rn. 49 ff.). Da von Art. 41 Abs. 1 ZP
auch Regelungen über die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger
in einem Mitgliedstaat (EuGH, Urteil vom 20. September 2007 - C-16/05
[ECLI:EU:C:2007:530], Tum und Dari - Rn. 57, 59, 63) umfasst sind, fallen auch
Regelungen bezüglich einer Visumpflicht in den Anwendungsbereich dieser
Stillhalteklausel.
Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Verschlechterungsverbot des
Art. 41 Abs. 1 ZP ist darauf abzustellen, ob die von den zuständigen Behörden
angewandte innerstaatliche Regelung die rechtliche Situation des türkischen
Staatsangehörigen im Verhältnis zu den Vorschriften, die beim Inkrafttreten des
Zusatzprotokolls galten oder zu späteren Vergünstigungen, erschwert, für ihn
also ungünstiger ist (EuGH, Urteil vom 21. Oktober 2003 - C-317/01, C-369/01
[ECLI:EU:C:2003:572] Abatay u.a. - Rn. 116). Hierbei sind die Rechtsprechung
zu den damaligen Vorschriften und eine mit dieser in Einklang stehende Ver-
waltungspraxis zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C
6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 19).
3.2 Gemessen an diesen Maßstäben stellt die nach aktuellem Recht für den
Kläger geltende Visumpflicht keine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 41
Abs. 1 ZP dar. Weder bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 1. Januar 1973
noch zu einem späteren Zeitpunkt waren türkische Staatsangehörige, die, wie
der Kläger, als selbständige Unternehmer Beratungsleistungen für Auftraggeber
im Bundesgebiet für mindestens zwei Monate im Jahr erbringen wollten, be-
rechtigt, ohne vorherige Einholung eines Visums in das Bundesgebiet einzurei-
sen.
3.2.1 Gemäß § 2 Abs. 1 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I
S. 353) - AuslG 1965 -, vor dem maßgeblichen Stichtag (1. Januar 1973) zuletzt
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geändert durch Gesetz vom 7. August 1972 (BGBl. I S. 1393), bedurften Aus-
länder, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einreisen und sich darin
aufhalten wollten, einer Aufenthaltserlaubnis. § 2 Abs. 3 AuslG 1965 übertrug
dem Verordnungsgeber die Befugnis, bestimmte Ausländergruppen durch
Rechtsverordnung von dem Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis zu befreien,
soweit durch diesen Verzicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht be-
einträchtigt wurde.
Dieser Ermächtigung war der Verordnungsgeber mit der Verordnung zur Durch-
führung des Ausländergesetzes vom 10. September 1965 (BGBl. I S. 1341)
- DVAuslG 1965 - vor dem Stichtag zuletzt geändert durch Verordnung vom
13. September 1972 (BGBl. I S. 1743) - nachgekommen. Gemäß § 2 Abs. 3
AuslG 1965 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 waren Staatsangehörige der
in der Anlage zu dieser Verordnung aufgeführten Staaten, zu denen auch die
Türkei zählte, als Inhaber von Nationalpässen, von dem Erfordernis der Aufent-
haltserlaubnis befreit, wenn sie sich nicht länger als drei Monate im Geltungsbe-
reich des Ausländergesetzes aufhalten und keine Erwerbstätigkeit ausüben
wollten. Ferner war gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965 der Aufenthalt er-
laubnisfrei, wenn türkische Staatsangehörige als Inhaber von Nationalpässen
sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ansässi-
gen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorübergehenden Dienstleistung als
Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhalten wollten,
sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht überstieg und sofern nicht
ein Reisegewerbe gemäß § 55 GewO ausgeübt werden sollte. § 5 Abs. 1
DVAuslG 1965 erlegte jedem Ausländer, der eine Erwerbstätigkeit im Gel-
tungsbereich des Ausländergesetzes ausüben wollte, die Verpflichtung auf, die
Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form eines Sichtvermerks einzuho-
len. Eine generelle Visumpflicht für türkische Staatsangehörige wurde dagegen
erst 1980 (Elfte Verordnung zur Änderung der DVAuslG vom 1. Juli 1980,
BGBl. I S. 782) eingeführt.
Als Erwerbstätigkeit im Sinne des hier maßgeblichen § 1 Abs. 2 Nr. 1 und § 5
Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 wurde in der Rechtsprechung jede selbständige
oder unselbständige Tätigkeit angesehen, die auf die Erzielung von Gewinn
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gerichtet oder für die ein Entgelt vereinbart oder den Umständen nach zu erwar-
ten war (BVerwG, Beschluss vom 6. Mai 1983 - 1 B 58.83 - Buchholz 402.24
§ 5 AuslG Nr. 2; Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, 2. Aufl., A 2 § 1
DVAuslG Nr. 7; siehe auch Nr. 14 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausfüh-
rung des Ausländergesetzes - AuslGVwv - vom 7. Juli 1967
S. 231> in der Fassung vom 10. Mai 1972 zu § 2 AuslG
1965). Das Berufungsgericht geht im Ausgangspunkt zutreffend davon aus,
dass die Dienstleistung, zu deren Zweck der Kläger in das Bundesgebiet einrei-
sen will, die Begriffsbestimmung einer Erwerbstätigkeit in diesem Sinne erfüllt.
Denn die vom Kläger beabsichtigte entgeltliche Erbringung von Beratungs-
dienstleistungen im Softwarebereich einschließlich der Erarbeitung technischer
Spezifikationen ist eine selbständige Tätigkeit, die auf die Erzielung von Gewinn
gerichtet ist. Sie geht über die bloße Durchführung geschäftlicher Besprechun-
gen und die Unterbreitung von Angeboten als Anbahnung von Geschäften hin-
aus, denn sie umfasst bereits die Erbringung der vereinbarten Dienstleistung.
Sie unterscheidet sich auch deutlich von wirtschaftlich bedeutungslosen Einzel-
vorgängen, wie etwa der gelegentlichen Entgegennahme von Dienstleistungen
durch Touristen, die seinerzeit von der Visumpflicht ausgenommen war (vgl.
Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, 2. Aufl., A 2 § 1 DVAuslG Nr. 7).
3.2.2 Indes verstößt die Annahme des Berufungsgerichts, dass die von dem
Kläger beabsichtigte Beratungstätigkeit nach Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG
1965 ausnahmsweise nicht als Erwerbstätigkeit anzusehen sei und der Kläger
daher gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 von der Aufenthaltserlaubnis-
pflicht befreit gewesen sei, gegen Bundesrecht. Sie steht nicht im Einklang mit
den Bestimmungen des § 2 Abs. 3 AuslG 1965 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 und 2,
§ 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965.
Nach Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG 1965 war es nicht als Ausübung einer Er-
werbstätigkeit im Bundesgebiet anzusehen, wenn Ausländer unter Beibehaltung
ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland für ausländische Unternehmen Be-
sprechungen oder Verhandlungen im Bundesgebiet führten oder wenn sie Wa-
ren oder Dienstleistungen im Bundesgebiet nur Personen anboten, die im
Rahmen ihres Geschäftsbetriebes aufgesucht wurden. Das Berufungsgericht
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legt diese Verwaltungsvorschrift dahingehend aus, dass vom Begriff des "An-
bietens" von Dienstleistungen auch das Erbringen der Dienstleistungen und
demnach nicht nur das Anbahnen von Geschäften, sondern die gesamte aktive
Dienstleistungserbringung umfasst gewesen sei.
Dabei verkennt das Berufungsgericht, dass eine norminterpretierende Verwal-
tungsvorschrift wie Nr. 15 AuslGVwv zu § 2 AuslG 1965 mangels Rechtsnorm-
qualität die Gerichte bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der
"Erwerbstätigkeit" in § 1 Abs. 2 Nr. 1 und § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 nicht
bindet (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2011 - 1 B 1.11 - Buchholz
402.242 § 3 AufenthG Nr. 1 Rn. 6). Diese nur inneradministrativ wirkende Ver-
waltungsvorschrift kann Rechtssätzen des verbindlichen Gesetzes- und Ver-
ordnungsrechts keinen Inhalt zuschreiben, der sich mit der objektiven Rechtsla-
ge als unvereinbar erweist (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2012 - 5 C 14.11
- BVerwGE 143, 314 Rn. 30). Mangels Rechtsnormqualität ist eine norminter-
pretierende Verwaltungsvorschrift daher prinzipiell nicht der Auslegung zugäng-
lich, so dass dahinstehen kann, ob - wofür ihr Wortlaut spricht - die genannte
Verwaltungsvorschrift die Erlaubnisfreiheit auf die Durchführung von Bespre-
chungen, Verhandlungen und das Angebot von Waren und Dienstleistungen
beschränkt hat oder ob ihr der vom Berufungsgericht zugesprochene weiterge-
hende Inhalt zukam. Eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift, die in
einer bestimmten Auslegung - wie hier - eindeutig nicht in Einklang mit höher-
rangigem Recht steht, ist auch nicht geeignet, insoweit eine tatsächliche Ver-
waltungspraxis zu indizieren, die für die Vergleichsbetrachtung im Rahmen ei-
ner Standstillklausel beachtlich wäre; abzustellen ist allein auf einen auch tat-
sächlich gesetzeskonformen Verwaltungsvollzug.
3.2.3 Die Erlaubnispflicht der Einreise und des Aufenthalts des Klägers zum
Zweck der von ihm beabsichtigten Tätigkeit entfiel auch nicht gemäß § 1 Abs. 2
Nr. 2 DVAuslG 1965. Nach dieser Vorschrift waren Ausländer von der Erlaub-
nispflicht befreit, wenn sie sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des
Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorüber-
gehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländer-
gesetzes aufhielten, sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht über-
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stieg. Diese Befreiung war durch die Erwägung begründet, dass ein sehr kurz-
fristiger Aufenthalt von Arbeitnehmern im Bundesgebiet keine fühlbare Einwir-
kung auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage zur Folge hatte
(Kanein, AuslG, 1966, § 2 D.3 S. 53). Von § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965 wur-
den demnach nur Arbeitnehmer erfasst, nicht aber selbständige Unternehmer
wie der Kläger. Der Verordnungsgeber hatte sich bei dieser Bestimmung im
Wesentlichen an dem Personenkreis orientiert, der gemäß § 9 Nr. 3 und 4 der
Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nichtdeutsche Arbeitnehmer (Arbeits-
erlaubnisverordnung) vom 2. März 1971 (BGBl. I S. 152) auch von dem Erfor-
dernis der Arbeitserlaubnis befreit war (Kloesel/Christ, Deutsches Ausländer-
recht, 2. Aufl., A 2 § 1 DVAuslG Nr. 9). Da selbständige Unternehmer somit
nicht vom persönlichen Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG er-
fasst waren, hat der Kläger auch nach dieser Bestimmung keinen Anspruch auf
visumfreie Einreise in das Bundesgebiet.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Rudolph
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5 000 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1,
§ 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Dr. Rudolph
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